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Sechs

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Immer würde Ava sich an den Moment erinnern, als sie von dem Tod ihres Mannes erfahren hatte. Sie war abends ausgegangen, um Fisch zu kaufen. Als sie in die gemeinsame Wohnung zurückkehrte, ließ sich die Tür nicht öffnen. Es brauchte die Hilfe ihres Vermieters und den Einsatz seiner Werkzeugkiste, bevor sich das Schloss knacken ließ. Anschließend betrat Ava eine Welt, die niemals dieselbe sein würde.

Ein stechender Schmerz fuhr ihr durch die Brust und Ava wachte keuchend auf.

Der Morgen war bereits hereingebrochen und die Sonne ließ ihre goldenen Strahlen in den Raum fallen. Neben Ava lag Thor auf dem Bauch, aber ohne Kissen. Er hatte ein Bein angewinkelt und einer seiner Arme lag vor seinem Gesicht, als wolle er damit den Tag von sich fernhalten. Dem stetig auf und ab sinkenden Rücken nach schlief er tief und fest. Hatte er wirklich die ganze letzte Nacht direkt neben ihr geschlafen? Seine Anwesenheit bestätigte das. Sollte Ava auf der Farm bleiben, dann würde sie lernen müssen, diese Männer als ihre Brüder zu sehen. Wieder ließ sie ihren Blick zu Thor wandern.

Leichter gesagt als getan.

Ava stand auf und ging behutsam in die Küche. Den Tisch hatte man bereits wieder aufgestellt, aber die Scherben einer zersprungenen Vase lagen noch auf dem Boden. Die Luft roch nach verbranntem Holz und ein Blick aus dem Fenster zeigte, dass das Holzlager nicht mehr in Flammen stand. Rauchschwaden zogen von den verkohlten Holzbrettern in den Himmel und verpufften.

Noch war alles still im Haus, darum nahm Ava den weichen Besen und fegte die Scherben zusammen. Nachdem sie die Besenschaufel gefüllt hatte und weil Jorgan darum gebeten hatte, im Haus zu bleiben, holte Ava sich einen Eimer aus der Vorratskammer und füllte die Scherben dort hinein. Gehörte diese Art von Aufstand zum Alltag in dieser Gegend? Nicht zum ersten Mal war sie Zeuge von Auseinandersetzungen gewesen, aber noch nie hatte sie solch ein Ausmaß an Hass erlebt. Wie Soldaten waren diese Männer gewesen. Als ob sie in den Blackbird Mountains Patrouille gehen würden. Irgendwo in unbestimmter Ferne wachten Frauen neben ebendiesen Männern auf, die noch in der Nacht als verhüllte Gestalten hier auf dem Hof unter dem abnehmenden Mond gestanden hatten.

Ava stellte den Eimer zur Seite und eilte ans Fenster. In ihrem Herzen herrschte Krieg. Wie gerne würde sie zu dem Moment in der Hütte zurückkehren und Thor anders behandeln. Doch dieser Wunsch würde nie in Erfüllung gehen, weil die Zeit nicht zurückgedreht und die Taten nicht zurückgenommen werden konnten. Allein die Gnade eines neuen Tages blieb. Und so, wie Cora und Ida eine bessere Welt für sich und ihre Familie verdienten, so wünschten sich diese Frauen sicher auch eine bessere Welt für Thor und seine Art, die ihn von den anderen unterschied. Eine Welt, in der er als Mensch genauso akzeptiert werden würde wie sie.

Bei dem Klang von ungleichmäßigen Schritten drehte Ava sich um und sah Ida die Küche betreten. Kurz darauf band sie sich eine Schürze um. Die gute Frau warf Ava ein müdes Lächeln zu, bevor sie aus der Vorratskammer einige Kartoffeln aus dem Eimer fischte. Ava hängte den Besen und die Schaufel an ihren Ort. Kurz darauf kam Cora in die Küche und schob leise summend eine große Pfanne auf den Herd. Zuletzt schloss Tess sich ihnen in der Küche an und hob Teller aus dem Wandregal. Der Raum war erfüllt von dem sanften Rhythmus aus Zuneigung und Freundlichkeit.

