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Einfach märchenhaft

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Eines der beliebtesten Märchen der Brüder Grimm ist »Hänsel und Gretel«. Alle Kinder wollen, dass man es ihnen vorliest, so oft wie möglich. Denn an Dramatik ist die Gruselstory kaum zu überbieten, was ebenso für die Betroffenheit der Kleinen gilt: Empörung lösen die treulosen Eltern aus, Verzweiflung die Verlassenheit der Kleinen, die sich im dunklen Wald verirren und, welch bittere Ironie, nach ihren Eltern sehnen. Dann aber taucht ein Hoffnungsschimmer auf: das Licht, das im Dunkel scheint, das wundersame Lebkuchenhäuschen, zu dem ein lieblich singendes Vöglein lockt. Magnetisch angezogen, glauben die Geschwister nun alles gefunden zu haben, was ihr Herz begehrt. Bald ist ihr Heißhunger gestillt, die Lust auf Süßigkeiten befriedigt. Und um das Glück vollkommen zu machen, lädt eine freundliche Alte sie ins Haus ein und bewirtet sie mit erlesenen Speisen.

Dann, wie der Blitz aus heiterem Himmel, entpuppt sich die liebenswerte Alte als böse Hexe, von der die Kinder im Knusperhäuschen der tausend Köstlichkeiten gefangen gehalten werden. Und gemästet. Zwar darf Hänsel nach Herzenslust essen, aber nur, weil er selbst gegessen werden soll. Diese Vorstellung der Messer und Gabel handhabenden Hexe bildet den grässlichen Höhepunkt des kindlichen Mitleidens. Worauf der Showdown zwischen der Unschuld und dem abgefeimten Bösen folgt. Im Augenblick höchster Not, wo für die beiden alles auf dem Spiel steht, tut Gretel das Unerwartete, ja, zuvor ganz und gar Unvorstellbare: Sie stößt die Menschenfresserin in ebenden Ofen, in dem sie selbst mit ihrem Bruder gebraten werden sollte. Und die kleinen Zuhörer klatschen Beifall.

Der User des Internet, dem jeder Wunsch gratis erfüllt wird, befindet sich in ähnlicher Lage wie die Märchenkinder. Er glaubt, dass alle Speisen für ihn allein angerichtet sind. Und wird dabei selbst zur Speise. Man kocht ihn ab, bis er gar ist und für den E-Commerce, den Online-Handel, angerichtet. Oder wie auch Apple-Chef Tim Cook warnte: »Wenn der Service kostenlos ist, dann bist du nicht der Konsument, sondern das Produkt.«35 Dieses menschliche Produkt wird ohne sein Wissen weiterverkauft und von der Werbeindustrie vereinnahmt. Menschen werden zu Einnahmen. Aus der Gefangenschaft im digitalen Lebkuchenhäuschen gibt es auch keinen Ausweg. Einmal gespeichert, immer gespeichert. Wünsche werden einem nicht von den Augen abgelesen, sondern unablässig vor Augen geführt. Dank des Trommelfeuers der Werbung befindet man sich in einer Endlosschleife aus Gier und Sättigung. Sie raubt einem die Freiheit, die man im Netz eigentlich zu finden hoffte.

Jeder einzelne Internetnutzer ist überzeugt, dass ihm alle Wünsche erfüllt werden. Für die meisten entspricht dies ihrer Vorstellung von Freiheit. So bedeutet der American Way of Life, zu kriegen, was man will, und es Freiheit zu nennen. Mit dem Online Shopping wurde die Instant Gratification (sofortige Wunscherfüllung) perfektioniert. Der Internet-Riese Amazon hat seine Funktion selbst so definiert. Amazons von Waren, Warentransportrobotern, Warenverpackern und Warenversendern wimmelnde Auslieferungslager sind nicht nach den Waren benannt, die hier prozessiert werden. Sondern nach der Sehnsucht der Menschen, ihrer habhaft zu werden. Die Lager tragen die poetische Bezeichnung Fullfillment Center, was sie auch sind: Zentren der Wunscherfüllung, die jeden Erwachsenen in seine Kindheit zurückversetzen. Die eigentlichen Leistungsträger sind Lastenroboter der Marke Kiva, die von einem Computer, dem Kopf der kopflosen Fahrzeuge, ihre Routen in Millisekunden berechnet bekommen. Ganze Flotten von ihnen tragen, als rollende Plattformen, Warenregale zu den Beschäftigten, die das Gewünschte herausnehmen und verpacken. Dank der rollenden Regalbeweger und einer Armee unterbezahlter Arbeitsmenschen und Ausfahrer trifft die Ware umgehend beim Kunden ein.

