Читать книгу Mein Herz hört deine Worte - Joanne Bischof - Страница 13

Sieben

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Thor lehnte sich über den Rand des Wagens und zählte die leeren Eimer, die er aufgeladen hatte. Jeder von ihnen fasste drei Gallonen und er würde heute mindestens achtzig Gallonen Beeren brauchen. Die Früchte an den Büschen nahe des Teiches standen in voller Reife und da sich sein Brombeerschnaps bisher gut verkauft hatte, sollte er die Beeren bald zu Geld machen.

Thor holte aus dem nördlichen Ende der Brennerei eine weitere Ladung Eimer hervor und verstaute sie auf dem Wagen. Ein Teil der 327 Hektar großen Norgaard-Farm gehörte rechtmäßig der Familie Sorrel. Mit dem Preis von $ 3,25 pro Hektar kein geringer Preis. Nach Pas Tod waren Thor und seine Brüder nachlässig geworden. Mehrere Hundert Dollar schuldeten sie ihrem Nachbar bereits – nicht zu vergessen die acht Dollar Zinsen pro Monat – und es war langsam an der Zeit, diesen Betrag auszuzahlen.

Da Jorgan nächsten Monat heiraten würde, wusste Thor, dass seine Brüder ihm zustimmten.

Noch immer hatten sie die westliche Hütte nicht fertiggestellt. Und dann hatte Haakon auch noch vor einem Jahr den Hühnerstall in die Luft gejagt und Jorgan hatte ihn unbedingt durch einen neuen ersetzen müssen. Dadurch hatten sie jetzt eine größere Rechnung beim Kaufmann als geplant. Es war höchste Zeit, dass seine Brüder etwas Verantwortung lernten. Beginnend mit der Arbeit auf dem Beerenfeld.

Aus Furcht, er würde vergessen, die Brennerei abzuschließen, schob Thor die schweren Türen zu, schob den Riegel vor und verschloss sie. Das schwere Eisenschloss wurde mit einem Schlüssel verschlossen, zu dem nur Jorgan und er Zugriff hatten.

Thor hob den nächsten Stapel Eimer über die Seitenwand des Wagens und fuhr dann mit dem Daumen an den Rändern entlang, um sie zu zählen. Sechsunddreißig. Siebenunddreißig. Achtund…

Eine Berührung an seinem Ellbogen ließ ihn aufschrecken. Thor riss seinen Arm fort und drehte sich um. Ava stand neben ihm.

Sie riss die Augen auf und trat einen Schritt zurück. „Oh Schreck. Es tut mir so leid“, sagte sie.

Obwohl ihm sein Herz bis zum Hals schlug, schüttelte Thor den Kopf. Er hasste es, wenn jemand das machte. Dachten die Leute wirklich, er würde sie kommen hören? Ava schluckte schwer und Thor stieß seinen Atem aus. Als sein Puls sich verlangsamte, nickte er kurz, um Ava zu zeigen, dass alles in Ordnung war.

Jorgan hatte ihm erzählt, dass ihr Mann ein Trinker gewesen war. Genauso wie er selbst. Fürchtete sie sich deshalb so vor ihm? Thor wusste nicht viel über Ava. Und noch weniger von Benn. Aber dass sein verstorbener Cousin dieses Laster mit sich trug, ließ widersprüchliche Gefühle in Thor aufsteigen. Zunächst hatte Ärger sich in ihm breitgemacht, dass ein Mann sich sogar im Rahmen einer Ehe von seiner Sucht bestimmen ließ. Einem Versprechen, bei dem sich die Frau dazu entschied, sich ihrem Mann in allem anzuhängen und ihn zu achten. Und in dem der Mann seiner Frau Liebe, Schutz und Sicherheit zusicherte. Anschließend überkam ihn eine Welle des Mitgefühls, weil Thor genau wusste, was für ein Kampf das war – die Anziehungskraft der Flasche in jeder Sekunde an jedem einzelnen Tag.

Wer war er, dass er darüber urteilen könnte? Wäre er nicht genauso als Ehemann?

Noch immer blickte Ava ihn unsicher an. In seiner Nähe verhielt sie sich immer besonders vorsichtig, oder? Wie er sich gerade benahm, half ihrer Unsicherheit auch nicht weiter. Thor fasste in den Wagen und zog ein Klemmbrett hervor, an das einige Blätter geheftet waren. Nachdem er die oberste Liste abgelöst hatte, drehte er das Papier um und schrieb ein paar Worte nieder.

