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Banner voran!

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Nach den ersten Jahrzehnten philanthropischer Freigebigkeit, dem sogenannten »Gratis-Internet«, schlichen sich immer mehr kostenpflichtige Programme ein. Der User akzeptierte es klaglos, weil die Gier nach dem Vergnügen größer war als die Angst um die eigene Freiheit. Als Vorgeschmack auf den drohenden Kontrollverlust nahm die Online-Werbung Jahr für Jahr zu. Heute ärgert das alle, doch kaum einem ist bewusst, dass es sich de facto um Freiheitsberaubung handelt. Bekanntlich besteht der Vorteil des Internet gerade darin, frei wählen und nach Belieben durch das unendliche Info-Universum surfen zu können. Je mehr Zwangsinhalte einem aufgedrängt werden, desto weniger Freiraum wird einem gelassen. Konnte man anfangs alle Sites wie durch offene Türen betreten, stößt man nun auf mehrere Wächter, von denen einer nach dem anderen Aufmerksamkeitstribute fordert: Datenschutz- und Einverständniserklärungen, Subskriptions- und Kaufoptionen, immer häufiger auch Push-Nachrichten, die einen erinnern, dass man sich in andauernde Abhängigkeit begeben hat.

In den 1990er Jahren begann die Eroberung der Cyberwelt durch die Werbeagenturen mit simplen Anzeigen, die sich nicht von denen in den Printmedien unterschieden. Dann entwickelte man neue Methoden der Fremdbeeinflussung. Dazu gehören die unerwünschten Besuche der Pop-ups, die einem aus den Websites »ins Auge springen«. Hier zählt das Überraschungsmoment, das sich nicht durch die Botschaft, sondern durch die Plötzlichkeit einprägt. Noch bevor der User es bewusst ignorieren oder wegklicken kann, ist der Überrumpelungseffekt eingetreten. Man könnte dies als permanenten Blitzkrieg bezeichnen. Aber um der grenzenlosen Freiheit willen erträgt man ihn geduldig.

Dieses Eindringen der Kaufprovokation in die Privatsphäre wird vom User als notwendiges Übel eingepreist. Schließlich bleibt ihm die Freiheit, sie zu ignorieren. Diesen Eindruck zumindest weckt die Werbung. In Wahrheit umgeht sie diese Freiheit, indem sie sich auf andere Weise in den Nutzer einschmuggelt. Das Resultat ist dieselbe Art von Prägung, die der Verhaltensforscher Konrad Lorenz bei den Graugänsen feststellte. An die Gänsemutter, die ihre Aufmerksamkeit zuerst weckt, bleiben die Graugansküken ewig gebunden. Dabei muss das Vor-Bild gar keine Gans sein. Auch Lorenz selbst wurde so zur Gänsemutter. Wie dem Forscher die Gänschen folgen Millionen ihren Führern, Filmstars, Popidolen oder Kultmarken, weil sie ihnen nach allen Regeln der Online-Kunst eingeprägt wurden.

Bei diesem Prägevorgang geht es nur scheinbar um Kommunikation. Durch einen kalkulierten Prozess wird der Mensch unmerklich in die passive Rolle gedrängt. Er muss schlucken, was ihm eingeschenkt wird. Er muss gucken, welches Produkt ihm unter die Nase gehalten wird. Auf jeder Website findet man die Werbung vor wie einen Überraschungsgast im Wohnzimmer. Meist handelt es sich um eine Kaufempfehlung, für die man den User empfänglich glaubt. Dank algorithmischer Ausbeutung gesammelter Persönlichkeitsdaten kennt man die Interessen, zumal die unbewussten, oft besser als der Kunde selbst. Wer auf die Verlockung hereinfällt und klickt, gerät in eine Abfolge immer neuer Links. An deren Ziel steht früher oder später der Kaufabschluss.

