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Drei

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Nachdem Miss Ida Ava in das Badehaus geführt hatte – ein kleiner Raum, der sich an die Außenwand der Küche schmiegte –, hinkte sie über den Dielenboden zur Badewanne hinüber. Der dazugehörende Wasserhahn wurde aus einem Wasserbehälter gespeist, der mit dem Ofen auf der anderen Seite der Wand verbunden war. Ida drehte an dem Knauf und die Wanne füllte sich mit dampfendem, heißem Wasser. Ava fühlte sich darin wie im Himmel. Sie genoss das Gefühl von Frische an ihrer Haut und in ihren Haaren, während sie sich den Staub der Straße von Kopf bis Fuß abschrubbte. Leider waren all die Erinnerungen an den Grund ihres Kommens nicht so einfach abzuwaschen. Ava verstaute sie tief in ihrem Herzen und versuchte stattdessen, dankbar diesem Tag entgegenzublicken und sich auf das zu konzentrieren, was er noch für sie bereithalten würde.

Nachdem sie aus der Wanne gestiegen war und sich abgetrocknet hatte, schlüpfte sie in einen Rock, den sie noch aus ihrer Zeit im Armenhaus besaß. An der Taille mussten ein paar Sicherheitsnadeln helfen, damit der Rock ihr nicht über die Hüften rutschte. Ava ordnete den Stoff so an, dass man die Eingriffe nicht auf den ersten Blick erkennen konnte, und stellte sicher, dass der Kragen ihrer düsteren Bluse eng an ihrem Hals anlag. Vielleicht sah sie so etwas streng aus, vor allem in Anbetracht dieses schönen Sommermorgens, aber Ava wollte so unauffällig wie möglich sein.

In ihrer Reisetasche hatte Ava ein hübscheres Kleid aus hellblauem Bombasin. Obwohl der weite, ausladende Rock eigentlich für einen Reifrock gedacht und damit aus der Mode gekommen war, hatte Ava aus dem Kleid ein ansehnliches und modisches Kleidungsstück zaubern können. Auch die Pagodenärmel hatte sie zu diesem Zweck abgenommen und geändert. Eigentlich hatte sie sich bisher auf eine Gelegenheit gefreut, dieses Kleid zu tragen. Nur heute nicht.

Der Geruch frisch gebackener Brötchen und heißen Fleisches lockte Ava in die Küche. Als sie eintrat, sah sie Thor am Tisch sitzen. Sein schwarzes Haar hatte er mit einem Lederriemen zurückgebunden und die Ärmel seines Hemdes hatte er bis zu den Ellbogen zurückgeschoben. Gerade nippte er an einer Tasse Kaffee, vor ihm stand sein halb leerer Teller. Nun trat auch Haakon ein, der sich sofort zum Herd wandte und seinen eigenen Zinnbecher füllte. Er lächelte Ava zu.

„Sie haben wirklich ganz schön rotes Haar“, sagte Haakon, als er ihr den Becher reichte.

Dankend nahm Ava ihn entgegen und spähte erst in die dampfende Flüssigkeit, dann in Haakons markantes Gesicht. „Und Sie haben ziemlich blaue Augen“, entgegnete sie.

Grinsend zog er einen Stuhl zurück und setzte sich. „Wir sollten uns duzen, schließlich sind wir eine Familie.“

Ava goss sich einen Schuss Milch in den Kaffee und nickte zögernd. Dann bereitete sie sich einen Teller mit gebackenen Kartoffeln und Schinken zu. Als sie endlich zu Tisch saß, betrachtete sie ihr Essen, bevor sie eines der Brötchen halbierte. Ihr wurde hier ein so reichhaltiges Mahl angeboten – solch einen Luxus hatte sie noch nie genossen. Das Wasser lief ihr bei dem Gedanken an den ersten Bissen im Mund zusammen, doch bevor es dazu kam, entdeckte Ava das Marmeladenglas. Es stand vor Thor und sah so verführerisch aus, dass sie es nicht ignorieren konnte.