Die Cyberwelt lehrt den Menschen, nicht lernen zu müssen. Das nehmen ihm heute die Computer mittels Machine Learning ab. Der Begriff des Lernens, das bei den Menschen immer auch Leben-lernen ist, wird dabei den digitalen Prozessen angepasst. Wenn man von »lernenden Computer« spricht, geht man von der Theorie aus, dass das Lernen, wie das praktische Leben, aus Informationsaneignung besteht. Doch Computer lernen nur das, was man ihnen als Daten eingibt. Oder sie versuchen etwas so lange, bis sie das Richtige gefunden haben. Dann speichern sie den Weg, der zum korrekten Ergebnis führte, und haben etwas gelernt. Das kann der Chip. Mechanisch, automatisch, wartungsfrei. Ohne dabei das Geringste zu begreifen. »Künstliche Intelligenz« (KI) versteht alles, aber begreift nichts.

Heute scheint der Mensch ohne Lernmaschinen nicht mehr leben zu können. Unser Cyber-Alltag ist von ihnen bestimmt. Gibt man bei Google eine Anfrage ein, antwortet einem die Lernmaschine exakt so, wie es auf einen persönlich passt, einschließlich der Werbung, für die man empfänglich ist. Erhält man E-Mails, hat die pseudointelligente Maschine den Spam großenteils herausgefiltert. Möchte man bei Amazon ein Buch bestellen oder bei »Amazon prime« einen Film ansehen, weiß die Maschine ziemlich genau, was einem gefällt, und bietet es automatisch an. Oder bietet es einem so lange automatisch an, bis es einem gefällt. Wer bei YouTube einen Clip aufruft, wird danach mit einer ganzen Springflut von »Das könnte dir auch gefallen«-Streifen überfallen. Mit anderen Worten, der Computernutzer ist der Lernmaschine schon in die algorithmischen Greifhände gefallen, die ihn für die Werbeindustrie zurechtportionieren. Das Maschinenlernen der Computer macht aus dem Menschen selbst eine Lernmaschine. Der Cyberspace bedient ihn und verwurstet ihn zugleich.

Da die Maschine für ihn lernt, muss der posthumane Mensch nichts lernen außer der Bedienung des Geräts. Hier genügt es, zu fragen, um gratis jede erdenkliche Antwort zu erhalten. Es genügt zu bitten, um jedes gewünschte Schauspiel geboten zu bekommen. Man möchte unterhalten sein? Bitteschön. Man lechzt nach sexueller Befriedigung? Nur keine falsche Zurückhaltung. Wozu lernen, wenn einem alles auf dem Silberteller präsentiert wird? Psychologen sehen darin eine Rückkehr in die Zeit, in der das Wünschen noch geholfen hat. Dies ist märchenhaft, nur eben jenseits des wirklichen Lebens.

Für den Vater der Tiefenpsychologie, Sigmund Freud, bedeutete der Zwang zur sofortigen Wunscherfüllung, dass sich der Mensch vom Lustprinzip beherrschen lässt. Dabei meinte er nicht das gewohnte »Darauf hätte ich jetzt Lust«, sondern den sexuellen Erfüllungswunsch, der eigentlich ein Erfüllungszwang ist. Um das Objekt der Begierde zu erlangen, setzt man alles andere hintan, damit sich die gesamte Lebenskraft auf diesen einen Vorgang konzentriert. Dafür fehlt die derart mobilisierte und verschwendete Energie dem Menschen an anderer Stelle und lässt auf Dauer sein Leben verarmen. Er gewinnt die Lust, aber aufs Leben hat er »keinen Bock mehr«.

Der moderne Wunscherfüller, der nur auflebt, wenn er online ist, isoliert sich damit vom wirklichen Leben und seiner Vielfalt. Auch die eigene Liebesfähigkeit geht verloren. Wozu der ganze Aufwand mit den anderen, fragt der Cybermensch, wenn ich alles per Mausklick haben kann? Eigentlich zur Selbstbestimmung fähig, wird der Mensch stattdessen in die schnelle Abfolge von Frage und Antwort, Wunsch und Erfüllung, Gier und Sättigung hineingezogen. Man wird kurzfristig befriedigt, aber man lebt nicht mehr. Man lernt nicht mehr. Im schlimmsten Fall schleppt man sich von Sättigung zu Sättigung. Das nennt man Suchtverhalten, und das Internet konditioniert einen dazu. Was wie absolute Freiheit erscheint, man selbst zu sein, ist in Wahrheit der Zwang, den Wünschen zu folgen, die einem suggeriert werden. Und die den User versklaven. Der Rest ist nur noch Selbst-Befriedigung.

Zu einer Selbst-Versklavung eigener Art wird man von Streaming Services wie Netflix, Amazon Prime oder Sky verurteilt, von denen wöchentlich neue hinzukommen. Im Gegensatz zum TV sieht man nicht nach vorgegebenem Programm und muss auch nichts mehr zur späteren Benutzung aufnehmen. Was man möchte, klickt man im Streaming-Dienst an, und zwar so oft man möchte. Am beliebtesten sind die Serien, die mit ihrer Vielteiligkeit bewusst unermüdliche Abhängigkeit schaffen. Die monatlichen Kosten sind geringer als ein Kinobesuch. Das führt dazu, dass alle Altersgruppen sich Tag und Nacht dem Filmrausch überlassen.