Jeder wählt sich die Website aus, die er will. Das ist die Freiheit im Netz. Und er kann dies, so oft er möchte, Tag und Nacht. Nur, was man in Wahrheit bekommt, zeigt sich erst, wenn die Seite auf dem Schirm erscheint. Sie bietet nämlich eine Wundertüte an, die teils das bringt, was man erwartete, teils, was einem die Werbung oktroyiert. Die Website kann sich aber auch schlicht als automatischer Durchgangspfad zu anderen Inhalten entpuppen. Der Surfer lenkt per Touchscreen, gewiss. Aber dass er umgelenkt wird, entzieht sich seiner Kontrolle.

Der Computer ist eine Art selbstfahrender Einkaufswagen. Er weiß genau, wo man selbst hinwill, führt einen aber so, wie er das für richtig hält. Seit der Jahrtausendwende sind sämtliche Websites mit Banners und Pop-ups, diesen Wegweisern zum Pseudoglück, gesättigt. Auch die Social Media kamen auf den Geschmack. Facebook begann seine Fangemeinde ab 2006 mit Anzeigen zu bombardieren. Da diese unter dem Dach von Meinungsfreiheit und Community Building liefen, erwiesen sie sich als besonders wirksam. Die dreiste Anzeigenflut konnte Facebooks guten Ruf nicht ruinieren, ganz im Gegenteil: Die Werbung profitierte von ihm. Wer Facebook-Follower war, erhielt auch das Recht, die Facebook-Werbung zu konsumieren. Diese wurde statt nach dem üblichen Gießkannenprinzip individuell verbreitet. Damit ließen sich Streuverluste vermeiden. »Facebook hat sich«, so der Branchendienst Hubspot 2019, »als Pionier der gezielten Werbeanzeigen erwiesen.« Gründer Zuckerberg will darin sogar eine gemeinnützige Errungenschaft erkennen. »Unsere Priorität«, so betonte er, »liegt nicht auf der Menge der Anzeigen, sondern darauf, wie wir die richtige Zielgruppe mit den richtigen Inhalten ansprechen.« Es ist das Credo jedes Werbefachmanns.

Um die Zielgruppe zu erreichen, muss man auch nicht länger zwischen redaktionellen und kommerziellen Beiträgen unterscheiden. Dann bietet sich an, was seit den 2010er Jahren von vielen Internetmedien praktiziert wird: Ein Redakteur schreibt den gewünschten Text im Auftrag von Werbeagenturen. Bewusst lässt man im Dunkeln, ob er der eigenen Überzeugung folgt oder den Wünschen der Industrie. Auch die »privaten« Empfehlungen in Form der begehrten Sterne, Herzchen oder gehobenen Daumen lassen sich kaufen. Der Werbung ist diese Schützenhilfe willkommen, da sie am liebsten vertuscht, dass sie Werbung ist.

Das Internet bietet sich als ebenso unermüdliche wie selbstlose Lebenshilfe an. Es lässt keinen Wunsch offen und keine Frage unbeantwortet. Dabei bildet die Auskunft nur den Vorwand für die damit verbundene Datenerhebung und -analyse, auf denen die Werbung basiert. Deren Schaltung wird nicht, wie beim Fernsehen, vorab gebucht, sondern, aufgrund des bisherigen Surfverhaltens des Anklickenden, in einer Echtzeitauktion verkauft. Der gesamte Biet- und Kaufvorgang läuft über sogenannte Ad Exchanges (Anzeigenbörsen). Bei großen Plattformen wie Google werden solche Transaktionen täglich milliardenfach getätigt. Pro Einblendung läuft der Bestellvorgang in der unvorstellbaren Geschwindigkeit von 100 Millisekunden ab. Der Surfende wird kaum ahnen, dass im Sekundenbruchteil zwischen seiner Eingabe und der Antwort eine gewaltige Maschinerie gearbeitet hat, und zwar speziell für ihn. Nicht als den tatsächlichen Menschen, sondern den potenziellen Kunden.

