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Magische Aktien

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Die Galionsfiguren dieser vollautomatisch gesteuerten Cyberwelt sind nicht, wie in Amerika üblich, angestellte CEOs in abgedunkelten Stretch-Limousinen. Es sind die Gründer selbst. Immer locker, lässig, jungenhaft: Technikgenies, die kein Wässerchen trüben können. Nur, dass sie die Aktienmehrheiten halten an den teuersten Corporations der Welt. In der Forbes-Liste der reichsten Milliardäre dieser Welt finden sich 2019 unter den ersten zehn vier Silicon Valley-Vertreter: An erster Stelle steht Amazons Jeff Bezos mit 131 Milliarden Dollar Vermögen. Bill Gates, der Microsoft-Gründer, bringt es im gleichen Jahr auf 96,5 Milliarden. Auf Rang 8 steht Facebook-Erfinder Mark Zuckerberg mit 62,3 Milliarden, und Google-Gründer Larry Page kommt abgeschlagen auf armselige 50,8 Milliarden.

Dann kam Corona, das weltweite Desaster, das jeden mittelbar oder unmittelbar in Mitleidenschaft zieht. Nur die Big Five, ohnehin schon die reichsten Corporations der Welt, haben allen Grund zur Freude. Während weltweit die Infektionszahlen und Sterbefälle, die Arbeitslosenzahlen und Unternehmenspleiten in die Höhe schossen, konnte das Silicon Valley dies als Profit verbuchen. Die Welt wurde ärmer und kränker, das Silicon Valley reicher und mächtiger. Vor allem konnte es historisch nie gekannte Gewinne einstreichen, die sich auf hunderte Milliarden Dollar belaufen. Jeff Bezos Vermögen stieg bis August 2020 auf 188,5 Milliarden, Bill Gates folgte mit 113,6 Milliarden, Mark Zuckerberg besitzt 98,6 Milliarden und Larry Page verfügt nun über ganze 66,7 Milliarden.

Dieser sagenhafte Gewinnsprung verdeutlicht einmal mehr, dass die wirkliche Welt und die virtuelle nicht parallel existieren. Letztere hat die Realität »verschluckt« und gewinnt im selben Maß, wie diese verliert. Das liegt auch an der Affinität zwischen dem digitalen und dem finanziellen Bereich. Beide basieren nicht auf der materiellen Welt, sondern auf deren Übersetzung in Zahlen. Jedes Ding ist eine Realität, aber es hat nebenbei oder auch hauptsächlich zwei in Zahlen ausdrückbare Werte: den Geldwert, also den Preis der Sache, und den in binären Zahlen verschlüsselten Code, die Information darüber. Was in der Welt zählt, sind die Zahlen. Wer über keinen Rechner verfügt, zählt nicht. Wer die Rechner beherrscht, regiert die Welt.

Was zu Geldgier führte, hatte einmal vernünftig begonnen. Die jungen Elektroniktüftler des Silicon Valley, kaum ihren Buden und Garagen entstiegen, brauchten für ihre bahnbrechenden Erfindungen das nötige Fundament. Um Geld zu verdienen, braucht man vor allem eins, Geld. Man lieh es sich. Als Erster ging 1980 Apple an die New Yorker Börse, es folgten 1986 Microsoft, danach Amazon, Google und Facebook. Das Tal der Lebenslust war zum Eldorado von netten Aktienunternehmen geworden.

Welche Macht sie ausüben, geht aus den Statistiken hervor. Vergleicht man etwa die Suchmaschinen, die von Milliarden Menschen dieses Planeten benutzt werden, und zwar unablässig, so laufen 90 Prozent aller Anfragen über Google. Dasselbe gilt für Facebook, das zusammen mit seinen kleineren Brüdern Instagram und Whatsapp 95 Prozent aller Nutzer unter dreißig Jahren beherrscht. Dass die Stanford-Kollegen Google und Facebook zusammen 90 Prozent der weltweiten Online-Anzeigen an sich ziehen, führt zu einer unangefochtenen Machtstellung, über die in den Firmen selbst nur ungern gesprochen wird. Rechnet man den Marktwert der Big Five zusammen, so übertrifft er den der französischen Volkswirtschaft. Von einigen hunderttausend Mitarbeitern wird mehr erwirtschaftet als von einem Volk von knapp 70 Millionen.