Ebenso schwer zu ignorieren, aber nicht im Mindesten verführerisch, war das Glas mit Schnaps. Es stand so dicht neben dem Marmeladenglas, als ob sie beide gleich oft beim Frühstück benutzt wurden. Thor hatte die Ellbogen auf dem Tisch abgestützt und las die Zeitung, die er über seinem Teller ausgebreitet hatte. Seine dichten, dunklen Wimpern bewegten sich mit den Worten.

„Könntest du mir bitte die Marmelade reichen?“, fragte Ava.

Thor leckte seinen Daumen an und blätterte um. Haakon sah zu seinem Bruder und streckte sich dann aus, um das Glas zu Ava hinüberzuschieben.

„Danke“, sagte Ava leise, während ihre Augen noch immer auf Thor ruhten.

Haakon würzte sein Essen nach und sagte: „Er kann dich nicht hören.“

„Bitte?“, hakte Ava nach.

„Thor. Er kann dich nicht hören“, wiederholte Haakon und tippte sich ans Ohr. „Er kann überhaupt nichts hören.“

Avas Blick huschte wieder zu Thor hinüber, der noch immer in seine Zeitung vertieft war. „Kann er nicht?“

Nachdem Haakon an seinem Kaffee genippt hatte, verzog er sein Gesicht und stand auf.

Mit erhobener Augenbraue schielte Thor zu seinem Bruder hinüber und stürzte dann sein eigenes Gebräu hinunter. Es war so schwarz wie die Nacht. Haakon griff nach der Zuckerschale und Thor wandte sich nach einem letzten Augenrollen wieder der Zeitung zu.

Derweil setzte sich Haakon wieder und stellte den Zucker auf den Tisch. „Sieh her …“, sagte er zu Ava und klopfte neben Thors Ellbogen auf den Tisch. Dieser hob sogleich den Kopf.

Haakon tippte sich mit einem Zeigefinger an das Ohr und dann auf seine Lippen. Anschließend deutete er auf Thor und nach ein paar weiteren Gesten zu Ava. Nun sah Thor sie an und mit einem Mal war ihre gesamte Verwirrung von gestern verschwunden. An ihre Stelle trat Traurigkeit. Ava erinnerte sich daran, welchen Eindruck Thor bei ihr hinterlassen hatte. Mit Haakons Erklärung machte plötzlich alles Sinn.

Hatte sie ihn wirklich für so imposant gehalten? Tatsächlich hatte er eine stattliche Größe und die filigrane Lehne seines staksigen Stuhls schien in keiner Weise zu dem breiten Rücken zu passen. Und dennoch …

„Was soll ich tun?“, fragte sie Haakon.

„Was meinst du?“, antwortete er.

Noch immer blickte Ava Thor tief in die Augen. „Was kann ich sagen?“, verdeutlichte sie ihre Frage.

„Du kannst sagen, was du willst. Solange er dich ansieht, kann er deine Lippen lesen“, erklärte der jüngste Bruder.

Wirklich? Thors Aufmerksamkeit wanderte für einen kurzen Moment hinunter zu Avas Lippen, dann wieder hinauf in ihre Augen. Haakon lachte leise, woraufhin Thor verschiedene Bewegungen mit seinen Händen in Richtung seines kleinen Bruders ausführte. Dieser antwortete. Eine Art der Kommunikation, schnell und fremd.

„Ich – das habe ich nicht gewusst“, sagte Ava und hoffte, dass sie die beiden nicht unterbrach.

Haakon zuckte mit den Schultern. „’tschuldige dafür. Wir sind so an seine Art gewöhnt, dass wir vergessen, dass andere es nicht sind.“ Er griff nach seiner Gabel und spießte eine Kartoffel auf.

Mit der Handwurzel rieb Thor sich die Stirn. Nachdem er sich das Glas mit Schnaps geschnappt hatte, drehte er den Deckel ab und goss sich die bernsteinfarbene Flüssigkeit in den Kaffee.