Wer in den Cyberspace eintritt, wird überwältigt vom unendlichen Angebot kostenfreier Informationen. Dass er zugleich von Verkaufsgenies überlistet wird, fällt dabei nicht auf. Keine Information kommt ohne diese dreiste Invasion aus. Jede Website dient sich dem Besucher als Auskunftsmittel an. Zugleich zieht sie über den Benutzer die eigenen Auskünfte ein. Dies wiederum erfolgt mittels Tracking (Spurenlesen). Der Begriff wird im Militärischen für die Feindaufklärung verwendet. Jedem Nutzer ist ein Verfolger auf der Spur. Er beobachtet ihn aus dem All, schaut ihm beim Texten über die Schulter und notiert alles mit, was sein Opfer schreibt und seinem Smartphone anvertraut. Und selbst was er ihm nicht explizit anvertraut, lässt sich implizit mittels Algorithmen erschließen. Wer verfolgt wird, fühlt immer auch den Doppelsinn des Wortes: Jemand folgt einem, und jemand ist hinter einem her. Was man online mit dem harmlosen Begriff Tracking bezeichnet, heißt im wirklichen Leben Stalking. Dieser Alptraum im wirklichen Leben gehört im Cyberspace zur Routine. Zum Glück merkt man es nicht.

Über jeden Nutzer oder vielmehr seinen digitalen Doppelgänger wird automatisch ein Protokoll erstellt. Hauptindizien sind dabei seine Mausklicks. Er selbst ist die Maus, mit der Verhaltensforschung betrieben wird. Der Lauf des Cursors (Mauszeigers) oder des Eingabefingers über den Bildschirm wird ebenso verfolgt wie die hin und her bewegten Augen des Versuchsobjekts. Denn wo eine Webcam lauert, wird auch Eye Tracking betrieben. Aus den Bewegungen der Augäpfel lassen sich die unterbewussten Prioritäten des Nutzers ablesen. Dasselbe gilt auch für die anderen Bewegungen und Lebensäußerungen. Sie alle liegen unter der digitalen Lupe.

Das beim Tracking gesammelte Wissen wird umgehend angewandt. Was der User zufällig im Netz entdeckt, ist für ihn dort platziert worden, damit er es zufällig entdeckt. Auch jene, die es wissen, vergessen im Eifer ihres täglichen Goldschürfens, dass es sich meist um Katzengold handelt. Gerade weil man immer wieder fündig zu werden glaubt, geht der Eifer in Sucht über. Der Cyberspace ist ein Nervengift, das abhängig macht. Entsprechende Entziehungskuren sind noch nicht erfunden. Sie hätten auch wenig Sinn. Der Rückfall würde schon am ersten Tag eintreten, wenn nämlich der Online-Kranke sein Smartphone einschaltet, um den Begriff »Smartphone-Entziehungskur« zu googeln.

Werbung wird bekanntlich in Form von Kampagnen durchgeführt. Beide Begriffe, Strategie wie Kampagne, stammen aus der Militärsprache. Der Stratege ist der Planer eines kriegerischen Feldzugs (Campaign). Früher versammelten sich die Truppen unter einer bunten Heerfahne, Banner genannt. Geht es in den Krieg, marschiert das Tuch vorweg. Der Schlachtruf der englischen Ritterarmeen lautete: Banners advance! (Banner voran!) Ist der Sieg errungen, wird das Banner mit dem Wappen des Siegers in den Boden gepflanzt.

Das Internet ist heute der Versammlungsort der Banner der Anzeigenfirmen. Kaum eine Website findet sich, auf der keine solche Heerfahne mit dem Firmenwappen, genannt Logo, aufgepflanzt wird. Oft wartet die Seite sogar, bis sich ihr Werbebanner entfaltet hat. Jede Anzeige führt Krieg um die Aufmerksamkeit der User. Hat sie diese gefangen genommen, bleibt der Besiegte zumindest mit seinen Daten tributpflichtig.

