Читать книгу Mein Herz hört deine Worte - Joanne Bischof - Страница 10
Vier
ОглавлениеWährend ein frühes Abendessen im Ofen schmorte, stieg Ava auf einen Hocker und fuhr mit einem Lappen den Kaminsims entlang. Ein Spinnennetz thronte in dem gewaltigen Geweih darüber, aber um dort heranzukommen, würde Ava eine Leiter brauchen. Leider wusste sie nicht, wo sie in diesem Haus nach einer suchen sollte. Sie kletterte von dem Hocker und staubte stattdessen die dunkelroten Ziegelsteine des Kamins ab. Den Teppich zu ihren Füßen zierten einige Brandflecken. Ava fegte kalte Asche in eine Besenschaufel und war in diesem Moment unglaublich dankbar für das Tuch, das sie sich um ihre Haare gebunden hatte. Etwas kitzelte sie an der Nase und Ava kratzte sich dort mit den Fingerspitzen.
Der Große Raum machte seinem Namen alle Ehre. Er schloss sich an die Küche an und erstreckte sich über die restliche Fläche des gesamten Erdgeschosses. Überall standen Möbel herum und erinnerten an die Zeit, in der das Haus mit Leben gefüllt war. Viele Hände für eine Menge Arbeit. Und jetzt? Die Farm lag still und leise da. Die Männer gingen einer Arbeit nach, die Ava nicht völlig verstand. Es gab keine Hühner. Keinen Acker und kein Vieh. Nur die beiden Stuten. Abgesehen von Idas kleinem Küchengarten gab es kaum etwas, um das man sich hätte kümmern können. Die Plantagen natürlich, aber bis auf Thor hatte Ava kaum jemanden die Reihen ablaufen sehen.
Der Hüter der Bäume … und jetzt kannte sie ihn auch als … den Schnapsbrenner. Durch Jorgans Erzählungen wusste sie, dass Haakon die Lieferungen ausfuhr und die Bezahlung einsammelte. Jorgan hingegen kümmerte sich um die Farm. Er reparierte und hielt instand, damit alles andere seinen gewohnten Gang gehen konnte. Eine nie endende Aufgabe, ging es dabei nicht nur um Gebäude, sondern vor allem auch um das Wohlergehen seiner Familie.
Darüber hinaus behandelten sich die Männer gegenseitig mit Respekt und Umsicht. Ein geknüpftes Band der Bruderschaft, von dem Ava nur wenig verstand.
Nachdem sie die Feuerstelle gesäubert hatte, wandte Ava sich dem kleinen Schachtisch daneben zu. Die Spielfiguren standen verteilt auf dem Brett herum. Ein Spiel, das noch nicht beendet wurde. Mit dem Lappen in der Hand wischte Ava vorsichtig um das Brett herum und bemerkte runde Abdrücke von Tassen auf dem Holz. Oder von Gläsern …
Irgendetwas sagte Ava, dass es sich hier um Thors Platz handelte.
Sie kehrte unter dem Tisch und fegte Pfeifenasche und zwei angekohlte Streichhölzer auf. Ava roch den Duft frisch gebackenen Brotes und weil Ida noch an der Wäscheleine draußen beschäftigt war, ging Ava in die Küche, um nach dem backenden Brot zu sehen. Ida und sie hatten es gemeinsam geknetet. Sie spähte in eine der sechs Formen im Ofen; die Kruste war noch immer ziemlich bleich. Dann schloss sie die eiserne Klappe wieder. Ein paar Minuten würde es noch dauern.
In Norwegen hatte Farfar Øberg ihr einiges über das Backen beigebracht, während sie in der Wohnung über seinem Geschäft gelebt hatte. Der großväterliche Mann hatte sie immer wieder daran erinnert, das Brot nicht mit dem ständigen Hineinluken zu verderben.
Ava lächelte.
