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Nach uns die Sintflut

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Berichte aus dem Innenleben des Social Media-Giganten sind spärlich. Ein Produktmanager, der mehrere Jahre für Facebook arbeitete, hielt es für »seltsam, dass das Unternehmen davon lebt, seine Nutzer auszuhorchen, seine eigene Privatsphäre aber mit Zähnen und Klauen verteidigt.«32 Der Mann, der trotz der Androhung von Millionenstrafen auspackte, arbeitete im Bereich Monetarisierung, in dem persönliche Daten der Nutzer gegen Höchstgebot in Geld verwandelt werden. Seinen Erinnerungen lässt sich entnehmen, dass zwischen Firma und Kultbewegung kaum mehr ein Unterschied besteht. Dass sich in jedem Kult ein Anspruch auf Weltherrschaft und Menschheitserlösung findet, muss nicht eigens betont werden.

Das Weltwunder Facebook basiert auf dem simplen Plattform-Trick: Es bietet seinen Usern die Gelegenheit, Inhalte zu posten, also der Plattform zur Verfügung zu stellen. Dann verkauft Facebook diese indirekt der Werbeindustrie als Köder, mit dem die Inhaltslieferanten eingefangen werden. So wird dem Facebook-Teilnehmer für die kostenlose Preisgabe seiner Liebesbotschaften, Hochzeits- und Babyfotos nachträglich die Rechnung in Form unerwünschter Werbung präsentiert. Während dem Opfer der Charade der Zusammenhang verborgen bleibt, verdient Facebook an dem versteckten Tauschgeschäft Milliarden. Da man nicht produzieren, sondern nur die Sache am Laufen halten muss, ist es auch leicht verdientes Geld. Während 2019 eine Firma wie Disney zur Erhaltung ihres Marktwerts von 180 Milliarden Dollar bis zu 185.000 Mitarbeiter beschäftigen musste, generiert Facebook zur gleichen Zeit einen Spitzenwert von 500 Milliarden mit nur 17.000 Mitarbeitern. Dank Corona-Pandemie stieg der Wert bis August 2020 sogar auf 744 Milliarden Dollar.

Auch der unvergleichliche Amazon-Erfolg von 1.783 Billionen an Marktwert, der die gesamte Waren- und Konsumwelt auf den Kopf stellt, verdankt sich dem Geschäftsmodell Plattform: Auf ihr werden die beiden Bereiche Einzelhandel und Logistik, die sonst getrennt sind, auf geniale Weise miteinander kombiniert: Amazon ist der Marktplatz, auf dem alle allen alles verkaufen können, und zugleich das Logistikzentrum, das allen alles Gekaufte vor die Tür bringt. Dank der bescheidenen Vermittlungsgebühr wurde der ebenso bescheidene Gründer Jeff Bezos fast nebenbei zum reichsten Mann der Welt, seine Firma zur wertvollsten weltweit.

Auch die neueren Welteroberer wie Uber oder Airbnb nutzen das Plattform-System. In ihrem Fall besteht der Trick darin, dass sie nicht die Vermittlung zwischen Kunden und Kunden wie Facebook oder zwischen Waren und Kunden wie Amazon anbieten, sondern zwischen Kleinunternehmern und Kunden. Sie versuchen nicht selbst, ihre Kunden zu bedienen, sondern engagieren Privatpersonen, die bereit sind, Kunden für die Plattform abzuschöpfen. Millionen von Uber- oder Airbnb-Mitarbeitern nehmen diesen Corporations die Arbeit ab. Und das mit dem täuschenden Gefühl, in die eigene Tasche zu wirtschaften.

Arbeits- und Materialaufwand von Millionen Kleinunternehmern bildet die Bonanza für diese Online-Corporations. Die größte Taxifirma weltweit besitzt kein einziges Taxi. Der größte Zimmervermittler verfügt über kein einziges Zimmer. Der aggressivste Online-Händler Ali Baba muss kein einziges Lager unterhalten. In Amerika nennt man diese schlaue Verlagerung From Bricks to Clicks, übersetzt etwa »Vom Haus zur Maus«. Den Aufwand haben die Subunternehmer, die Gewinne bleiben bei dem, der die richtige App anbietet.

Diese fast materielosen Agenturen des globalen Philanthropismus haben nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, sämtliche ihrer Kräfte auf Profitsteigerung zu richten. Darin liegt das Prinzip der Corporations, darauf basiert ihr Selbstverständnis. Ein Ungeheuer wie Amazon, das quasi spielerisch sämtliche Warenhäuser und Einzelhandelsgeschäfte der Welt zu Eckenstehern degradiert, hat nichts anderes im Sinn als seine Opfer es haben: Profite erzielen. Der neoliberale Ökonom Milton Friedman ging sogar so weit, diesen Hauptzweck der inkarnierten Gelddruckmaschinen zum moralischen Imperativ zu überhöhen. Die Unternehmenschefs, lehrte der Nobelpreisträger, stünden geradezu in der »sozialen Verantwortung«, für die Anteilseigner »so viel Geld wie möglich«33 zu erwirtschaften.

Da für die Geschäftspraktiken allein »Mister Corporation« verantwortlich zeichnet, können dessen teilhabende Besitzer ihre Hände in Unschuld waschen. Das gilt auch für die Tabakindustrie, die ihr Geld mit der lebensgefährlichen Sucht verdient. Nicht weniger gilt es für die Pharmafirmen, die mit angeblich ungefährlichen Schmerzmitteln Milliarden scheffeln, indem sie Millionen in Abhängigkeit bringen. Dank eines heroinartigen Wirkstoffs sind in den letzten 20 Jahren rund 200.000 Amerikaner an solchen legalen »Opioiden« gestorben. Auch jene Unternehmen können ein gutes Gewissen haben, die für ihre eigenen Arbeitnehmer, die sich krank gearbeitet haben, heimlich Lebensversicherungen abschließen. Die Prämie wird im Todesfall an die Firma, nicht die Familie ausgezahlt.