Das Brett mit dem Papier reichte er an Ava.

Ich gebe viele Gründe, dass du entschuldigst.

War das ein Lächeln? Sichtlich entspannter blickte Ava von ihm zu dem Wagen. Dann legte sie die Hand auf den Rand und spähte hinein. Als sie die vielen Eimer erblickte, hob sie ihre Augenbrauen, sagte jedoch kein Wort. Eine winzige Kette hing um ihren Hals. So zierlich, dass man sie leicht übersehen konnte. Außerdem duftete sie nach frisch gebackenem Brot, so wie Ma früher. Obwohl Ida oft backte, hatte Thor diesen Geruch nicht mehr gerochen, seit er ein kleiner Junge war. Kardamom. Die Zutat eines norwegischen Rezeptes, das Ida nie gemacht hatte, weil sie es nicht kannte. Bis jetzt hatte Thor nicht gewusst, wie sehr er den Duft nach Mas Brot vermisste.

Ava lächelte ihm zu und er schluckte schwer. Dann sah er sich um. Sie waren allein. Eine seltene Gelegenheit … vor allem mit einer Frau. Was taten Männer normalerweise in einer solchen Situation? Thor dachte nach und langsam dämmerte es ihm – sie unterhielten sich.

Er versuchte es, indem er einen neuen Satz aufschrieb, doch in diesem Moment drehte sich Avas Kopf nach links. Auch Thor blickte in diese Richtung und sah Haakon die Stufen der Veranda herunterkommen. Er sagte etwas zu Ava und diese wandte sich ab, um ihm zu antworten. Die Welt versank wieder in einsamer Stille. Thor strich den Satz durch und legte Brett und Stift zurück in den Wagen. Als er wieder zu Ava blickte, beobachtete sie ihn erneut. In ihrem Blick lag Bedauern. Weil er das Papier zur Seite gelegt hatte? Bestimmt nicht. Sie konnte sich ja mit Haakon unterhalten.

Thor lief um den Wagen herum und überprüfte, ob die Ladeklappe verschlossen war. Haakon sprang auf den Wagen, während Ava einen Schritt zurückmachte. Bestimmt hatte sie einiges mit Ida zu erledigen. Ava schirmte ihre Augen mit der Hand vor der Sonne ab, um ihnen zuzusehen. Thor war sich nicht sicher, aber ihm schien es, als würde sie gerne einmal vom Haus wegkommen. Noch hatte sie nicht besonders viel von der Gegend gesehen und seine Brüder und er würden jede Hilfe gebrauchen können.

Er gestikulierte seine Idee Haakon zu und war sich in diesem Moment mehr denn je bewusst, dass Ava ihn beobachtete. Kopfschüttelnd gestikulierte Haakon zurück, dass sie anschließend schwimmen gehen würden.

Na und? Sie könnten ja auf anständige Art schwimmen gehen.

Als Thor seinem Bruder das mitteilte, schüttelte dieser wieder mit dem Kopf.

Avas Mund bewegte sich mit einer Frage: „Worüber sprecht ihr?“

Thor nickte seinem Bruder zu.

Seufzend drehte Haakon sich zu ihr um. „Er will wissen, ob du heute mit uns Brombeeren pflücken möchtest.“ Er sah zu Thor hinüber, als hätte dieser seinen Verstand verloren.

Thor ignorierte das und lenkte seine Aufmerksamkeit stattdessen zu Ava. Ein Lächeln brachte ihr Gesicht zum Leuchten und mit wild klopfendem Herzen wartete er auf ihre Antwort.

„Ich würde mich freuen.“

Thor nickte und als er mit seinem Blick von ihrem Mund hinauf zu ihren Augen wanderte, merkte er, dass sie nicht mit Haakon, sondern mit ihm gesprochen hatte.


Nachdem Ava auf der Sitzbank Platz genommen hatte, glättete sie den Rock ihres Trauerkleides. Neben ihr saß Haakon und lenkte schweigend den Wagen. Mit einer Hand hielt Ava den Strohhut fest, der einst Dorothee gehört hatte. Dankbar für die breite Krempe, die ihrer irischen Haut Schatten spendete, wandte Ava sich zu Thor und Jorgan um. Sie hatten es sich auf der Ladefläche des Wagens bequem gemacht und lehnten sich mit ausgetreckten Beinen und verschränkten Stiefeln an die Außenwand. Thor hatte einen Arm auf den Rand gelegt und schien sich mehr für das zu interessieren, was hinter ihnen lag, als für das Ziel ihrer Fahrt. Seine andere Hand ruhte auf dem Lauf einer Flinte, die neben ihm lag.