Eine solche Menge, dass selbst Haakon zu kauen aufhörte. „Langsam, Thor“, sagte er.

Thor warf ihm einen finsteren Blick zu.

Jorgan kam in die Küche geeilt und schob sich eine Streichholzschachtel in die Hemdtasche. Freundlich lächelte er Ava an. „Ida sagte mir, dass Sie mit mir sprechen wollten.“

„Richtig“, nickte Ava. In ihr regte sich der verzweifelte Wunsch nach Sicherheit. Sie wollte herausfinden, was sie tun sollte. Wissen, was für einen Platz sie hier hatte. Würde sie überhaupt einen Platz hier haben? Oder wäre es besser, wenn sie weiterziehen würde? Sollte sie bleiben, würde das Wort darüber die Runde machen. Die Leute würden ihre ganz eigene Meinung darüber haben, dass sie hier allein mit drei unverheirateten Männern lebte. Und das würde dem Ruf dieser Familie nicht gerade guttun, die sie doch so freundlich aufgenommen hatte. Jorgan schaufelte sich Essen auf einen Teller. „Lassen Sie mich erst Haakon und Thor loswerden, dann können wir uns hinsetzen und reden“, sagte er. „Danke“, antwortete Ava knapp und fügte dann hinzu: „Ihr Bruder und ich sind uns einig geworden, dass wir uns duzen sollten.“

Jorgan nickte und ließ sich dann am Ende des Tisches nieder. Sogleich wandten er und seine Brüder sich dem Essen zu. Ava fühlte sich wie immer vollkommen fehl am Platz, trotzdem versuchte sie es den Männern gleichzutun. Nach ein paar Minuten Stille klopfte Haakon neben Thor auf den Tisch, um seine Aufmerksamkeit zu erlangen. Wieder machte er mehrere dieser Handbewegungen – sie reihten sich so weich und nahtlos aneinander, dass es sich wohl um einen Satz handeln musste. Ohne eine Miene zu verziehen, blickte Thor auf die Hände seines Bruders. Dann musste Haakon etwas über Ava gesagt haben, denn Thors Blick glitt zu ihr hinüber. Ava saß sehr still.

Mit zwei seiner Fingerknöchel fuhr Thor sich über den Bart. Seine braunen Augen ruhten immer noch auf Ava, als er nach dem Zinnbecher griff und den Inhalt – der aus mehr Alkohol als irgendetwas anderem bestehen musste – hinunterstürzte.

„Wenn es dich beruhigt, kannst du Guten Morgen zu ihm sagen“, meinte Haakon, der seinen leeren Teller zurückschob. „Du kannst es ihm sagen, wenn er dich ansieht, oder du kannst es ihm zeigen“, ergänzte er. Daumen und Zeigefinger einer Hand legte er zusammen und spreizte dann die Finger beider Hände auseinander, um mit ihnen eine aufgehende Sonne zu symbolisieren. „Guten Morgen“, sagte er dazu.

Thor blickte nun Haakon an. Nein … er starrte ihn an. Dann fiel sein Blick wieder auf Ava. Plötzliche Panik überfiel sie und brachte sie dazu, ein „Guten Morgen“ hervorzupressen. Viel zu laut. Sie zuckte zusammen.

Grinsend warf Haakon seine Serviette auf den Tisch. „Du musst nicht brüllen.“ Mit zusammengezogenen Brauen klopfte Thor zweimal auf den Tisch und Haakon erklärte: „Sie hat es fast geschrien.“

„Halt den Mund, Haakon“, murmelte Jorgan, während er eine Kartoffel zerkaute. Thor schob seinen Stuhl zurück und stand auf.

„Habe ich ihn beleidigt?“, fragte Ava und Thor zuckte zusammen, als hätte sie es mit dieser Frage nur noch schlimmer gemacht.

„Nee. Thor ist morgens immer übel gelaunt“, meinte Haakon und schielte zu Jorgan hinüber, als würde er dessen Einspruch erwarten. „Er schiebt es immer auf die Kopfschmerzen, aber ich glaube, dass das einfach seine Persönlichkeit ist“, fügte er hinzu.