Für Amerikas Arbeitsmarkt hat dieser Wertschöpfungsvorteil des Silicon Valley erhebliche Konsequenzen: So stemmen die Big Five zusammen mit Netflix ein Drittel der Wirtschaftsleistung der USA. Doch beschäftigen sie nur ein Prozent der Erwerbstätigen. Auch dies ein Grund, warum Hi-Tech seine globale Dominanz immer weiter ausbaut. Zudem ist die Macht dieser Monopolisten krisenfest. Für die Menschheit sind sie längst zum Lebensmittel geworden. Als die Aktienmärkte während der Corona-Pandemie in die Tiefe rauschten, kletterten die Big Five in ungeahnte Höhen. Seitdem werden ihre Wertpapiere von den Börsianern ehrfürchtig als »Magic Stocks« (Magische Aktien) bezeichnet.

In der »New York Times« beklagte Facebook-Mitbegründer Chris Hughes, diese Machtakkumulation habe sich zu einer Bedrohung der Demokratie und überhaupt der menschlichen Freiheit ausgewachsen. »Marks Einfluss«, so Hughes 2019 über seinen einstigen Freund Zuckerberg, »ist atemberaubend. Er geht weit über den jedes Politikers hinaus.« Das hängt auch damit zusammen, dass Zuckerberg selbst »über die Konfiguration von Facebooks Algorithmen entscheidet, die wiederum darüber entscheiden, was Nutzer in ihrem Newsfeed zu sehen bekommen. Diese Algorithmen«, so Hughes weiter, »können unsere Kultur verändern, Wahlen beeinflussen, nationalistische Führer an die Macht bringen.«

Facebook hat auch dank seiner Tochterfirmen diesen Einfluss auf die ganze Welt ausgedehnt. Im Mai 2020 bediente Zuckerbergs Imperium 2,6 Milliarden Nutzer, ungefähr ein Drittel der Weltbevölkerung. Laut Hughes hat Zuckerberg diese singuläre Macht von Anfang an angestrebt. »Zur Beschreibung seiner Ambitionen«, so der Ex-Facebook-Chef, »benutzte Zuckerberg das Wort Domination (Herrschaft).« Zweifellos ist er damit überaus erfolgreich gewesen. Die Social Media-Welt wird von Facebook ebenso dominiert wie die der Suchmaschinen von Google. Pro Sekunde bearbeitet diese Supersuchmaschine 40 Millionen Fragen, deren jede von Algorithmen individuell beantwortet wird. Um seine verschiedenen Sparten unter einen Hut zu bringen, hat Google sich 2015 den Namen »Alphabet« zugelegt. Hatte das griechische Alphabet die Basis der abendländischen Kultur gebildet, war das Firmenkonglomerat nun zum Beherrscher der Weltkultur aufgestiegen. Für die Gegenwart und auch für die Zukunft. Das Silicon Valley, so der Wissenschaftsjournalist Thomas Ramge, träumt bereits von einer »technischen Vorherbestimmung der Menschheit«.23

Jedenfalls ist die Welt durch die Mega-Corporation Google so durchsuchbar und damit durchsichtig geworden wie nie zuvor. Überspitzt könnte man sogar sagen, dass Google die Durchsuchbarkeit und Transparenz der Welt erst erfunden hat. Natürlich gab es schon immer Lexika, aber was in ihnen gedruckt war, gehörte bereits bei der Lektüre der Vergangenheit an. Hier dagegen ist es die Gegenwart, die sich durch Googles Antwortmaschine sozusagen selbst zu Wort meldet. Jede Meldung erscheint in Form eines Berichts, aus dem der User seine Schlüsse ziehen kann. In einem Unternehmen wird die Beziehung zwischen Vorgesetztem und Untergeordnetem mit den Worten ausgedrückt, dass dieser dem Chef »berichtet«. Bei Google ist jeder User ein Chef, denn ihm muss die ganze Welt »berichten«. Und das erreicht man ohne den geringsten Kraftaufwand. Dass er gleichzeitig der Plattform unfreiwillig über sich selbst berichten muss, wird verschwiegen.