Eine wichtige Rolle in diesem Krieg spielt die Strategie, mit der die Werbebotschaft an den richtigen Mann gebracht wird. Man nennt sie Targeting. Ebenfalls ein Begriff aus der Militärsprache, der bedeutet, jemanden zum Ziel (Target), etwa eines Geschosses, auszuwählen. Im Internet ist dieses Geschoss die Anzeige. Je enger die Werbung den Kundenkreis zu definieren vermag, umso zielgenauer wirkt das Targeting. Hat man im Internet ein Produkt gekauft oder auch nur gegoogelt, werden für dies und ähnliche Waren automatisch die Banner gehisst.

Wer sich einmal über eine spezielle elektrische Zahnbürste informiert hat, wird auf unabsehbare Zeit von einer Kaufempfehlung für diese spezielle elektrische Zahnbürste heimgesucht. Gleichgültig, ob man nun wegen eines heftigen Elektrische-Zahnbürsten-Überdrusses zur analogen Zahnbürste zurückgekehrt ist oder die beworbene Zahnbürste tatsächlich erworben hat, wird man weiter vom Geist der elektrischen Zahnbürste verfolgt. Der amerikanische Medienkritiker Marshall McLuhan prägte dafür den Begriff, die Botschaft werde »einmassiert«. Im totalitären Staat leistet das die Gehirnwäsche.

Die Datenstaubsauger, denen alles gratis in den Rüssel geworfen wird, nennen sich Suchmaschinen. Während der User sich selbstvergessen durch das Website-Universum klickt, schreibt eine Software mit. Sie arbeitet die Ware für die Werbebranche auf. Wer googelt, wird feilgeboten. In Echtzeit. Adressenhändler hat es immer gegeben. Stillschweigend hat man akzeptiert, dass Name, Wohnort, Straße und, wer weiß, was noch, gesammelt und gespeichert und verkauft wird. Jetzt gibt es die Identitätshändler, für die eine Adresse, verglichen mit den zusammengerafften Vorlieben, Charakterzügen, Freundschaften und Ortsbewegungen, nur eine Marginalie ist. Auch deutsche Firmen sind am Geschäft mit dem Menschenhandel beteiligt.

Die Gütersloher Firma »AZ Direct« etwa hat, laut eigenen Angaben, rund 70 Millionen Mitmenschen im Angebot. Über jeden von ihnen stehen dem Käufer 250 verschiedene Lebensdetails zur Verfügung. Die Firma bezeichnet diese Methode als Multi Channel Marketing. Mit anderen Worten, man schießt aus allen Rohren. Zugleich generiert man laut Eigenwerbung laufend Neukunden, die man per Direct Mail, E-Mail Marketing, Display Advertising, Videoclips und bezahlten Social Media Postings zum Kauf animiert. Und jeder Werbetreibende kann sicher sein, dass er auf diesem Sklavenmarkt der Daten das Richtige findet.

Unerwünschte E-Mail-Botschaften verstopfen den Briefkasten und stehlen einem die Zeit. In seiner Hässlichkeit verrät der Name alles: Spam ist die Laus im Pelz, gegen die es nur ein Pulver gibt, den Spamfilter. Aber auch er kann nicht jeden Eindringling abwehren. Die Herkunft der dreisten Besucher lässt sich ohnehin nicht feststellen, da Spam meist von einem zwischengeschalteten Proxy Server anonymisiert wird, der die wahre Adresse vertuscht. Der Clou dieser aus dem Nichts auftauchenden Werberundschreiben besteht darin, dass sie mittels Adressdateien jedes Opfer ihrer Botschaft persönlich ansprechen. Viele fühlen sich dann angesprochen, dies auch persönlich zu lesen. Dabei lesen gleichzeitig zahllose Andere dasselbe. Oder sie werfen es weg. Nur dass dies Wegwerfen nicht so einfach ist. Meist bleibt ein Cookie im Computer zurück, das die Verbindung zur anonymen Quelle hält. Wer darüber hinaus den getürkten Anhang öffnet, hat damit meist dem Massenversender die Kontrolle über seinen Computer abgetreten. Zum Glück weiß man auch das nicht.