Thor polterte aus der Küche in den anliegenden Raum, kehrte aber nur Sekunden später wieder. Ein Gewehr lag über seiner strammen Schulter. Er schickte eine scharfe Handbewegung in Haakons Richtung und marschierte dann nach draußen.

Haakon stand auf und deutete auf ihn. „Siehst du, wenn ich das jemals gesagt hätte, hätte ich sofort meinen Mund mit Seife ausgewaschen bekommen.“ Er trat hinaus auf die Veranda, während Jorgan sein Grinsen hinter dem Kaffeebecher zu verstecken versuchte.

Voller Angst, sie könne Thor in irgendeiner Weise beleidigt haben, sammelte Ava die leeren Teller ein und stapelte sie. In der Waschschüssel wusch sie die wenigen Teller ab. Durch das Fenster beobachtete sie, wie Thor zwei Stuten aus dem Stall führte. Mit Haakons Hilfe sattelte er sie.

„Wohin gehen sie?“, wollte Ava wissen.

„Reiten die Grenzen ab. Thor macht sich Sorgen, dass jemand auf unserem Land herumstreunen könnte, und will sich umsehen“, erklärte Jorgan.

„Oh“, sagte Ava bloß.

„Ida ist im Garten“, sagte Jorgan.

Ava hatte nicht gefragt, aber sie empfand die Erwähnung von Idas Verbleib als sehr aufmerksam. Sie beobachtete Haakon und Thor, die, ohne zu sprechen, miteinander arbeiteten. Plötzlich bemerkte Ava, dass der Teller auf den sauberen Boden tropfte, und sie wandte sich auf der Suche nach einem Handtuch um. Weil sie nicht wusste, wohin das Geschirr gehörte, stapelte sie die trockenen Teller auf dem Tisch.

„Erzähl mir etwas über dich, Ava“, bat Jorgan, als er den Stapel in einem Wandschrank verstaute.

Ava schüttelte die Kaffeekanne, um zu sehen, ob sie leer war. Während sie sie abwusch, erzählte sie von ihrem Leben mit Benn in der kleinen Wohnung über einer Bäckerei.

„Wie du sicher weißt, hat er in der Nähe des Hafens beim Bau von Booten mitgearbeitet. Derweil habe ich genäht.“ Ava hatte gelernt, innerhalb einer Woche ein schaufensterwürdiges Kleid zu nähen. Wenn es etwas gab, das sie sich von ihrer Mutter abgeschaut hatte, dann war es Effizienz und der Blick fürs Detail.

Warum sie gerade mit dem Nähen auf Jorgans Frage geantwortet hatte, wusste Ava nicht. Vielleicht, weil es weniger erschütternd war als der Rest ihres Lebens.

„Und wie hast du diese Fähigkeit erlernen können?“, wollte Jorgan wissen.

„Meine Mutter war Dienstmagd – Schneiderin für einen Lord und seine Frau. Wir haben in einem großen Anwesen auf dem Land nördlich von Dublin gelebt, aber da war ich noch sehr jung. Ich kann mich nicht an vieles aus dieser Zeit erinnern“, erzählte Ava. Nur an die stetig arbeitenden Hände ihrer Mutter und ihre lächelnden Augen.

Andere Erinnerungen waren weniger deutlich. Wie zum Beispiel die Erinnerung an den Nebel, der sich dort zwischen die Hügel schmiegte. Oder an die irische Oberschicht, den Klang von zartem Porzellan beim Nachmittagstee und den Glanz von abendlichen Festen, bei denen sich farbenfrohe Kleider im Kerzenlicht zu der Musik einer einsamen Fiedel drehten.

„Solange ich nicht im Weg herumstand und außer Sicht blieb, durfte ich so lange bleiben, wie ich wollte“, erinnerte Ava sich. Diese Gefälligkeit wurde nicht vielen Bediensteten gewährt.