Im Osten stieg der Rauch eines entfernten Kochfeuers auf und aus dem Gestrüpp im Süden drang das laute Summen einer Schar von Bienen. Der Wagen holperte über die staubige Straße, dann fuhren sie durch einen seichten Bach. Bei der nächsten Biegung erhaschte Ava einen Blick auf einen glitzernden Teich mit einem kleinen Steg, der ins Wasser führte. Dahinter lagen weite Felder, deren vertrocknete Gräser still in der Hitze aufragten.

Die Hündin trottete neben dem Wagen her. Von Haakon wusste sie, dass sie Grete hieß. Obwohl sie auf der Farm jedem hinterherlief, schien Grete Haakon am liebsten zu mögen. Wenn er seinen Arbeiten nachging, schwänzelte sie ihm zwischen den Beinen herum, und ruhte er, dann lag auch Grete irgendwo in seiner Nähe herum.

Haakon brach das Schweigen und fragte Ava, ob sie wisse, wo sie gerade wären.

Lächelnd antwortete sie: „Irgendwo in Virginia.“

Haakon lachte. „Botetourt County. Nicht weit entfernt von Eagle Rock – einem der schönsten kleinen Orte in dieser Gegend. Jeden zweiten Freitag findet ein Schachturnier im alten Schulgebäude statt. Und du hast nur knapp das monatliche Quilt-Treffen verpasst.“ Er zwinkerte und nahm dann die Zügel in eine Hand. „Und natürlich bist du noch immer auf unserem Land. Nun ja, so gut wie unserem Land.“

„Wir sind noch immer auf der Plantage?“, fragte Ava. Immerhin waren sie bereits ein ganzes Stück gefahren.

„Ja. Umfasst gerade etwas über dreihundert Hektar. Ein Drittel der Fläche besteht aus den Plantagenbäumen. Im Osten stehen ein paar Hütten. Die meisten sind ziemlich heruntergekommen, aber im Westen der Farm gibt es ein paar Gebäude, die wir wieder herrichten. Eigentlich nur einen Steinwurf weit vom Haus entfernt. Irgendwann werden wir dir auch die zeigen.“

Nun deutete er in die entgegengesetzte Richtung. „Da drüben wohnt Cora mit ihrer Familie in einer kleinen Hütte. Ihr Mann hatte sie noch ziemlich schön ausgebaut, bevor er verstorben ist.“

Haakon zeigte in noch eine andere Richtung. „In dieser Richtung liegt die Sorrel-Farm. Die Männer, die in der einen Nacht da waren.“

Ava kniff die Augen zusammen, doch bevor sie die entfernten Wälder und Hügel in den Fokus nehmen konnte, deutete Haakon schon wieder in eine neue Richtung. „Wir haben noch andere Nachbarn, mit denen wir im Frieden leben. Hier und dort findest du ein paar Teiche. Ansonsten besteht das Land nur noch aus Feldern und Wäldern.“ Er lehnte sich etwas näher. „Pa hat früher immer erzählt, dass sich vor langer Zeit Thor einen erbitterten Kampf mit drei Giganten geliefert hat. Der Gott Thor, Odins Sohn, nicht mein Bruder. Obwohl ich mir das genauso gut vorstellen könnte.“

Ava lächelte.

„Im Laufe der Geschichte stellte sich heraus, dass die drei Giganten vorhatten, das Land und alles, was darauf wuchs und gedieh, zu zerstören.“ Er deutete nach Osten, seine Stimme klang angenehm in Avas Ohren. „Doch Thor kämpfte tapfer und als es zum letzten Kampf kam, schwang Thor seinen Hammer mit solcher Wucht, dass er nicht nur die Giganten besiegte, sondern auch dieses Tal dort formte.“

„Es ist ganz schön riesig“, meinte Ava.