Generell trickst das Datenmanagement der Suchmaschinen jeden User aus. Sie bieten geborgten Wissensgewinn gegen profitablen Wissensertrag. Für sich. Wer mit der Suchmaschine etwas sucht, wird zuvor schon von dieser gesucht. Ihre Antworten antizipieren seine Frage. Und das heimliche Interesse, das sich dahinter verbirgt. Der Nutzer gehört der Maschine, die er zu benutzen glaubt. Besteht die Aufgabe der Werbung darin, den Kunden von seinem Geld zu trennen, so bewirkt die Online-Beeinflussung, den Menschen von sich selbst zu trennen. Der posthumane Mensch ist der von sich selbst getrennte Mensch. Er ist noch er selbst, aber was dieses Selbst bedeutet, erfährt er nur online. »Das Paradoxe ist«, schreibt Jan Heidtmann, »dass sich der Mensch selbst zum Untertanen degradiert.«25

Damit Werbung möglichst nachhaltig auf den Nutzer einwirkt, muss sie, nicht anders als Spam und alle anderen Zumutungen, häufig wiederholt werden. Hat beim ersten Mal der Intellekt Einwände dagegen erhoben, wird der Mensch durch Gewöhnung immer vertrauter damit. Bis das Produkt zum Bestandteil des eigenen Lebens geworden ist. Kauf und Konsum sind dann unvermeidliche Konsequenzen. »In jeder Hightech-Plattform«, so der ehemalige Google-Manager Tristan Harris, »arbeitet eine ganze Armee von Ingenieuren daran, dass der Nutzer online mehr Zeit verbringt und mehr Geld ausgibt.«26

Facebook versteht sich besonders gut auf das Micro Targeting, den gezielten Angriff auf klar definierte »kleine« Bevölkerungsgruppen. 2017 wurden Dokumente des Cybermultis geleakt, wonach Manager ihren Werbekunden erklärten, wie sie zu ihren aufschlussreichen Informationen kommen. Durch Überwachung von Postings, Interaktionen und Fotos etwa können sie den seelischen Zustand der jugendlichen Nutzer analysieren. Ziemlich exakt lässt sich feststellen, »ob die Teens sich unsicher, nutzlos, gestresst oder als Totalversager fühlen«.

Computer mit künstlichen neuronalen Netzen können auch Affekte wie Angst, Scham oder Begeisterung erkennen, in Echtzeit und mit hoher Trefferquote. Augenblicklich kann die Werbung mit Anzeigen zuschlagen, die »genau auf diese verletzlichen Momente ausgerichtet sind, in denen junge Menschen eine Stärkung ihres Selbstvertrauens brauchen.«27 Ob man diese Rolle den Pickelcremes, Haargels oder dem keimtötenden Mundwasser »Listerin« zutraut, haben die Facebook-Akquisiteure nicht verraten.

Jede Sekunde eines jeden Tages bietet die Cyberwelt ein neues Gesicht und ein neues Produkt, das der benutzte Nutzer auf keinen Fall verpassen darf. Die Milliarden vor den Bildschirmen sind sich einig, dass diese schöne neue Welt für sie vollkommen unverzichtbar ist. Und für die Annehmlichkeiten, die einem jederzeit zu Gebote stehen, nimmt man die Sucht gern in Kauf. Das Smartphone ist das Sesam-öffne-dich, das in Ali Babas Schatzhöhle führt. Nicht zufällig nennt sich Chinas größter Online-Händler nach dem Räuberhauptmann Ali Baba.

Die Preisgestaltung gehört zu den bestgehüteten Geheimnissen der Großversender. Denn was im gewöhnlichen Handel meist verbindlich ist, hat man hier abgeschafft. Big Data-Speicher können für jedes Produkt den Preis entsprechend der Marktlage und der Nachfrage individuell errechnen. Das geschieht mehrmals am Tag. Und für jeden Kunden individuell. Wer per Suchanfrage seinen Kaufwunsch offenlegt, hat im Preispoker schon verloren. Denn Big Data wissen, was der Kunde ausgeben kann, und das soll er auch. Wer also einen Preis recherchiert, hat ihn oft schon unfreiwillig erhöht. Dieses Individual Pricing gilt vor allem in den USA als wichtiger Erfolgsfaktor des E-Commerce (Online-Handels). Mittels raffiniertem Algorithmus lässt sich auch das letzte Tröpfchen aus der Zahlungsfähigkeit des Kunden herauspressen. Wodurch die Onlinehändler dank modernster Computertechnik auf das Geschäftsgebaren des Basars herabgesunken sind.