Rausch ist das treffende Wort. In Amerika werden die vor allem bei Jugendlichen beliebten Alkoholexzesse Binge Drinking (»Saufen, bis der Arzt kommt«) genannt. Seit es Streaming-Dienste gibt, ist ihm das Binge Watching (»Komaglotzen«) zur Seite getreten. Vom Menschen zur Couch Potato (»Dauerschauer«) mutiert, sieht man sämtliche Staffeln einer Serie im Tag-und-Nacht-Marathon an. Da viele Serien in sieben und mehr Staffeln aufgeteilt sind, die wiederum bis zu einem Dutzend Folgen à 45 Minuten haben, kann sich ein Binge Watching über mehrere Tage hinziehen, und zwar 24/7. Dabei wird der Bildschirm oft in Gruppen umlagert, bei denen der Alkohol nicht zu kurz kommen darf. Die Länge dieses Kollektivrauschs dürfte sich damit der Dauer der dionysischen Feste in der Antike nähern.

Prinzipiell ist die Cyberwelt auf spontane Wunscherfüllung spezialisiert. Sie versteht es sogar, die Wünsche zu erfüllen, noch bevor sie aufgetaucht sind. Softwareprogramme können voraussagen, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Mensch eine bestimmte Entscheidung trifft. So erfüllt das Internet auch den Wunsch nach neuen Wünschen. Und schafft täglich, stündlich neue Begehrlichkeiten, die in sich selbst schon Erfüllung sind, insofern sie den nimmermüden Wunsch nach Neuigkeit erfüllen. Salzwasser macht Lust auf Salzwasser. Wenn Freiheit gleichgesetzt wird mit Wahlfreiheit, die wiederum mit der Wunscherfüllung vollendet ist, dann hat die Menschheitsgeschichte mit dem Cybermenschen ihr höchstes Ziel erreicht. Er kann alles. Nur ist er kein Mensch mehr. Er scheint die Wirklichkeit nicht mehr zu brauchen. Auch nicht die der eigenen Körperlichkeit, die ihre Vergänglichkeit nicht ablegen will. In seinem Körper sieht der User nur noch das Werkzeug, mit dem er Tastatur, Maus oder Touchscreen bedient, das Schlüsselwerkzeug seines Universums. Dank dessen Hilfe verfügt er darüber, aber über sich selbst verfügt er nicht mehr. »Wer überall ist«, sagte der Philosoph Seneca, »der ist nirgendwo.«36

Im Internet kann man sich alles wünschen und kriegt meist etwas Passendes. Ob man genau das bekommt, was man sich erwartet, ist eine andere Frage. Oft wird einem nur suggeriert, dass die Antwort der Suchmaschine oder die Ware des Online-Handels exakt dem entsprechen, was man bestellt hat. Google bietet als Antwort zuerst einen Werbelink. Amazon sendet meist korrekt, aber oft ist es nur eine täuschend echte Kopie. Meist wird das nicht einmal bemerkt, und wenn, dann ignoriert man es, weil der richtige Markenname darauf steht. Und auf das Äußerliche kommt es an. Bei vielen Produkten zählt nicht, was drin ist, sondern was draufsteht. Die Parallele zum Social Media-Nutzer lässt sich nicht übersehen.

Längst hat die Cyberwelt auch vom öffentlichen Raum Besitz ergriffen. Das Checken, Surfen, Skypen, Gamen, anfangs auf die eigenen vier Wänden beschränkt, hat die Straßen und Plätze der Städte, die Parks, Einkaufspassagen und Bahnhofshallen, selbst die Friedhöfe erobert: Menschen aller Altersstufen laufen mit dem Internet in der Hand herum. Statt ihre Identität im Hier und Jetzt wahrzunehmen und mit der Gegenwart auch die Möglichkeit zur Geistes-Gegenwart, starren sie in den Cyberspace, der sie aus Zeit und Raum, Hier und Jetzt, entführt. Das Smartphone ist der Taschenspiegel, in dem sich das kleine Ich unendlich vergrößert sieht. Die mickrige Alltagswelt ist verschwunden, ein unendliches Wolkenkuckucksheim bietet sich einem an. In Echtzeit, jetzt. Und zwar alles, das große Ganze dem kleinen User. Der viel zu beschäftigt ist, um sich selbst weiterentwickeln zu können. An sich zu arbeiten, ist ohnehin überflüssig. Denn bildschirmperfekt ist man schon.

Was zuerst der Mensch ist, der in den Spiegel schaut, wird dann zum Spiegel, der in den Menschen schaut. Dort sammelt er seine Daten und definiert seinen Stellenwert im Ganzen. Man glaubt zu tun und wird getan. Man glaubt sich im Spiegel zu sehen, aber es ist ein Zweiwegspiegel. Man sieht sich an, aber die anderen, die einen dabei ansehen, sieht man nicht.

Verloren im Cyberspace

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