Als die Zeit zum Abendessen näherrückte, sah sie nach dem Braten, den sie bereits vor Stunden angesetzt hatte. Das Fleisch war zart und saftig, die Soße blubberte. Vorhin hatte Ida ihr das Quellhaus gezeigt und das zur Verfügung stehende Fleisch. Beides befand sich in der steinernen Hütte, die sich zwischen die Hügel schmiegte. Kaltes Wasser floss aus der Quelle in der Mitte und auf aus Steinen gefertigten Regalen lagerten Butter, Fleisch und besondere Käsesorten. Rindfleisch in Massen. Wurstketten und Schinkenstreifen. Etwas Wildfleisch und die gesprenkelten Eier. Das meiste davon hatte Ida bei einem Nachbarn erstanden. Ebenso wie die Milch.
Jorgan hatte erwähnt, dass sie im Überfluss lebten. Langsam dämmerte es Ava, was er damit meinte.
Nachdem die Brotlaibe aus dem Ofen geholt wurden und dampfend auf dem Tisch standen, kam Ida herein. Mit einem Löffel in der Hand verschwand die hinkende Haushälterin auf die Veranda und schlug gegen die dort hängende Triangel. Kurz darauf stapften die hungrigen Männer ins Haus und waren alles andere als glücklich über Idas Befehl, sich vor dem Essen Hände und Gesicht zu waschen.
Ava stellte sich schnell auf Idas Seite und schlug Haakons schmutzige Hand weg, als dieser sich am duftenden Braten vergreifen wollte. „Das ist das Mindeste, das du für eine warme Mahlzeit tun könntest“, tadelte sie.
Den Löffel noch immer in der Hand, stand Ida in der Küche und kicherte. „Ich werde es genießen, dich um mich zu haben.“
Im Gänsemarsch folgten die Brüder einander hinaus zur Pumpe, während Ida bereits die Teller mit gedämpftem Gemüse aus dem Garten und dem zarten Fleisch füllte. Als Erster kehrte Haakon zurück. Er war klitschnass, von den Schultern an aufwärts, als habe er noch nicht gelernt, richtig zu zielen. Als Jorgan eintrat, griff er nach einem Handtuch, um sich Hände und Unterarme abzutrocknen. Zuletzt betrat Thor die Küche. Sein feuchtes Haar war dunkel wie gegerbtes Leder. Auf dem Weg zum Herd warf er es über die Schulter zurück. Unsicher bewegte er sich um Ava herum, als würde er nicht genau wissen, wie er sich in einem Raum mit ihr verhalten sollte.
Ava wünschte sich, etwas sagen zu können. Aber sie wusste weder was noch wie. Nach ihrem Patzer am Frühstückstisch und seiner harschen Reaktion blieb sie lieber still.
Die beiden anderen Brüder hatten sich bereits bedient, darum griff Ava nach dem letzten gefüllten Teller. Als sie ihm den Teller reichte, blickte er sie ungläubig an. Dennoch nickte er ihr mit dem Kopf ein stilles Danke zu und nahm den Teller mit einer Hand entgegen. Ava fiel auf, dass sie nicht mehr zitterte. Obwohl es nichts an Thors Manieren auszusetzen gab, wusste Ava, dass er ziemlich viel getrunken haben musste. So hatte es Jorgan vorausgesagt. Er wirkte so anders als an diesem Morgen; sehnte sich nicht mehr so verzweifelt danach. Welch ein trauriger Kompromiss.
„Du solltest dir besser auch was nehmen“, riss Ida sie aus ihren Gedanken und holte zwei weitere Teller heraus.
Nachdem Ava genau das getan hatte, trug sie ihren gefüllten Teller in den Großen Raum. Er wurde von der untergehenden Sonne in warmes Licht getaucht. Die Männer hatten sich bereits gesetzt und ihre beschäftigten Gabeln reflektierten die frühe Abendsonne.
Also aßen sie nicht am Tisch. Oder sprachen ein Gebet vor dem Essen. War es anders gewesen, als Dorothee noch hier gelebt hatte?
Haakon saß an einem Ende auf dem Sofa und Ava wandte sich zur unbesetzten Hälfte. Ida ließ sich in ihrem Schaukelstuhl nieder. Er knirschte leise, als sie ihn in Bewegung setzte. Während sie aßen, unterhielt sich Haakon mit beiden Frauen. Er unterbrach sich nur, um aufzustehen und sich einen Nachschlag aus der Küche zu holen.