So beherrscht Big Business nicht nur das Medium, sondern auch das Publikum, das sich der permanenten Einschränkung seiner Freiheit unterwerfen muss. Und während dem User immer neue Produkte aufs Auge gedrückt werden, intensiviert man die Abschöpfung des Data Exhaust (Datenüberschuss). Denn das, was der Wissbegierige bewusst eintippt oder hochlädt, bildet gar nicht das Hauptziel der Cybermultis. Neben den freiwillig gelieferten Informationen greifen die Maschinen auch jene Daten ab, von denen sich deren Lieferanten nichts träumen lassen.

Exhaust ist eigentlich das, was bei Autos aus dem Auspuff kommt: Abgase. Dieser Begriff passt auch auf die Datenabsaugung. Vergleicht man die Internetnutzung mit einer Fahrt im Auto, so hinterlässt der Motor eine Abgasfahne. Für den Fahrer nutzlos, ist sie für die Cybermultis Gold wert. Denn aus den überschüssigen Spuren, die der Onlinemensch im Internet hinterlässt, lassen sich Profile und Statistiken erstellen. Aus ihnen kann das Silicon Valley ziemlich gut ablesen, wer dieser Mensch ist, was er will und was er in Zukunft tun und kaufen wird. »Zeige mir deinen Exhaust, und ich sage dir, wer du bist.«

Beim Verbrennungsmotor kann man die Abgase nutzen, indem man sie durch einen Turbolader schickt. Auf gleiche Weise nutzen die Cyberkonzerne die Daten-Abgase für den Turbomotor ihrer Verkäufe. Google weiß auch, wie man sich jene Daten besorgen kann, die einem nicht freiwillig preisgegeben werden. Dazu segelt man gern auch, wie Shoshana Zuboff detailliert nachwies, unter falscher Flagge.28 Als seit 2007 die Street View-Autos durch die Städte der Welt kreuzten, wandten sie die Idee von Facebook, Gesichter zu zeigen, auf die Häuserfronten an. So entstand ein globales Streetbook, das wenig Rücksicht darauf nahm, dass hinter den Fassaden auch Menschen lebten. Man wollte das Gesicht aller Straßenzüge und zeigte es im Panoramablick.

Das war aber nur die öffentliche Seite des gigantischen Unternehmens. Während man der neugierigen Masse, die nicht in der jeweiligen Straße wohnte, einen Wunsch erfüllte, an den niemand zuvor gedacht hatte, erwies Google sich auch selbst einen Dienst. Dessen Möglichkeit war zuvor niemandem aufgefallen. Unbemerkt luchste es den Hausbewohnern, die beim Fassadendefilee gar keine Rolle spielten, heimlich ihre Daten ab. Während die Aufmerksamkeit der Stadtbewohner durch die groteske 360-Grad-Kamera auf dem Autodach abgelenkt wurde, erfasste man sämtliche WLAN, an denen die Fotoautos verbeigondelten, und schöpfte deren Daten ab.

Jeder weiß, dass der Sinn der drahtlosen WLAN-Netze darin besteht, dass persönliche Daten nicht allgemein zugänglich gemacht werden. Generell bleiben sie auf die Reichweite des Routers begrenzt. Deshalb kamen die Google-Fahrzeuge auftragsgemäß ganz nahe an diesen geschlossenen Netzen vorbei, um die erwünschte Privatheit aushebeln zu können. En passant nahmen sie alles auf, was für Google interessant war. Und für Google ist alles interessant. Das trifft auf das gesamte Internet zu. »Wir versuchen«, so ein für Street View verantwortlicher Google-Manager 2012, die Kluft zwischen der Online-Welt »und dem, was wir in der realen Welt sehen, zunehmend zu überbrücken«.

