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1.7 Resümee

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Die Darstellung der kulturgeschichtlichen Grundlagen des Umgangs mit Sterben und Tod in diesem Abschnitt ist äußerst komprimiert. Eine weitere Verdichtung in Form einer bilanzierenden Zusammenfassung läuft einerseits Gefahr, die Dinge allzusehr zu vereinfachen, sie birgt andererseits aber auch die Chance, den Blick auf die wesentlichen Entwicklungslinien und ihre Ursachen zu lenken.

Die traditionelle, vormoderne Orientierung des abendländischen Menschen gegenüber Sterben und Tod war von Gelassenheit bestimmt, die aus religiös bestimmter Sinngebung und der Einbettung in ein einheitliches religiöses Ritual resultierte. Indem die Menschen dieser Epoche einerseits eine enge emotionale Bindung an Gott und andererseits noch kein Bewusstsein ihrer Individualität besaßen, war ihre Bindung an das Leben schwach. Der Verlust des Lebens per se wurde nicht als außergewöhnlich groß angesehen und die Aussicht darauf war dementsprechend nicht besonders furchterregend. Mit dem Schwinden religiösen Glaubens und der aufkommenden Individualisierung erfolgte eine Umkehr dieser Verhältnisse: Das Lebensgefühl des Menschen in der Neuzeit ist in zunehmendem Maße von einer schwachen Bindung an Gott und einer engen Bindung an das Leben gekennzeichnet. Daraus folgen mit Blick auf das Sterben zwei herausragende Merkmale: Individualisierung bzw. Privatisierung einerseits und Professionalisierung andererseits. Das Lebensende und die Betreuung Sterbender sind nun keine öffentlichen Ereignisse mehr und es gibt auch kein Todesbild und kein Ritual mehr, das allgemeine Verbindlichkeit beanspruchen kann. Was den Umgang mit Toten (d. h. Bestattung und Trauer) betrifft, so gelten hier die gleichen Merkmale wie für das Sterben. Beschleunigung, Ökonomisierung und Reflexivität als weitere Kennzeichen des Lebens in der Moderne unterstützen und verstärken diese Merkmale.

Anhand dieser äußerst knappen Übersicht zeigt sich, dass der Umgang der Menschen mit der Todesthematik durch den jeweiligen Zeitgeist bestimmt ist. Das jeweils vorherrschende kulturelle Milieu kann den Tod entweder als belangloses biologisches Ereignis oder als den krönenden Abschluss eines individuellen Lebens interpretieren; es kann den Zeitgenossen entweder empfehlen, den Tod zu ignorieren, oder es kann dafür plädieren, das Wissen um den Tod als ständigen Begleiter in das eigene Leben einzubeziehen (siehe Kastenbaum & Aisenberg 1972, S. 191). Es kann also zu sehr unterschiedlichen Interpretationen des Todes kommen, je nachdem, welcher Zeitgeist maßgebend ist, und unserer heutigen Gesellschaft mag Sterben und Tod wie ein Vexierbild erscheinen. Auf vier Aspekte wollen wir abschließend aufmerksam machen:

(1) Die Gegenüberstellung von traditioneller und moderner Orientierung gegenüber Sterben und Tod ist nicht so ausschließlich, wie es unsere Darstellung der Übersichtlichkeit halber nahelegt. Es gibt kein klares Entweder-oder. Tatsächlich ist es gerade ein wesentliches Kennzeichen der Gegenwart, dass Elemente traditioneller Orientierung neben jenen der modernen Orientierung zum Ausdruck gebracht werden (vgl. den Begriff des »double coding« bei Walter 1994, S. 40 ff. u. 63) – eine Situation, die von vielen Zeitgenossen als Beliebigkeit bzw. Unverbindlichkeit des öffentlich sichtbaren Verhaltens gegenüber Sterben und Tod empfunden wird.

(2) Die gesellschaftliche Verdrängung von Sterben und Tod (die nicht mit dem individualpsychologischen Abwehrmechanismus zu verwechseln ist) wird oft und zustimmend als kennzeichnend für die heutige Zeit genannt. NASSEHI und WEBER (1989) sehen in der sozialen Verdrängung bzw. Tabuisierung des Todes gar ein strukturelles Merkmal von Modernität. Angesichts der Tendenz zur Veröffentlichung persönlicher Erfahrungen mit Sterben und Tod in Medien aller Art bedarf diese These in jüngster Zeit möglicherweise einer Differenzierung.

(3) Die Professionalisierung des Umgangs mit Sterbenden und Trauernden, die ja der guten Absicht entspringt, eine einheitlich hohe Betreuungsqualität zu gewährleisten, kann zu einem Hindernis für angemessene Betreuung werden, wenn die selbst gesetzten Ansprüche zu hoch sind (Wittkowski & Schröder 2008, S. 26 f.).

(4) Wie in diesem Abschnitt aufgezeigt, sind das Erleben von Sinnhaftigkeit sowie die Bindung des Menschen an das Leben die zentralen Merkmale, in denen sich der vormoderne Mensch von seinem heutigen Nachfahren unterscheidet. WITTKOWSKI (2003, S. 281 f.) hat diese Merkmale als übergreifende Konzepte der Thanatologie gekennzeichnet, die es ermöglichen, intra- und interindividuelle Unterschiede im Erleben und Verhalten gegenüber Sterben und Tod zu erklären. Beide Konzepte sind nämlich prinzipiell empirisch erfassbar. In welcher Weise und aus welchen Quellen ein Mensch Sinnerleben schöpft, lässt sich anhand seiner Äußerungen qualitativ beschreiben und/oder quantitativ messen. Die Qualität und Intensität der Bindung, die ein Mensch an sein Leben – das bereits gelebte und das noch zu lebende – hat, lässt sich grundsätzlich in der gleichen Weise erfassen, wie man die Bindung eines Kindes an seine Eltern bestimmen kann.

Warum der Tod kein Sterben kennt

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