Auch Thor nahm sich ein zweites Mal und schaufelte sich seinen Teller doppelt so voll, wie Ava es getan hatte. Mit einer Hand hielt er den Teller fest, mit der anderen stieß er die Tür auf und verschwand nach draußen. Ava richtete ihre Aufmerksamkeit wieder ihrem Essen zu. Es fühlte sich komisch an, so zu essen. Als junges Mädchen war sie mit der Gewohnheit aufgewachsen, allein in dem Zimmer ihrer Mutter zu Abend zu essen. Später hatte das rhythmische Geklapper verbeulter Teller und das Schaben vieler Sitzbänke ihre Mahlzeiten begleitet. Zu Hunderten hatten sie in dem Armenhaus gemeinsam gesessen und verdünnte Suppe und hartes Brot hinuntergeschlungen. Niemals hatte es genug gegeben, um das große Loch in ihren Mägen füllen zu können.
Jetzt waren die Wände des Armenhauses nur noch eine ferne Erinnerung und Ava genoss langsam ihr reichliches Mahl. Das schlechte Gewissen nagte angesichts dieses reichen Glücks an ihr. Es gab so viel zu Essen für eine einzige Person. Bilder von hohlen Wangen und leeren Augen durchfluteten ihre Gedanken. Sie erinnerte sich vor allem an die vielen Waisenkinder, die dicht gedrängt auf den schmalen Bänken gesessen hatten. Aber Ava konnte ihnen ebenso wenig etwas von ihrem Überfluss abgeben, wie sie jemals in dieses Armenhaus zurückkehren konnte.
Stattdessen betete sie für diese Gesichter, während sie aß. Für die Kleinen, die sie leiden und sterben gesehen hat. Bis zu dem Moment, als ein Bootsbauer sie von diesem Ort befreit hatte. Benn, der nur Norwegisch sprach, und Ava, die keines seiner Worte verstehen konnte. Aber sie hatte den kleinen goldenen Ring verstanden, den er ihr auf den Finger geschoben hatte. Und die Gewissheit, dass dieser Ring ihre Freiheit bedeutete.
Ida riss Ava aus ihren Erinnerungen. „Denk gar nicht erst daran, nach dem Essen auch nur einen Teller anzurühren.“ Sie erhob sich aus ihrem Schaukelstuhl. „Du hast dich um dieses leckere Mahl gekümmert und ich kümmere mich um den Rest.“ Idas Schritte waren sicher, wenn auch ungleichmäßig. Schmerz schien sich durch ihr Bein zu ziehen, auch wenn sie kein Wort darüber verlor. Die freundliche Frau griff nach Avas Teller.
„Bist du sicher?“, fragte Ava.
„Raus mit dir. Genieße ein bisschen die frische Luft. Der Herr allein weiß, wie viel Staub du heute eingeatmet hast“, gab Ida zur Antwort.
Eine leichte Sommerbrise wehte von einem der geöffneten Fenster zu ihnen herüber und der Gedanke an einen Abendspaziergang war zu verführerisch, um dieses Angebot abzulehnen. Die Männer hatten sie darum gebeten, in der Nähe des Hauses zu bleiben. Daran würde sich Ava auch halten. Dankend erhob sie sich, griff nach der Laterne von einem Beistelltisch und trug sie hinaus in die beginnende Dämmerung.
Aus der riesigen Scheune vernahm Ava den Klang eines arbeitenden Mannes. Werkzeug schepperte. Etwas Riesiges wurde über den Boden geschoben. Angeln quietschten. Thor in seiner eigenen Welt, wie Jorgan es ausgedrückt hatte. Mit gesenktem Kopf lief Ava vorbei. Ihr Blick suchte nach der Hütte, die Jorgan ihr gezeigt hatte, und sie wandte sich in deren Richtung. Vorsichtig schob sie die Türe auf und schlüpfte ins Innere.