Jeder Suchdienst reklamiert für sich Allwissenheit. Das heißt, was man wissen kann in diesem Universum, ist bei ihm gespeichert und abrufbar. Vielleicht deshalb trug einer der ersten Suchdienste, Yahoo!, den Namen des alttestamentlichen Gottes Jahwe, der ebenso ausgesprochen werden kann. Netanjahu etwa bedeutet »Gott hat gegeben«. Die Anmaßung ist der einst mächtigsten Suchmaschine schlecht bekommen. Während Google aufstieg, stieg Yahoo! ab. Nachdem der Besitzer und Name mehrmals gewechselt hat, spielt die Firma nicht mehr in der ersten Liga.

Im Gegensatz zum kreativen Gott, der die Welt aus Nichts erschuf, sind die Suchmaschinen nicht schöpferisch. Sie sind Vergegenwärtigungsautomaten dessen, was ist, aber eben auch dessen, was nicht ist. Sie berechnen gleichermaßen, was gegeben und was nur vorgegeben ist. Der Unterschied von Wahrheit und Lüge ist ihnen unbekannt. Suchmaschinen können alles Menschliche berechnen, aber wie die ganze Cyberwelt sind sie unmenschlich. Ihre Rechner beherrschen die Welt, aber können nicht »Fünfe gerade sein lassen«.

»Es gibt wenige Menschen«, schrieb der Spiegel 2019, »die unser Leben so geprägt haben wie Ex-Google-Chef Larry Page.«24 Nur wenige wissen das, und er selbst macht kein Aufhebens davon. Der jungenhaft wirkende Visionär ruht sich nicht auf seinen Erfolgen aus. Er hat bereits weitere weltverändernde Maßnahmen in der Planung. Zuerst möchte er »das Universum digitalisieren«, danach den »Tod besiegen«. Gentechniker seines Unternehmens »Calico« erforschen, wie sie dem Menschen Krankheit und Sterblichkeit abgewöhnen können. In Kaliforniens produktiver Hybris fällt derlei Größenwahn nicht weiter auf.

Die Entwicklung des Silicon Valley zum Weltwirtschaftsimperium war vorhersehbar. Gewiss wollten die Gründer den gewöhnlichen Sterblichen das Zusammenleben erleichtern, doch zugleich waren sie von Anfang an nüchterne Pragmatiker. Im Altgriechischen bedeutet »Pragma« schlicht »die Sache«. Wer pragmatisch vorgeht, tut dies immer sachbezogen und sachdienlich. Als Denkrichtung entstand der Pragmatismus Ende des 19. Jahrhunderts in Amerika. Seine Botschaft lautet, dass nur gut ist, was einem Zweck dient. Nicht der Weg zählt, sondern allein das Ziel. Womit sich der Pragmatismus als Ideologie des expandierenden Geschäftslebens anbot.

Die moderne Welt eroberte er in einer Variante, die man pragmatisch-hedonistisch nennen könnte. Das Wort »hedonistisch«, das ebenfalls aus dem Altgriechischen stammt, bedeutet schlicht »lustorientiert«. Der pragmatisch-hedonistischen Lebensform, die unsere Zeit beherrscht, leistet die Computerwelt hervorragende Dienste. Beide sind füreinander wie geschaffen. Tatsächlich glich die Online-Welt anfangs einem Schlaraffenland, in dem sich jeder, der sich durch den Grießbreiberg der Technik gefressen hatte, nach Herzenslust bedienen konnte. Das unausgesprochene Motto lautete: Hedonismus für alle.

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