Durch diese Spionagetätigkeit wurde es möglich, der Industrie Einblicke in die wahre Gefühls- und Interessenlage der Menschen anzubieten. So vermied die Werbung den teuren Gießkanneneffekt und deckte den Kunden nur noch mit Produktwerbung ein, die ihn auch wirklich interessieren musste. Der Datenüberschuss führte zum Gewinnüberschuss. Bald waren es Milliarden, die dank Anzeigengeschäft den Big Five ins Haus flatterten. Der Shareholder Value (Anlagewert) für die Aktienbesitzer stieg ins Astronomische. So verschaffte man sich unter der Maske des urbanen Fotoprojekts unzählige Telefonnummern, Kreditkarten-Daten, Passwörter, SMS-Botschaften, Tweets und E-Mails, außerdem Video- und Audio-Dateien, private Chats, Streaming-Filme, und nur Google weiß, was sonst noch. Die Unkenntlichmachung der eigenen Fassade, die Street View immerhin anbot, bezog sich nicht auf die interessanten Dinge, die aus dem Inneren herausgeschnüffelt wurden. Die amerikanische Sprache mit ihrer Freude an Neuprägungen hat für diese verdeckte Ermittlung einen prägnanten Namen erfunden: das War Driving. Zusammengesetzt aus den Worten für Krieg und Fahren, bedeutet es, dass sich die Datensammler heimlich auf dem Kriegspfad befinden.

Die Sparte »Google Maps«, die sich den gesamten Erdball optisch angeeignet hat, möchte ihren Usern aber auch die Wege aufzeigen, die sie gehen sollen, natürlich nur zu ihrem Besten. Denn Google kann aus seinem Datenschatz herauslesen, wohin man wirklich will, ob zum Baumarkt, Friseur, Arzt oder einfach weit weg. Der User folgt der Route, vorgetragen von einer sanften Frauenstimme, der man unbedingt vertrauen kann. Am Zielort eingetroffen, begrüßen einen auf dem Smartphone die einschlägigen Geschäfte über ihre einladenden Apps. Dank ihnen erfährt der Kunde, was er wissen muss. Wünscht er weitere Daten, etwa den üblichen Preisvergleich mit Amazon, liefert Google sie ihm dienstfertig und kostenpflichtig nach. So verkauft Zuckerberg Tag für Tag seine gläubige Gemeinde an den Meistbietenden.

Das Erscheinungsbild auch der anderen Herren des Silicon Valley lässt davon nichts ahnen. Sie geben sich harmlos, als Menschen guten Willens. Nicht nur der Facebook-Boss Zuckerberg in seinem Sweatshirt mimt ewige Jugend. Die mächtigsten Meinungsbildner der Welt, die das Innenleben der Nationen besser kennen als diese sich selbst, tun so, als herrschten sie nicht und als würden sie keinen Multis vorstehen. Und wenn sie vor der Weltöffentlichkeit ihre neuesten Produkte, die Tablets und Smartphones, internetfähigen Gadgets und bahnbrechenden Apps persönlich präsentieren, dann mit dem lässigen Stolz eines Pennälers, der sein neuestes Modellflugzeug vorführt. Und die Welt schaut gebannt zu.

Dabei handelt es sich bei diesen entspannten Weltbeglückern, laut Harvard-Ökonomin Shoshana Zuboff, um die Erfinder des globalen »Überwachungskapitalismus«. Während sie etwas verkaufen, sammeln sie die Kundenadressen, die sie wiederum selbst verkaufen. Börsenerfolg bemisst sich nach der simplen Akkumulation von Geld. Und keiner akkumuliert erfolgreicher. Denn den Käufer verkaufen, das ist das perfekte Geschäftsmodell.

Verloren im Cyberspace

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