Jede Frau arbeitete im Stillen für sich, als wären ein paar Minuten Stille genau das, was das Haus an diesem Morgen nötig hatte. Ein Haus, das sich für Ava immer mehr wie ein Zuhause anfühlte. Dieses angenehme Gefühl wurde jäh gedämpft, als Avas Blick auf den Boden fiel, auf dem getrocknete Blutstropfen das Dilemma des letzten Abends offenbarten. Auf der Suche nach einem Lappen sah Ava sich um.

Ida hielt sie auf. „Der Boden ist das Letzte, um das wir uns in diesem Moment kümmern müssen. Lass uns lieber eine Salbe für Thors Arm anrühren“, wies ihre freundliche Stimme Ava auf die wichtigen Dinge des Morgens hin. Sie goss dampfendes Wasser aus dem Kessel über dem Feuer in eine Schüssel und gab etwas Salz hinzu, das das Wasser trübte. „Wir verlieren besser keine Zeit.“

„Soll ich ihn holen gehen?“, bot Ava sich an.

„Bitte“, nickte Ida.

Mit einem nervösen Seufzen lief Ava in den Großen Raum hinüber. Thors Schlafplatz war leer. Stattdessen stand er vor den Fenstern und starrte hinauf zu der zerbrochenen Fensterscheibe, als würde ihm die Kraft für irgendetwas anderes fehlen. Mit einer Hand fuhr er sich über den dichten Bart in langsamen, bedächtigen Zügen. Als Ava näher trat, fiel sein Blick in ihre Richtung. Sein schwarzes Haar war so zerzaust wie immer und er warf es sich über die Schulter zurück. Getrocknetes Blut färbte den Verband oberhalb des Ellbogens dunkelrot.

Es fühlte sich komisch an, darauf zu vertrauen, dass er sie verstehen konnte, doch Ava sprach trotzdem: „Ida will sich deinen Arm ansehen. Es tut mir wirklich leid, dass ich das getan habe.“

Während sein Blick auf ihren Lippen lag, leckte er sich über die eigenen. Er legte seine flachen Hände übereinander und ließ die rechte über die linke kreisen, während er gleichzeitig mit dem Kopf schüttelte.

War das eines seiner Wörter? „Ich … Ich fürchte, ich verstehe nicht.“

Thor klopfte sich auf die leere Hemdtasche, dann griff er in die Schublade des nebenstehenden Schreibtisches und holte einen kleinen Notizblock und den Stumpf eines Bleistiftes heraus. Die Hand, mit der er schrieb, zitterte. Ava versuchte nicht an den Grund dafür zu denken, während er ihr das Geschriebene reichte.

Nicht entschuldigen.

Ava fuhr mit den Fingerspitzen über die kantigen Buchstaben. Dann sah sie hinauf in sein Gesicht. „Das war dir gegenüber nicht gerecht.“

Seine Stirn legte sich in Falten, als würde er sie nicht verstehen. Er zog ihr den Notizblock aus der Hand und begann einen neuen Text. Der Block versank in seiner riesigen Hand, als er ihn ihr zeigte. Hatte noch nie so würdigen Gegner.

Mit geschürzten Lippen warf sie ihm einen schrägen Blick zu. Thor lächelte. Während er den Block und den Stift in seine Brusttasche gleiten ließ, zitterte seine Hand noch stärker als zuvor. Das hinterließ keinen Zweifel daran, dass er sich nach etwas deutlich Stärkerem sehnte als nach dem Kaffee, der auf dem Herd gebraut wurde. Der Duft danach füllte die Luft und Ava fragte, ob sie ihm eine Tasse füllen sollte. Thor nickte, obwohl er mit seinen Gedanken ganz woanders war. Er berührte seine mit getrocknetem Blut verzierte Armbinde, dann hob er ihr Handgelenk an. Mit der anderen Hand schob er ihren Ärmel zurück. Ihre entblößte Haut war ebenfalls mit rostroten Schrammen übersäht.

Unter seinem Daumen pochte Avas Puls, doch Ava hatte das Gefühl, dass diese Art von Berührung normal für ihn war. Sorgsam achtete sie darauf, nicht zurückzuzucken. Stattdessen studierte sie sein Gesicht. War es das, worauf Ida gestern Abend angespielt hatte?