„Oh ja. Als Kind wollte ich es einmal durchqueren. Dabei habe ich mich verlaufen und Pa hat mich erst zwei Tage später gefunden. Er hat mich heimgetragen und mich den Rest der Woche einen Brunnen in der Nähe des Flusses graben lassen. Hat gesagt, dass so ein Mann aussieht, der sich zum Narren macht.“

In seinen blauen Augen lag ein zärtlicher Ausdruck, der Ava sagte, dass die hart gelernte Lektion heute eine wertvolle Erinnerung war. Ava konnte sich den Vater genau vorstellen – bärtig und stolz, wie die starken Norweger eben waren –, der seine Jungs auf den Schoß nahm, um ihnen die alten Geschichten und Legenden zu erzählen, und sie durchs Leben führte, so gut er eben konnte.

„Und wie ist deine Familie in Virginia gelandet? Dorothee hatte einmal erwähnt, dass sie Norwegen in der Zeit der Hungersnot verließ. Eure Eltern auch?“

„Nein. Sie kamen irgendwann später, kurz bevor Jorgan geboren wurde. Zu dieser Zeit wohnte Dorothee noch in North Dakota und zog dann hierher, um bei ihnen zu leben. Hat sich um uns Kinder gekümmert und solche Dinge.“

„Scheint, als hätte sie alle Hände voll damit zu tun gehabt“, meinte Ava.

Haakon grinste.

Die Pferde trampelten bergab in ein dichtes Wäldchen. Vögel zwitscherten einander zu, während sie von Ast zu Ast flogen. Der Weg wurde immer schmaler und mit einem Befehl an die Pferde ließ Haakon den Wagen langsamer werden. Als die Räder schließlich stillstanden, hüpfte er vom Wagen und half Ava hinab.

„Danke“, sagte sie und richtete ihre Röcke.

Derweil lud Thor die Eimer aus. Seine Brüder eilten ihm zu Hilfe, doch bevor Ava auch nur nach einem Eimer greifen konnte, streckte Thor ihr einen entgegen.

„Fang an, wo du willst“, rief Haakon ihr zu und deutete auf die vielen dornigen Sträucher, die sich in jede Richtung erstreckten.

Ava zupfte eine Frucht von dem nächstbesten Busch. Sie war so warm und saftig, dass ihr der Saft herabtropfte. Die Versuchung war groß und Ava gab nach: Sofort war die Beere in ihrem Mund verschwunden. Himmel, war das gut. Die nächste Frucht ließ sich genauso gut vom Strauch lösen, doch diesmal legte sie die Beere in den Eimer. Auch die Brüder begannen nun mit dem Pflücken. Eine Handvoll nach der anderen sammelten sie in ihren Eimern. Noch nie hatte Ava Beeren in solcher Fülle und Reife gesehen.

Bereits nach wenigen Minuten war ihr Eimer bis zum Rand gefüllt. In der stickigen Hitze hob Ava den Saum ihres Kleides an und wedelte damit ihren bestrumpften Beinen Luft zu. Schweiß färbte den Stoff ihres Kleides an der Brust dunkel. Da auch die Männer längst ihre Ärmel zurückgeschoben und die Hemdkragen geöffnet hatten, knöpfte auch Ava sich ihren Kragen auf und wedelte sich Luft zu. Dankbar begrüßte sie die leichte Brise, die durch das Wäldchen fuhr.

Im Unterholz knackte es, als Thor näher kam. Er arbeitete schnell und effizient, seine langen Finger lösten die Beeren mit Leichtigkeit von den Ranken. Seine Augen waren ganz auf den Strauch vor ihm gerichtet und er atmete lauter als die anderen. Es sah so liebenswert aus, dass Ava lächeln musste.

Thor hob eine der dornigen Ranken an und löste eine Traube von Früchten ab. Er schien in vollkommenem Einklang mit seiner Arbeit zu sein. Diese Sicherheit und Zufriedenheit. Vielleicht lag es an der Art, wie er die Führung übernahm und seine Brüder ihm gehorchten. Die Männer arbeiteten so gewissenhaft und die Eimer füllten sich so schnell, dass Ava bald realisierte, dass es hierbei nicht um ein normales Brombeerpflücken ging. Zweifelslos würde Thor aus einem großen Teil der Beeren mehr kochen als nur Marmelade.

Während sie eine Handvoll Beeren auf den Berg von Früchten in ihrem Eimer fallen ließ, versuchte sie die Trauer zu ignorieren, die diese Vorstellung in ihr wachrüttelte. Sie hatte versprochen zu helfen und hier war sie nun. Dennoch überschattete der Gedanke an den Schnaps die Freude an dieser Aufgabe. Vor allem, als Erinnerungen an Benn in ihr wach wurden und sie an die Macht dachte, die eine Flasche solchen Inhalts über ihn gehabt hatte. Das daraus resultierende Leid hatte sich über ihr gemeinsames Leben gelegt.