Thor kniete auf dem Boden der Brennerei. Dieser Ort war für ihn mehr Zuflucht, als irgendein anderer Ort es je gewesen war. Er rollte ein Fässchen seines zwei Monate alten Brandes über den Boden, entkorkte es und goss sich ein Trinkglas voll. Dieses stellte er neben dem Rest seines Abendbrotes auf dem Boden ab. Nach ein paar Bissen des saftigen Fleisches trank er. Der Geschmack nach süßem Apfel floss ihm über die Zunge, gepaart mit der perfekten Menge des natürlichen Gerbstoffes. Weder zu süß noch zu bitter. Ein berauschendes Gefühl legte sich auf seine Sinne und etwas sagte ihm, dass er vorsichtig mit diesem Destillat umgehen musste. Sogar für ihn hatte dieser Schnaps es in sich.
Thor hatte sich vorgenommen zu arbeiten, während er aß. Darum nahm er nun einen großen Bissen zu sich und griff dann nach einem Stück Kreide, mit dem er das Fass nummerierte. Sein Nummernsystem würde den meisten Leuten ziemlich wahllos vorkommen, aber Haakon kannte jeden seiner Codes und wusste, an wen das Fass geliefert werden sollte. Auf der Werkbank suchte Thor nach seinen Aufzeichnungen und las. Dann schritt er zielsicher auf das Regal an der längsten Wand zu, griff nach einem großen Glas Tafelschnaps und beschriftete den Deckel. Anschließend ließ er das Glas in eine Transportbox gleiten und schüttete Sägespäne an alle vier Seiten.
Als Nächstes stand die O’Malley-Familie auf der Liste. Wenn ihn nicht alles täuschte, würde die älteste Tochter bald heiraten. Thor überlegte, wie viel man für eine solche Gelegenheit an Spirituosen brauchte, und packte dementsprechend viel zusammen. Nachdem eine weitere Box gefüllt war, prüfte Thor seine Aufzeichnungen und aß derweil einen weiteren Bissen von Avas merkwürdig gewürztem Braten. Nicht dass es nicht lecker gewesen wäre. Nur eben ungewohnt.
Wieder machte er sich an die Arbeit und musste mehrmals hin- und herlaufen, um die letzten acht großen Gläser seines besten Brandes herüberzutragen. Der Edelbrand schmeckte in dieser Jahreszeit am besten, wenn er mit Eis serviert wurde. Gereift war er in alten Bourbon-Fässern, für deren Erwerb Jorgan den ganzen Weg nach Lexington gefahren war. Dieses Destillat erzielte bisher den höchsten Preis und obwohl die meisten Gläser bereits verkauft waren, kamen immer neue Anfragen herein. Thor musste wählerisch sein, entschied sich so für seine besten Käufer und nummerierte dementsprechend die Gläser. Dann schrieb er eine Notiz an Haakon und bat ihn, nicht weniger als einen Dollar pro Glas zu nehmen. Eine weitere Notiz war an Jorgan gerichtet, in der er ihn an die Beschaffung neuer Bourbon-Fässer erinnerte.
Mit diesen Gläsern wollte Thor besonders vorsichtig umgehen und wickelte jedes einzeln in Zeitungspapier ein, bevor er sie in den Boxen verstaute. Erst faltete er die Zeitung auseinander, stellte dann ein Glas auf den von Präsident Harrison herausgegebenen Druck und rollte anschließend das Glas fest ein.
Aus dem Augenwinkel bemerkte Thor plötzlich etwas Weißes und er sah auf. Gerade segelte die Eule auf einen der Giebelbalken zu und ließ sich darauf nieder. Oft hatten sich Jorgan und Haakon über das Geschrei des Vogels beschwert. Einmal hatte Thor seine Brüder gebeten, das Wort K-R-E-I-S-C-H-E-N zu beschreiben, und Haakon hatte geantwortet, dass es ein scharfer, schmerzvoller Ton war. Seitdem versuchte sich Thor solch eine Wahrnehmung vorzustellen, wann immer sein gefiederter Freund erschien.
Mondlicht fiel durch eine fehlende Latte weit oben in der Wand. Diese Lücke erlaubte es der Eule zu kommen und zu gehen, wann immer es ihr beliebte. Thor bekam nicht immer mit, ob die Eule gerade da war oder nicht. Die Scheune war einfach zu riesig dafür. Als seine Brüder und er noch Kinder gewesen waren, waren sie mit einer Seilschaukel in der Mitte der Scheune so weit und hoch geschwungen, wie sie nur konnten, während Pa gearbeitet hatte.