Mit zusammengezogenen Brauen machte Thor eine schrubbende Bewegung, als ob er sie darum bitten wolle, das Blut von ihrer Haut abzuwaschen. Sein Blick flehte sie an. Betroffen von seiner Sorge um sie nickte Ava. „Ja“, sagte sie mit schwacher Stimme und räusperte sich. Doch schon beim nächsten Wort fiel ihr ein, dass er sie so oder so verstanden hätte. „Aber zuerst kümmern wir uns um deinen Arm.“


Am Tisch sitzend beobachtete Thor, wie Cora den blutigen Verband löste und abnahm. Auf Idas Bitte hin knöpfte er sich das Hemd auf und saß still, während sie vorsichtig an dem verkrusteten Ärmel zupfte. Thor biss die Zähne zusammen. Er schwor sich, keinen Laut von sich zu geben.

Ida streifte den Ärmel von seiner Schulter und schob ihn hinunter, sodass der Arm frei lag. Derweil weichte ihre Schwester ein Tuch ein, wrang es aus und presste es auf die Wunde. Die Wärme tat gut, aber irgendetwas brannte. Salz?

Eine Dampfwolke stieg aus dem Kessel auf und Cora erhob sich rasch. Nachdem sie Ava herangewunken hatte, drückte sie ihr das Tuch in die Hand und eilte an die Feuerstelle. Ava tat, wie ihr geheißen, und übte mit ihrer kleinen Hand sanften Druck auf das Tuch an Thors Oberarm aus. Ihre hellbraunen Augen wanderten über sein Gesicht. Thor senkte den Kopf und sah nicht mehr auf, bis Cora ihm das Knie tätschelte.

„Ich muss mir das genauer ansehen“, sagte sie, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. Thor wagte einen Blick in Avas Richtung, die sich zurückgezogen hatte. Die junge Frau sah aus, als würde sie gleich zu weinen anfangen. Es rumorte in seiner Brust. Zum einen wollte er ihr versichern, dass alles in Ordnung war, zum anderen spürte er Freude in sich aufsteigen. Freude darüber, dass er ihr offensichtlich nicht egal war und sie sich um sein Wohlergehen sorgte. Ein warmes Gefühl. Eines, an das er sich gewöhnen könnte.

Thor zuckte zusammen, als sich eine stechende Flüssigkeit auf seinen Arm ergoss. Cora hatte Brandy darübergeschüttet. Er drang tief in die Wunde ein und brannte. Thor musste sich festklammern, um nicht vom Stuhl zu sinken. Ein Stöhnen musste sich in seiner Kehle gelöst haben, denn mit einem Mal sah ihn jeder an.

Mit zitterndem Kinn presste Ava eine Hand auf ihren Mund.

Der Schmerz betäubte das wohlige Gefühl über ihre Anwesenheit. Thor hasste es.

Neben der Tür stand Haakon und als Thor einen Blick in seine Richtung warf, machte er die Geste für trinken. Kopfschüttelnd verneinte Thor. Er wollte nichts. Doch weder er noch sonst irgendjemand in diesem Raum konnte sein starkes Zittern leugnen. Thor spannte seine Muskeln in dem Versuch an, das Zittern zu unterdrücken, das das Verlangen nach Alkohol in ihm hervorrief. Ava durchschritt den Raum. Sie trat näher, als Cora die Wunde säuberte, und zuckte zurück, als Thor die Luft scharf durch die Zähne einsog. Einen Moment lang glaubte er, dass sie gleich ohnmächtig werden würde. Als Haakon sie in Richtung eines Stuhls schob, setzte sie sich hin.

Diese Frau konnte also hören.

Cora tippte ihn an. Mit zusammengelegten Fingerspitzen machte sie eine nähende Bewegung. Erneut verneinte Thor kopfschüttelnd. Er wollte wirklich nicht, dass irgendein Teil von ihm genäht wurde. Cora wandte sich zu Ava um und sprach. Die rothaarige Frau verließ den Raum und kehrte kurze Zeit später mit dem Nähkorb zurück. Ihr Gesicht war aschfahl.

Thor erhob sich und warf dabei seinen Stuhl um.

