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1.2 Allgemeine Kennzeichen des mittelalterlichen Weltbildes

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Aus kulturgeschichtlichen Erörterungen der Todesthematik (z. B. Ariès 1980; Gronemeyer 1993; Kastenbaum & Aisenberg 1972, S. 191 ff.; Schneider 2005; Walter 1994, S. 47 ff.) lassen sich auch zwei zentrale Merkmale jenes Lebensgefühls herausschälen, welches die Menschen im Mittelalter in ihrem Erleben und Verhalten im Allgemeinen, d. h. auch ohne Bezug zu Sterben und Tod, bestimmt hat. Eines dieser Kernelemente des traditionellen Weltbildes lässt sich unschwer positiv benennen, hinsichtlich des zweiten Merkmals ist jedoch nur eine negative Kennzeichnung dergestalt möglich, dass die Abwesenheit dieses Merkmals festgestellt wird. Hierbei handelt es sich also um die Einschätzung des heutigen Betrachters, dessen suchender Blick auch von dem geleitet wird, was die Entwicklungen der Neuzeit hervorgebracht haben.

Das erste dieser Merkmale ist die Wahrnehmung Gottes als unangefochtene Instanz der Sinngebung. Die sächliche Umgebung, die Natur und alles Leben in ihr schienen von Gott geschaffen und in ihrem Lauf von Gottes Hand gelenkt. Dieser »Zentralsinn« (Nassehi 1992, S. 13) des mittelalterlichen Menschen bewirkte das Empfinden von innerer Nähe zu Gott und zur Natur und darüber hinaus auch zum Jenseits. Leben, Sterben und Tod waren gleichermaßen von Gott gegeben und wurden als Naturereignisse empfunden, in die man sich mit einer gewissen Gelassenheit fügte. Das irdische Leben erschien den Menschen als ein Durchgangsstadium mit der Aussicht auf eine verlockende Ewigkeit und mit seinen hohen Anforderungen an das tägliche Überleben war es mehr ein kollektives Problem als ein Problem des Einzelnen. Die Vorstellung einer biologischen und daher begrenzten Lebensspanne gab es noch nicht. Das Vertrauen in Gott vermittelte subjektive Sicherheit in allen Lebenslagen. Die sinnstiftende Autorität war die Religion, den sozialen Kontext bildete die Gemeinschaft. Zusammenfassend kann man sagen: Frühere Kulturen haben strukturell und funktional ähnliche symbolische Sinnstrukturen hervorgebracht, »die die Welt im ganzen zu erklären vermochten und zudem in der Lage waren, persönliche mit sozialer Identität zu verbinden« (Nassehi & Weber 1989, S. 14).

Das zweite Kennzeichen des mittelalterlichen Lebensgefühls steht mit der Dominanz des Glaubens in enger Beziehung. Es ist das Fehlen des Bewusstseins der Einzigartigkeit und damit auch das Fehlen eines Verantwortungsbewusstseins für die eigene Lebensführung. In dem Maße, in dem das Bewusstsein der (eigenen) Individualität schwach ausgeprägt war, war das Bewusstsein geringer Kontrolle über die Kräfte der Natur vorherrschend. Die allgemeine Lebens- und Überlebensstrategie bestand in der Anpassung an Jahreszeiten und Wetterbedingungen, nicht hingegen in dem Versuch, sie zu beherrschen. ARIÈS (1980) sieht im Selbstbewusstsein des Menschen, also in seinem Selbstbild als autonom handelndes Individuum, die wichtigste Determinante für die Veränderung der Einstellungen zu Sterben, Tod und Verlust.

Man könnte auf die Idee kommen, die kulturgeschichtliche Entwicklung des abendländischen Menschen mit der psychosozialen Entwicklung eines einzelnen Menschen zu vergleichen. Das Mittelalter würde dann der Kindheit entsprechen, das sich wie diese in ein frühes, mittleres und spätes Stadium unterteilen lässt. Für das Kind sind die Eltern die Schutz und emotionale Sicherheit gewährenden Instanzen, ganz so, wie Gott für den Menschen des Mittelalters die Sicherheit gebende Instanz war. Erst im Jugendalter gewinnt der Mensch nicht nur die kognitiven Fähigkeiten zu einem abstrakten Verständnis der Welt, sondern auch die Fähigkeit, sich emotional von seinen wichtigsten Bezugspersonen, den Eltern, zu lösen und sich als eigenständiges Individuum wahrzunehmen. Diesem ontogenetischen Entwicklungsprozess entspricht im Bereich der kulturgeschichtlichen Entwicklung des Westens die Neuzeit.

Der Vergleich der Entwicklung einer Kultur mit derjenigen eines Individuums, wie ihn bereits Oswald Spengler in einer im Prinzip ähnlichen Weise in seinem Werk »Der Untergang des Abendlandes« dargestellt hat, bietet die Möglichkeit, das psychologische Konzept der Bindung einzuführen. Wie das Kind (in der Regel) eine enge und positive Bindung an seine Eltern, zugleich aber (noch) keine Bindung an die Welt bzw. an sein eigenes Leben hat, so hatte der Mensch des Mittelalters eine enge und positive Bindung an Gott als Vaterfigur, jedoch eine schwache Bindung an das Leben im Allgemeinen und an sein eigenes Leben im Besonderen. Wenn aber die Bindung an das Leben schwach ist oder gar gänzlich fehlt, kann der Verlust des Lebens nicht als Schaden empfunden werden. Aus psychologischer Sicht kann daher die Gelassenheit des mittelalterlichen Menschen gegenüber dem Sterben – demjenigen anderer Personen wie auch dem eigenen – und gegenüber dem Tod – der Aussicht des eigenen Todes wie auch des tatsächlichen Verlusts von Bezugspersonen – mit dieser schwachen Bindung des Menschen jener Epoche an das Leben erklärt werden.

Warum der Tod kein Sterben kennt

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