Die »Verkörperung« eines rigorosen Profitstrebens verleiht dem Begriff Corporation seine wahre Bedeutung. Voraussetzung ist allerdings, dass sie auch eine Verkörperung des Innovationsgeistes bietet. Produkte sind gut, neue Produkte sind besser. Die zwar erfinderische, aber immer einseitige Ausrichtung auf Gewinnsteigerung wird durch eine weitere Konsequenz problematisch. Sie ergibt sich aus dem Personenstatus dieser Unternehmen: Diese können nach Macht und Geld streben, wie und so viel sie wollen, aber ohne die negativen Konsequenzen tragen zu müssen. Im Gegensatz zu jedem Staatsbürger, der für seine Handlungen verantwortlich ist, haften die Anteilseigner nicht für das Ganze, mit dem sie ihr Vermögen verdienen, sondern nur für ihre persönlichen Einlagen.

Als fatal für die Gesellschaft erweist sich die Corporation im Worst Case Scenario, dem Firmen-GAU: Geht das Unternehmen bankrott, haben die Banken, die Gläubiger, die Mitarbeiter das Nachsehen. Dagegen verlieren die Anteilseigner höchstens ihren oft bescheidenen oder auch nur geliehenen Eigenanteil. Der große Schaden bleibt an einer Person hängen, die es nicht gibt. Und plötzlich ist auch nicht mehr die Rede von deren personhaftem Wesen und ihrer Corporate Identity. Was von der Markensolidarität bleibt, ist eine flüchtige Fiktion, zusammengesetzt aus willkürlichem Firmennamen und verödeten Produktionsstätten. Oder es kommt beim sogenannten Corporate Bail Out zur staatlichen Rettung mit Steuergeld.

Dies ist das Janusgesicht der Corporations: Was beim Verfolgen der Eigeninteressen noch bürgerliche Privilegien genoss, verflüchtigt sich, sobald Schäden an Mensch oder Natur verursacht werden. Aus finanziellen Gründen hat man etwas dagegen, »sich den Schuh anzuziehen«. Stattdessen löst man das Problem durch Externalizing, frei übersetzt, »man macht es zu anderer Leute Problem«. Die meist ökologischen Negativfolgen der Produktion werden externalisiert, damit der Gewinn den Anteilseignern unvermindert zufließen kann. Verantwortung ist ein gern gemiedenes Profithemmnis, gegen das sich eine ganze Zunft von Firmenanwälten stemmt. Tritt ein Totalschaden ein, löst sich die Körperschaft schlagartig in ihre Einzelteile auf. Wird das Restvermögen liquidiert, darf sich niemand wundern, dass die ersten Nutznießer dieser Erbmasse nicht die Gläubiger, sondern die Anteilseigner sind. Da sie das geringste Risiko trugen, sollen sie auch den geringsten Nachteil erleiden.34

Bei dem oft irreparablen Schaden, den die Gesellschaft zu tragen hat, denkt man zuerst an die Umweltverschmutzung. Doch ähnlich fatal wirkt sich das Externalisieren auf die »Innenweltverschmutzung« aus: Die Folgen des Rauchens wurden von der Industrie anfangs geleugnet, ja, vom Erfinder der Public Relations, Edward Bernays, sogar als gesundheitsfördernd dargestellt. Bewusst fügte man dem Tabak Zusatzstoffe bei, mit denen die Suchtwirkung verstärkt wurde. Zur Rede gestellt, gab man sich ahnungslos. Die verlorenen Prozesse und Milliardenstrafen in den USA haben die Zigarettenkonzerne nicht weiter beeindruckt. Der Krebs tötet den einzelnen Menschen, aber die Gesellschaft beraubt er: Den 14 Milliarden Einnahmen aus der deutschen Tabaksteuer 2019 stehen Ausgaben von 78 Milliarden an Krankheitskosten gegenüber, die an der Gemeinschaft hängen bleiben. Keiner kann bezweifeln, dass es das Prinzip Corporation war, das weltweit die Umwelt beschädigt und den Klimanotstand ausgelöst hat. Es war die pseudomenschliche Jagd nach Profit, schmackhaft gemacht durch ein buntes Produktspektrum, die zum Globalschaden führte. So wurde durch den Golem Corporation die Zukunft der Menschheit aufs Spiel gesetzt.

Aus der Anmaßung, dieser Unternehmensform den Personentitel zu verleihen, ergab sich noch eine andere, vielleicht nicht minder fatale Konsequenz. Das Beispiel der Corporations gab auch den Einzelpersonen das gute Gewissen, sich geschäftsmäßig, modern gesagt: rücksichtslos zu verhalten. Dass die Corporations mit ihrer Version des Pursuit of Happiness Erfolg hatten, wurde zum unwiderstehlichen Anreiz, nun auch selbst das Streben nach Glück in eine atemlose Jagd nach Geld zu verwandeln. Mensch zu sein, ohne menschlich zu sein. So entstand die coole Persönlichkeit, die ganz ihrer Vermögensbildung lebt und sich nicht um deren Konsequenzen kümmert. Zur Corporate Identity gehört eben auch das »Nach uns die Sintflut«.

Verloren im Cyberspace

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