Wieder wandte Thor sich seinem Abendessen zu. Er brach ein Stück Brot ab und kaute, während er abermals seine Aufzeichnungen durchsah. Nach einem weiteren Bissen war er froh darüber, dass Ava ihn nicht dabei beobachten konnte, wie er diese riesigen Mengen an Essen in sich hineinschlang. Aber vielleicht hatte sie auch nicht vorgehabt, ihn die Nacht über hungern zu lassen. Vermutlich war sie einfach daran gewöhnt, das zur Verfügung stehende Essen zu rationieren. Ihrem mit einer Sicherheitsnadel zusammengehaltenen Rockbund nach hatte sie gelernt, mit dem wenigsten auszukommen.
Nachdem Thor seine Hosenträger heruntergelassen hatte, griff er nach einer leeren Transportbox und stellte sie auf die Werkbank. Dann füllte er sie mit Tafelwein. Dieses Destillat war weniger intensiv und auch der Alkoholgehalt hielt sich im Gegensatz zu dem teuren Edelbrand in Grenzen, dafür schmeckte es eigentlich jedem. Darüber hinaus war diese Sorte sein günstigstes Destillat, weshalb selbst seine armen Kunden monatlich ein oder zwei Gläser bezahlen konnten. Während Thor die Gläser durchzählte, berührte er den Metalldeckel jedes Glases mit dem Finger. Wenn er sich nicht verzählt hatte, würde er für die nächste Auslieferung achtzig große Gläser zusammenpacken müssen.
Dreimal im Monat lieferten sie aus und um diese Tage herum war ihm immer mulmig zumute. Schnell konnte es passieren, dass sich der Hitzkopf Haakon bei seinen Fahrten Ärger einfing. Das war einer der Gründe für Thors regelmäßige Kontrollritte. Und definitiv einfacher, als Haakon in seiner Position zu ersetzen. Sein Bruder war ein gerissener Händler, der ihnen mit seiner pfiffigen Art zu handeln die Geldbeutel mit Scheinen füllte. Und darüber würde er sich sicherlich nicht beschweren.
Thor griff nach sechs weiteren Gläsern, um die Box zu füllen, und bedeckte den Inhalt wie immer mit Sägespänen. Mit einem Blick auf seine Liste markierte er die Kiste mit der Nummer des Empfängers. Gerade wollte er eine weitere Kiste auf die Werkbank heben, als die Tür aufflog.
Haakon kam hereingerauscht: „Wir haben Ärger!“ Grete trottete neben ihm herein und brachte Haakon beinahe zum Stolpern. „Mach, dass du hier herauskommst. Beeil dich!“, rief er Thor zu.
Dieser tat, wie ihm geheißen war, und folgte schnell seinem Bruder. Zu gerne wäre er in der Lage gewesen, ihm hinterherzurufen und nach dem Grund der Aufregung zu fragen.
Kaum hatte Thor die Küche betreten, erblickte er Idas Schwester. Zwischen ihren Rockfalten stand die kleine Georgie und klammerte sich an die Frau. Sofort wusste Thor, was los war.
Coras schlichtes Kleid war schmutzig, als wäre sie auf ihrem Weg hierher in Eile gewesen. Ihre Haut war einen Ton heller als die von Ida und auf ihrer Wange prangte ein übler Schnitt. Am Fenster standen Coras erwachsene Kinder, denen es nicht besser zu gehen schien. Tess untersuchte eine Wunde an dem Hals ihres Bruders Al, dessen Hemd vor Schweiß triefte.
Also waren sie wohl gewarnt worden. Dass die Gefahr echt war, wurde durch Haakons Verhalten bestätigt, der Grete in das Haus zerrte und sie in Sicherheit brachte.
Als Thor sich umwandte, bekam er gerade noch rechtzeitig mit, wie sein Bruder fragte, wie weit die Klan-Mitglieder entfernt seien.