Jorgan trat auf ihn zu und hielt ihn an der Schulter zurück. Thor schüttelte seine Hand ab. Doch plötzlich war Ava an seiner Seite. Sie senkte den Kopf und schielte zu ihm hinauf. Mit ihrem Blick flehte sie ihn an, zuzusehen. Dann legte sie ihre flachen Hände übereinander und ließ die rechte über die linke kreisen. Genau so, wie er es getan hatte. Entschuldigung. Thor zweifelte eigentlich jedes Mal an der Aufrichtigkeit einer Entschuldigung, wann immer dieses Wort gebraucht wurde. Er hatte viele Menschen beobachtet, die sorglos damit um sich geworfen hatten. Aber in seiner Sprache war es anders. Weil Avas Augen tränengefüllt waren, während sie in einem Raum voller fremder Menschen stand und eine Geste benutzte, die sie erst vor wenigen Minuten bei ihm gesehen hatte – diese Entschuldigung war so ehrlich und so wirksam, dass Thor rot anlief.

Alle Anstrengung wich aus seinem Körper und Jorgan drückte ihn zurück auf den Stuhl. Den Blick immer noch auf Ava gerichtet, merkte Thor kaum, wie Cora einen Faden abrollte und ihn gemeinsam mit der Nadel abkochte. Jorgan schob die Flasche mit Brandy näher. Angestrengt versuchte Thor sie zu ignorieren. Doch diese Flasche zu ignorieren fiel ihm genauso schwer, wie nicht daran zu denken, dass Ava im Raum war.

Derweil fischte Cora am Herd die Nadel und den Faden aus dem heißen Wasser und schüttelte ihre verbrühten Finger. Thor ignorierte die restlichen Vorbereitungen und starrte stattdessen auf den Tisch. Als Cora mit erhobener Nadel seinen Arm zusammendrückte, schluckte Thor schwer. Der erste Stich war genauso schlimm wie die folgenden, die Thor nur aus einem Grund zählte – um sitzen zu bleiben. Beim sechsten Stich teilte die Vibration in seinem Hals ihm mit, dass er Laute von sich gab. Ava wischte sich eine Träne fort.

Endlich knotete Cora den Faden und schnitt den Rest ab. Nun sah Thor hinab auf ihre Arbeit und damit auf seine rote pochende Haut. Er stieß langsam den angehaltenen Atem aus. Derweil wies Cora Ida und ihn an, wie sie in den nächsten Tagen die Wunde behandeln sollten.

„Ich komme wieder, um nach dir zu sehen“, versprach Cora. Thor berührte seine Lippen, um ihr zu danken. Dann sprach sie zu seiner Überraschung Ava an und bat sie, ihr hinaus auf den Hof zu folgen.


Thors Stöhnen klang Ava immer noch in den Ohren, während sie neben Cora an der Pumpe stand und dabei zusah, wie die Frau den Hebel bediente. Wasser platschte zu Boden und Cora wusch sich ihre Hände unter dem Strahl. Sie sagte kein Wort. Sie achtete nur sorgfältig auf die Linien und Falten in ihrer Haut, damit auch der letzte Rest des Blutes abgewaschen wurde. Nachdem sie fertig war, ließ auch Ava Wasser über ihre Haut laufen und schrubbte wild.

Cora beobachtete sie. Ihre Haut war so glänzend wie die Kastanien, die Ida in der Vorratskammer aufbewahrte. „Welchen Schmerz du auch mit dir herumträgst, Kind, durch kein Schrubben der Welt wirst du ihn abwaschen oder ungeschehen machen können.“

Avas Bewegungen wurden langsamer, dennoch konnte sie ihren Blick nicht heben und Cora ansehen, die sich ihre Hände an ihrem Rock trocknete.

„Irgendwas ist los mit dir und jetzt is’ es an der Zeit, mal drüber zu reden. Es sei denn, ich hab alles falsch verstanden, auch was Thors Wunde angeht.“

Mit gesenktem Kopf schüttelte Ava sich die nassen Hände. „Ich weiß nicht, was ich tun soll“, flüsterte sie schließlich.

