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1.6 Das Todessystem

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Mit diesem Begriff wird ein Beziehungsgefüge der Kommunikation und Interaktion bezeichnet, durch das die Beziehung des Menschen zu seiner Sterblichkeit vermittelt und zum Ausdruck gebracht wird. Daraus ergibt sich die Art und Weise, wie Menschen mit Bezug auf Sterben und Tod sprechen und handeln (Kastenbaum 1977, S. 76; Kastenbaum & Aisenberg 1972, S. 193; siehe auch Morgan 2003). Mit FELDMANN (1990, S. 19 ff.) kann man das Todessystem auch als das Angebot kultureller Orientierungsmuster umschreiben und normative, instrumentelle, kognitive und expressive Todeskonzeptionen unterscheiden. Für die Zwecke der Behandlung der Todesthematik in diesem Buch ist von Bedeutung, dass es ein integriertes, von allen Mitgliedern einer Gesellschaft geteiltes Todessystem nicht gibt. Nicht nur dass es über Epochen hinweg Unterschiede im jeweils vorherrschenden Todessystem gab, auch innerhalb einer gegebenen Epoche bestanden bzw. bestehen mehrere Subsysteme nebeneinander.

Innerhalb eines Todessystems kann man Personen, Objekte, Symbole, Orte und Zeiten unterscheiden (Kastenbaum 1977, S. 76 ff.). Bestimmte Personen werden durch die Rolle definiert, die sie im Todessystem innehaben. Professionelle Akteure sind der Bestattungsunternehmer, in dessen Tätigkeit wirtschaftliche und ideelle Aspekte vermengt sind, der Arzt, dessen Rolle im Hinblick auf Sterbende nicht so eindeutig ist wie diejenige im Umgang mit Kranken, die Krankenschwester, die wegen ihrer eingeschränkten Befugnisse leicht in einen Rollenkonflikt geraten kann, der Priester, der – gerade weil er keine medizinisch-technische Funktion hat – eine wichtige Rolle im Todessystem spielt, und die Experten für psychische Gesundheit (Psychiater, psychologische Psychotherapeuten), die dadurch eine gewisse Stellung im Todessystem erlangt haben, dass das Bewusstsein der Endlichkeit durch außergewöhnliche Verbrechen, Naturkatastrophen, Umweltschädigung und deren Verbreitung durch Fernsehen und Internet immer wieder wachgerufen wird. Objekte des Todessystems sind beispielweise Sarg, Leichenwagen und Totenschein. Symbolisch kommt das Todessystem in der Sprache und der Musik zum Ausdruck. Orte des Todessystems sind neben dem Friedhof auch das Alten- und Pflegeheim sowie das Hospiz bzw. die Palliativstation, aber auch das (in früheren Zeiten eng umschriebene) militärische Schlachtfeld. Herausgehobene Zeitpunkte des Todessystems sind spezielle Gedenktage wie in Deutschland der Totensonntag.

Das Todessystem hat mehrere Funktionen (Kastenbaum 1977, S. 81 ff.; Kastenbaum & Aisenberg 1972, S. 193). Eine übergeordnete Funktion besteht darin, durch geschriebene oder ungeschriebene Vorschriften das Verhalten der von Sterben und Tod betroffenen Menschen zu leiten. Durch die davon ausgehende Orientierung bietet es Stabilisierung in Situationen, die anderenfalls zu Hilflosigkeit führen würden. Allgemein geteilte Verhaltensvorschriften tragen überdies dazu bei, den Zusammenhalt der Gemeinschaft nach dem Ausscheiden eines Mitglieds zu stärken. Mehr ins Einzelne gehend, kann das Todessystem folgende Funktionen haben: Warnung und Vorhersage (durch den Arzt), Vorbeugung (durch den Arzt), Betreuung von Sterbenden (durch Pflegekräfte), Bestattung der Toten (durch den Beerdigungsunternehmer), Vermittlung von Sinn (durch den Priester). Der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass es auch zu den Funktionen des Todessystems gehört, innerhalb einer Gesellschaft die Legitimation staatlich sanktionierten Tötens, sei es als Strafe oder im Rahmen militärischer Operationen, zu erklären.

KASTENBAUM und AISENBERG (1972, S. 201 f.) nennen einige positive Aspekte des mittelalterlichen Todessystems. Dazu zählen die konkrete Fassbarkeit des Todes durch seine Personifizierung mit der Folge der Angstreduktion; die Verächtlichmachung des Todes, die einer symbolischen Beherrschung entsprach und psychologisch ebenfalls der Verminderung von Angst diente; die Wahrnehmung des Todes als diejenige Instanz, die soziale und wirtschaftliche Unterschiede aufhebt; die Aufwertung des Sterbeprozesses und die Spezifizierung der Rolle des Sterbenden. Unser heutiges Todessystem ist demgegenüber u. a. durch folgende Merkmale gekennzeichnet (ebd., S. 238 ff.): Durch die Auslagerung in Institutionen ist Sterben für die Allgemeinheit unsichtbar geworden; die Toten sind ausgeklammert, entsprechende Traditionen weitgehend verschwunden; der nachlassende Einfluss der Religion bzw. des Glaubens als einigendem Band hat u. a. zur Fragmentierung des Todessystems beigetragen; der Tod bzw. die Endlichkeit des Lebens wird als Feind gesehen, der das Recht auf ein glückliches Leben bedroht; das Leben wird grundsätzlich als absurd und sinnlos angesehen.

Warum der Tod kein Sterben kennt

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