Haakon kam mit zwei Eimern angelaufen und überreichte ihr den einen, der bis zur Hälfte gefüllt war. Da Ava in Gedanken noch immer bei ihrem Leben in Norwegen war, war es nicht verwunderlich, dass ihr Danke als „Tusen Takk“ herauskam.

Haakon sah sie an. „Bitte?“

Ava richtete sich auf und wischte sich mit dem Handrücken über die schweißnasse Stirn.

„Sprichst du kein Norwegisch?“, fragte sie.

„Nicht wirklich“, antwortete Haakon, während er um sie herumging. Als sich der Saum ihres Kleides in einem Dorn verhedderte, beugte er sich hinab, um ihn zu befreien. „Ich kann unsere Namen so norwegisch aussprechen, als wäre ich dort geboren worden.“ Er richtete sich auf. „Johrgahn“, sagte er statt des englischen Jorgin. „Dann gibt’s da noch den lauten und manchmal etwas tollpatschigen Tohr.“ Dabei rollte er das R. Anschließend sprach er seinen eigenen Namen aus, genauso wie man in Norwegen zu den alten Königen gesagt hatte: „Hohkun. Außerdem kann ich Potetlefse sagen. Das war’s aber auch schon.“

Ava kannte den Namen für das Kartoffel-Fladenbrot und kicherte.

„Pa konnte es gut, hat aber fast nie Norwegisch gesprochen. Ich kann mich nur an wenige Gelegenheiten erinnern. Thor kann es lesen und schreiben, aber ich habe mich nie damit beschäftigt. Sah es immer als Zeitverschwendung.“

„Und was ist mit deiner Mutter?“, fragte Ava. Sie wusste kaum etwas über die Eltern der Männer, abgesehen von den Fotografien, die im Großen Saal hingen. Offensichtlich hatte Haakon die hellen Augen und Locken seines Vaters und Thor die dunklen Haare seiner Mutter geerbt. „Hat sie mit dir Norwegisch gesprochen? Oder norwegische Schlaflieder gesungen oder …“

„Nicht mit mir“, unterbrach Haakon sie mit gesenktem Blick. Mit seinem schweren Stiefel trat er gegen einen Haufen verdorrter Äste am Boden. „Darüber solltest du mit Thor oder Jorgan sprechen. Eigentlich sollte es mich nicht überraschen, dass du es sprichst.“ Er räusperte sich, als würde er sich erst sammeln müssen. „Du hast einige Jahre dort gelebt, nicht wahr?“

„Beinahe vier. Ich kann die Sprache nicht besonders gut“, gestand Ava.

„Wie war es dort? Für Benn und dich?“ Er schlug härter gegen einen grünen Trieb, als er musste.

„Wie meinst du?“, fragte Ava schwach.

Haakon zuckte mit den Achseln, als wäre es lediglich einfacher, in ihrer Vergangenheit herumzustochern als in seiner eigenen. „Wo habt ihr gelebt?“

„In einem kleinen Fischerdorf namens Henningsvaer. Benn war ein Bootsbauer.“ Ava schob den Eimer mit einer Hand zwischen Haakon und sich, die genauso lila verschmiert war wie seine. „Wir haben uns eine kleine Wohnung über einer Bäckerei gemietet. Ich habe eine Menge Potetlefse gegessen.“

Diesmal war er an der Reihe und kicherte. Darüber war Ava dankbar, da es ihn zurück in eine fröhlichere Stimmung versetzte. Seine Nase und Wangen waren gespickt mit kleinen Sommersprossen, die ihn jungenhaft wirken ließen. Doch kaum richtete er sich auf, erkannte Ava erneut, dass er keineswegs weniger erwachsen war als einer der anderen beiden.

„Würdest du das mal für mich machen?“, fragte er.

„Soll ich?“

„Ja, bitte.“

„Dann mache ich das.“

Wieder lächelte Haakon, diesmal auf gefährliche Art und Weise. Ein solches Lächeln auf einem hübschen Gesicht wie seinem war einnehmend und berauschend zugleich. Als Haakon die beiden vollen Eimer forttrug, erinnerte Ava sich an den Schmerz, den er bei der Erwähnung seiner Mutter gezeigt hatte.