Die Berührung von Coras Hand war kühl. Sanft hob sie Avas Kinn an. „Sei nicht so hart zu dir selbst. ’n Mädchen lernt schnell, für sich zu sorgen, wenn’s auf sich gestellt is’. Und ich glaub’, dass du schon viel gesehen hast. Der Herr weiß, wie weit du von zu Hause fort bist.“ In mütterlicher Fürsorge berührte sie Avas Schulter. So sicher und sanft, dass Avas Kehle sich erneut zusammenzog. „Thor hat dich letzte Nacht zu Tode erschreckt! Dafür musst du dich nicht schämen“, sagte sie.

Ava löste die Schlaufe an ihrer Schürze und zog sie ab.

„Und wenn du dir um Thor Sorgen machst: Lass es sein! Der Kerl hat schon Schlimmeres durchgestanden.“ Sie lächelte leicht. „Er ist schon wieder auf den Beinen.“

Ava nickte und versuchte sich an diesem Gedanken festzuhalten, aber ihr ging es um mehr als nur um seine körperlichen Wunden. Um etwas tiefer Liegendes. „Ich habe ihn selbst infrage gestellt. Seine Identität. Ich habe ihm Absichten unterstellt, die nicht der Wahrheit entsprachen. Er hatte getrunken und … Und er war so energisch, dass ich … Ich dachte …“ Sie stockte.

Cora zog Ava zu sich heran und hielt sie fest in ihren Armen. Diese Erfahrung war neu für Ava, denn noch nie zuvor hatte jemand sie so im Arm gehalten. Überwältigt von ihren Emotionen begann sie zu weinen. Mit ihrer Schürze trocknete sie sich die Tränen.

„Er ist ’n guter Mann“, sagte Cora sanft. „Aber du hast auch gesehen, dass er ’n gebrochener Mann is’. Einer, der sich mit dem aufrechtzuhalten versucht, was ihn in die Knie zwingt. Derselben Sache, die bereits seinen Papa ins Grab gebracht hat. Hat uns tief getroffen, dass er nich’ mehr da is’. Als Jarle Norgaard seine Frau verlor, wusste er nichts mehr mit seinem leeren Herzen anzufangen. Und Thor …“ Langsam schüttelte Cora den Kopf. „Auch er geht diesen Weg. Er weiß, was in der Guten Botschaft steht, weil er dieses Buch liest. Er weiß, dass er sein Vertrauen in nichts anderes als in Gott legen soll.“

Die Pumpe tropfte langsam und stetig und erinnerte damit an Coras Worte.

„Aber das muss der Mann selber wollen. Niemand wird ihm die Entscheidung abnehmen können.“ Trauer zog sich über Coras Gesicht, als sie sagte: „Es ist ’ne Schande, was Thor sich selbst antut. Aber wenn du mich fragst“ – ein Hoffnungsschimmer leuchtete in ihren Augen auf und spielte um ihre Mundwinkel –, „steckt noch ’n bisschen Überlebenswille in ihm. Noch is’ es nicht zu spät. Er muss seinem Papa nicht ins Grab folgen.“

An diese Worten klammerte sich Ava. „Du glaubst also, dass noch Hoffnung für ihn besteht?“

„Ja, Kind. Aber dafür braucht er uns. Er braucht Menschen um sich. Oft scheint’s nicht so, weil er sie wegstößt. Aber das tut er nur, weil die meisten ihm nicht zuhör’n.“

Also gab Thor doch auf. Warum sollte er auch nicht? Wenn alle Menschen ihn so behandelten, wie sie ihn behandelt hatte …? Ihn als Schuft bezeichneten, während er nur versuchte, einen Ausgleich für seine Stimme zu finden, die ihm eh nie gehorchen würde. Ava verschränkte ihre Finger ineinander, sah zum Haus hinüber und dann wieder zu Cora. „Bitte sag mir, was ich tun kann“, bat sie.

„Schau ihn an.“ Cora schützte ihre Augen vor der aufsteigenden Sonne und trat einen Schritt näher. „Schau in sein Gesicht, in seine Augen. Sieh ihn. Sieh ihn und sei geduldig. Du wirst es nie bereuen.“ Sie drückte Avas Hand zwischen den eigenen kühlen Händen. „Nimm dir nur zehn Minuten Zeit, um Thor Norgaard kennenzulernen, und du wirst vergessen, dass er stumm is’. Du wirst Dinge lernen und hören, die andere Menschen nicht einmal auszusprechen wissen.“

Mein Herz hört deine Worte

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