„Fast hier“, antwortete Al, während er nach Luft schnappte. „Sie saßen uns direkt im Nacken. Mindestens ein Dutzend von ihnen. Ich hätte nicht gedacht, dass wir es noch schaffen.“
„Haben sie euch was angetan?“, wollte Jorgan wissen.
Thor sah zwischen den beiden Männern hin und her.
Al schüttelte den Kopf, aber sein Kiefer verhärtete sich. Nicht einmal ein Jahr war es her, dass Al mit einer Pistole einen über den Schädel gekriegt hatte. Und alles nur, weil er einem der weißen Sorrel-Mädchen beim Vorbeigehen auf der Straße zugelächelt hatte. Erst Stunden später hatte man ihn halb tot im Graben gefunden. Jorgan und Thor hatten ihn nach Hause getragen. Drei Tage hatten die Frauen gebraucht, um Al von der Schwelle des Todes zu holen.
„Hast du die Brennerei abgeschlossen?“, fragte Jorgan und Thor nickte.
Dann wandte er sich zur Tür und blickte nach draußen in die Dunkelheit. A-V-A? Wo?
Jorgan schüttelte den Kopf.
Haakon legte zwei Schrotflinten auf den Küchentisch. Er schob Avas begonnene Flickarbeiten zur Seite und stellte einige Munitionskisten daneben. Obwohl Thor es nicht gesehen hatte, musste Haakon nach Ida gefragt haben, denn Al antwortete:
„Sie ist Wasser holen. Ich werde ihr helfen.“ Dann verschwand er nach draußen.
Thor ging in den Großen Raum, weil er Ava dort vermutete, doch der Raum war leer. Zurück in der Küche schlug er Jorgan auf den Arm, um dessen Aufmerksamkeit zu erlangen. Er deutete auf die anderen Anwesenden. Sie A-V-A gesehen?
Jorgan gab die Frage an die anderen weiter. Cora schüttelte den Kopf und fragte, wer diese Person sei. Mit einer Hand fuhr Thor sich über das Gesicht, während er nach draußen eilte. Unter dem Nachthimmel liefen Al und Ida an ihm vorbei. Schnell kam Thor ihnen zu Hilfe, nahm den schweren Eimer und trug ihn ins Haus.
Wo war Ava?
Zu seiner Erleichterung sah er Haakon die Treppe hinauflaufen, als hätte er soeben denselben Gedanken gehabt. Ava musste in ihrem Zimmer sein. Sie musste einfach.
Ida zupfte an seinem Ärmel und Thor beobachtete ihre sich schnell bewegenden Lippen. „Sie ist spazieren gegangen. Du musst nachsehen, ob sie wieder sicher nach Hause gekommen ist.“
Nickend lief er Haakon nach, doch sein Bruder kehrte bereits zurück. Kopfschüttelnd kam er ihm entgegen. „Sie ist nicht hier!“
Beide wandten sich in Richtung der geöffneten Tür. Als Haakon als Erster dort eintraf, packte Thor ihn am Hemd und riss ihn zurück. Mit weit geöffneten Augen starrte sein Bruder ihn an und Thor gestikulierte bleib. Er wollte ihm schließlich nichts tun, sondern nur dafür sorgen, dass Haakon im Haus blieb. Der Junge war viel zu impulsiv und mit ihm in der Unterzahl würde ein Zusammentreffen mit den Angreifern nicht gut enden. Auch Jorgan griff nach Haakons Unterarm und hielt ihn zurück.
Dann deutete Jorgan zur Tür hinaus und buchstabierte D-O-R-O-T-H-E-E, gefolgt von der Form von Schachteln – genug, um Thor zu sagen, wo er als Erstes suchen sollte.
Er zeigte auf die Schrotflinten und Al warf ihm eine zu. Als Thor in die Dunkelheit hinaustrat, ließ er die Waffe aufklappen und überprüfte die Patronen. Energisch ließ er sie wieder zuschnappen. Er musste Ava finden. Jetzt. Eine Armee von Männern war auf dem Weg hierher und obwohl sich ihre Wut nicht gegen Ava richtete, wäre sie für diese Männer ein Stück Himmel auf Erden. Und das machte Thor am meisten Angst.