Als Haakon beim Waschtrog angekommen war, schüttete er den Inhalt der Eimer hinein. Dann fragte er Thor, ob sie für heute fertig sein könnten. Thor hatte ihm den Rücken zugewandt, während er Beeren von einem Strauch pflückte. Also hob Haakon einen kleinen Stein vom Boden auf und feuerte ihn gegen Thors Stiefel. Dieser zuckte zusammen und sah über seine Schulter. Ein finsterer Ausdruck überschattete sein Gesicht.

„Sind wir endlich fertig?“, fragte Haakon scharf.

Oh, wie gerne hätte Ava jetzt selbst einen scharfen Ton angeschlagen. Seinen Bruder ignorierend wandte Thor sich wieder seiner Arbeit zu.

Stattdessen sagte Jorgan zu Haakon: „Musste das sein?“

„Entschuldige. Können wir jetzt schwimmen gehen?“

Jorgan antwortete nicht. Thor hob seinen Eimer hoch und schüttete den Inhalt in den Waschtrog. Dabei ließ er sich Zeit. Anschließend schritt er zu Haakon hinüber und umfasste mit seiner fleischigen Hand den Nacken seines Bruders. Dann drückte er leicht zu. Haakon ließ den Kopf sinken. Eine strenge Geste, die den jungen Mann in seine Schranken wies, aber gleichzeitig die Kluft zwischen den Brüdern überbrückte.

Thor trat zurück und löste den obersten Knopf seines weißen Baumwollhemdes. Gefolgt von dem zweiten. Das war dann also seine Antwort.

Plötzlich wurde Ava nervös und wandte ihren Blick ab. Der Wunsch nach einem kühlen Bad war beinahe unerträglich. Kein Wunder, dass Haakon so darum gebettelt hatte. Weil sie in einem großen Anwesen aufgewachsen war, kannte Ava diese Art von Zeitvertreib nicht. Das Gelände hatte sie nicht verlassen dürfen und mit den Kindern der Herrschaften hatte sie erst recht nicht spielen dürfen. War Schwimmen etwas, das die Geschlechter getrennt voneinander unternahmen? Sie vermutete es, aber es machte ihr nicht wirklich etwas aus. Sie hatte nämlich nie gelernt zu schwimmen.

Ava eilte zum Wagen. Sie würde im Schatten warten und ihre müden Füße ausruhen, bis die Männer ihren Spaß gehabt hatten. Da ertönte ein kurzer Pfiff und Ava drehte sich um. Thor winkte sie in Richtung des Teiches. Wollte er, dass sie ihnen folgte?

Verwirrt schüttelte sie den Kopf, aber Thor wiederholte seine Geste, bevor er sich umwandte und auf den Teich zulief. Dort zog er sich die Stiefel von den Füßen, dann die Socken. Anschließend öffnete er den letzten Knopf seines Hemdes.

Ava realisierte erst, dass sie ihn dabei beobachtete, als Jorgan an ihr vorbeieilte. „Keine Angst. Ich habe ihnen gesagt, dass sie sich benehmen müssen. Komm schon“, rief er ihr zu.

Am Wasser zog Thor sein Hemd aus und warf es zur Seite. Dann rannte er auf den Steg zu, sein starker und massiver Rücken kam unter der späten Nachmittagssonne zur Geltung. Ava hatte schon viele Wikinger-Sagen in ihrem Leben gehört, aber noch nie hatte jemand sie so lebendig werden lassen wie Thor Norgaard. Während auch Jorgan alles bis auf die wollene Hose auszog, sagte er etwas zu seinem Bruder. Thors darauffolgendes Lachen war so tief und frei, dass Ava nicht anders konnte, als es zu genießen. Es war mit keinem Klang auf dieser Welt zu vergleichen.

Obwohl sie nicht vorhatte, auch nur ein Kleidungsstück abzulegen, war der Gedanke an das kühle Wasser durchaus verlockend. Auf dem Weg zum Teich wurde die Erde immer matschiger und so kniete Ava sich nieder, um die Schuhe aufzubinden und auszuziehen. Dann rollte sie sich die Strümpfe von den Füßen. Die kühle Erde wirkte wunderbar befreiend. Sie sah sich nach Haakon um, konnte aber außer den Bäumen des Waldes, deren Blätter sich sanft in der leichten Brise bewegten, nichts erkennen.

Am Rande des Teichs stand ein gewaltiger Baum, dessen Wurzeln bis unter die Wasseroberfläche hineinreichten. Von einem der knorrigen Äste baumelte ein Seil herab. Jorgan lief den Steg entlang, griff nach dem Seil und schwang sich über das Wasser, bis er sich mit einem lauten Platsch in das kühle Nass fallen ließ.

Grinsend holte Thor das Seil zurück. Nach einem tiefen Atemzug rannte er genau wie Jorgan kurz zuvor den Steg entlang. Mit einem lauten Schrei stieß er sich ab und sprang. Im Flug griff er nach dem Seil und schleuderte über das Wasser. Er schwang seine Beine in die Luft, den Kopf nach unten, ließ das Seil dann los und machte einen Salto. Mit einer gewaltigen Wasserfontäne landete er im Teich.

Das war also schwimmen.

Ava lief vorsichtig den grasbewachsenen Abhang hinab, der jäh an einer Klippe endete, die sie vom Wasser trennte. Sie sah sich nach einem einfachen Weg um, auf dem sie hinabgelangen konnte, entdeckte aber keinen. Der Versuch, diese kleine Klippe hinabzusteigen, würde sie ohne Zweifel zu Fall bringen. Stattdessen setzte sie sich ins Gras. Das war ihr genauso recht. Immerhin fühlte sie sich doch ziemlich unsicher, wenn sie von Wasser und seiner ungebändigten Wildheit umgeben war.

Nach einem zufriedenen Seufzen stockte ihr plötzlich vor Schreck das Herz, als sie Haakon hinter sich den Hügel hinabkommen hörte. Er riss sich Schuhe und Strümpfe von den Füßen und rannte auf den Steg zu. Sein Hemd zog er zuletzt aus und warf es achtlos von sich, bevor er mit einem Salto in den Teich sprang. Der Aufschlag auf dem Wasser löste einen solchen Platsch aus, dass Ava sich mit den Händen vor den Spritzern zu schützen versuchte. Bald tauchte er wieder auf, um Luft zu holen, wurde aber sofort wieder von Jorgan unter die Wasseroberfläche gedrückt. Derweil strich die Hündin durch das seichte Wasser, auf der Jagd nach etwas Glitschigem.

Ein anderes Geräusch ließ Ava aufsehen und sie sah zu Thor hinüber, der durch das seichte Wasser watete. Seine dunklen Hosen trieften. Er winkte Ava zu, doch sie schüttelte den Kopf. Noch einmal versuchte er sie anzulocken, doch diesmal mit einem kurzen Pfiff.

„Ich fürchte, ich kann nicht schwimmen“, rief Ava ihm zu.

Oder wollte er vielleicht etwas ganz anderes?

Als Ava die Enttäuschung auf seinem Gesicht wahrnahm, dachte sie an Coras eindringliche Worte, dass er verstanden werden wollte. Aus diesem Grund stand sie auf und lief an den Rand des Abhangs. Der Boden fiel mit einem Mal auf die Höhe ab, auf der Thor stand. Seine Brust ragte gerade noch über die Kante hinweg.

„Ich höre?“, sagte Ava mit einem Lächeln. Thor lächelte zurück. Sie wusste nicht genau, wie alt er war – irgendwas zwischen Jorgans zweiunddreißig und Haakons einundzwanzig Jahren. Über die Antwort dieser Frage sinnierte sie nach, während Thor näher an den Abhang trat und mit der flachen Hand auf die Stelle klopfte, an der sie stehen sollte. Die genähte Wunde an seinem Oberarm schien gut zu verheilen. Beinahe hätte sie sich erneut entschuldigt, doch dann fragte sie: „Ist es ungefährlich, mit einer solchen Wunde zu schwimmen?“ Sie wusste nicht besonders viel über Entzündungen, konnte sich aber kaum vorstellen, dass sein Verhalten weise war.

Thor gestikulierte eine Antwort zu Jorgan, der für ihn sprach: „Er meint, dass es mehr als Teichwasser brauchen würde, um ihn umzubringen.“

Wieder klopfte Thor auf die Stelle im Gras und deutete ihr diesmal an, dass sie sich setzen sollte. Anschließend berührte er seine Schulter, um ihr zu sagen, dass sie sich dort festhalten sollte. Ihr Zögern sprach Bände, woraufhin Thor nach ihren Handgelenken griff und sie zu seinen Schultern führte, bis ihre Hände die Wassertropfen auf seiner Haut berührten. Als ihre Handfläche auf seinen festen Schultern lagen, umfasste er ihre Hüfte.

Erneut erinnerte Ava sich an das Gespräch über Thor, in dem Cora das Vertrauen betont hatte, und ließ sich von ihm von der Kante heben. Seine Kraft – die sie vor ein paar Tagen noch gefürchtet hatte – gab ihr nun Sicherheit. Ihre Füße berührten den Boden und er ließ sie los. Auch Ava nahm die Hände von seinen Schultern.

Der Strand war nicht besonders breit, aber breit genug, um darauf zu laufen. Ava ging ein paar Schritte, bis das kühle Wasser ihre Zehen umspielte. Nachdem sie sich bei Thor bedankt hatte, trottete der wieder in das Wasser hinein. Ava war wieder allein und sie watete tiefer in den Teich hinein, sodass ihre Knöchel unter der Wasseroberfläche versanken. Kleine Fische versammelten sich um ihre Füße. Sie drehten und wanden sich über der aufgewühlten Erde. Hier in dem kühlen Wasser blieb die Zeit für Ava stehen, bis sie über ihre Schulter blickte und den Wagen und ihre aufgeladene Ernte in den Blick nahm. Obwohl das Ergebnis dieser Ernte für Benn keine Versuchung dargestellt hätte, durchzuckte Ava beim Anblick dieser Fülle ein tiefer Schmerz.

Alkohol war für Ava keine Gewissensfrage, sondern eine stetige Erinnerung an die Schmerzen ihrer Vergangenheit. Würden die Männer das verstehen, wenn sie es ihnen erklären würde? Vielleicht könnte sie die Beeren, die sie selbst gepflückt hat, zu Marmelade und Konfitüre verarbeiten.

Als Haakon auf den Steg kletterte, versuchte sie das herauszufinden. „Was habt ihr mit den ganzen Früchten vor?“

„Willst du schwimmen?“, fragte dieser stattdessen, während er sich hinaufzog.

„Nein, danke“, erwiderte Ava.

„Warum nicht?“

„Weil ich nicht schwimmen kann.“

„Du kannst nicht schwimmen?“, wiederholte Haakon und rutschte den kleinen Abhang zu ihr hinunter. „Was für eine Person kann denn nicht schwimmen?“

„Offensichtlich diese hier“, meinte Ava.

„Wie hast du es auf einem Schiff ausgehalten?“

„Indem ich durchgehend dafür gebetet habe, dass es nicht sinkt“, gestand sie.

Haakon verzog das Gesicht, während er neben ihr zum Stehen kam. „Ist dir nicht heiß?“, wollte er wissen.

„Sieh her“, sagte Ava und hob den Saum ihres Kleides an, während sie ins tiefere Wasser watete. Als das kühle Nass ihre Knöchel umspielte, drehte sie sich um. „Das kühlt mich ab.“

„Oh, in Ordnung“, erwiderte Haakon. Er ließ sich auf die Erde fallen und stützte sich auf seinen Händen ab.

„Du wirkst in der Tat ziemlich kühl, Mädchen.“

Ava versuchte den Saum ihres Kleides gleichzeitig trocken und so sittsam wie möglich zu halten. „Für einen Mann ist so ein Bad sicher sehr erfrischend.“

Er schielte zu ihr hinüber. „Es wäre noch erfrischender, wenn ich keine Hose anhätte.“ „Haakon!“, brüllte Jorgan ihm vom Steg aus zu, auf den er sich gerade hievte.

„Es stimmt. Ich hasse es, in Hosen zu schwimmen“, gab Haakon zurück.

„Tut mir leid, Ava“, rief Jorgan ihr zu.

Ava nahm den Kommentar des jungen Mannes nicht persönlich und watete vorsichtig zu ihm zurück. „Mr Norgaard, gibt es eigentlich irgendwas, was Sie nicht wagen würden auszusprechen?“

Haakons Augenbrauen senkten sich. Sein Ausdruck veränderte sich und er versank in Gedanken, die weit über diesen Ort hinaussahen. Er sah zum Horizont, auf die tief stehende Sonne und dann hinüber zu Thor, der sich soeben aus dem Wasser zog. „Um ehrlich zu sein, Mrs Norgaard …“ Seine blauen Augen wanderten zurück zu ihr und als er sprach, bemerkte Ava, dass er ihr die Frage mit den Früchten noch nicht beantwortet hatte: „Da gibt es viel.“

Mein Herz hört deine Worte

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