Wer ihr Vater war … nun, das wusste sie wirklich nicht. Man hatte ihr nie erlaubt, mit den anderen Kindern zu spielen, und noch bevor sie alt genug war, um sie in die Geheimnisse der Weiblichkeit einzuführen oder zu erklären, wie Kinder auf die Welt kamen, wurden sie und ihre Mutter weggeschickt.

„Von dort aus sind wir nach Süden gereist und in dem Armenhaus gelandet. Meine Mutter hat nicht einmal den ersten Monat nach unserer Ankunft dort überlebt. Ich habe es etwas länger ausgehalten“, erzählte sie mit fester Stimme, auch, als Trauer und Verlust mit eiskalter Hand Besitz von ihrem Herzen ergriffen. Sie holte sich selbst in die Gegenwart zurück, indem sie sich daran erinnerte, wo sie war – umgeben von Idas warmer Küche und Jorgans vorbildlichem Benehmen.

„Das tut mir aufrichtig leid“, sagte er sanft. „Und es tut mir leid, dass Dorothees Briefe dich so in die Irre geführt haben. Zumindest in Hinsicht auf meine Brüder und mich. Wenn du gerne hierbleiben würdest, hätte ich ein paar Aufgaben für dich. Aber erst will ich deine Meinung hören.“ Jorgan trocknete seine Hände an dem Handtuch, das Ava ihm reichte, und fragte dann: „Was möchtest du?“

Das war eine Frage, die Ava erst einmal im Leben gestellt worden war. In Irland hatte eine Nonne Ava in ihr Büro im Armenhaus bestellt und ihr von Benn Norgaard berichtet, einem Bootsbauer aus Norwegen, der sich nach der rothaarigen Frau erkundigt hatte – derjenigen, die eine Schachtel voller Garnrollen über den Hof getragen hatte, als er auf der gepflasterten Straße davorgestanden hatte.

Geschockt über das Angebot, das der Mann ihr gemacht hatte, hatte Ava auf den kleinen goldenen Ring gestarrt, den die Nonne aus einem seiner Taschentücher gewickelt hatte. Trotzdem hatte Ava ihre Armenhauskluft gegen ein abgetragenes Kleid getauscht, das ihr darüber hinaus noch zwei Nummern zu groß gewesen war. In der Tasche dieses Kleides hatte sie den Namen einer Pension gefunden, in der der Fremde ein Zimmer für sie für zwei Wochen im Voraus gemietet hatte. Er selbst war bereits fort – auf ein Schiff zurückgekehrt, das vor der irischen Küste auf Sand gelaufen war und bei dessen Reparatur er helfen musste. Dennoch hatte der Norweger die Nachricht hinterlassen, dass er nach vierzehn Tagen zurückkehren würde, um sie zu ehelichen. Falls das Mädchen bis dahin nicht geflohen wäre. Gerade als Ava ein Pfund zugelegt und die Läuse aus ihren Haaren gewaschen hatte, kehrte der Fremde zurück und hielt sein Versprechen.

Weil der Cousin dieses Mannes nun auf eine Antwort wartete, sagte Ava: „Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung. Ich bin in dem Glauben hierhergekommen, Dorothee bei eurer Erziehung unterstützen zu können. Ich hatte erwartet, dass ihr viel jünger wäret. Und natürlich, dass sie noch immer hier wäre.“

Jorgan nickte verständnisvoll. Trotzdem entging Ava der Hauch eines Grinsens nicht. Es schien, als habe Jorgan den Plan verstanden, den seine Tante Dorothee ausgeheckt hatte. Auch Ava meinte mittlerweile, sie durchschaut zu haben.

„Ich habe mir nie besonders viel gewünscht. Was ich möchte, ist eine Aufgabe, um mir ein Bett und eine warme Mahlzeit zu verdienen. Dafür wäre ich sehr dankbar. Dorothee hatte angedeutet, dass ich eine solche Anstellung hier finden könnte“, erklärte sie.

„Sicherlich könnten wir eine Aufgabe für dich finden“, antwortete Jorgan und grinste dann. „Solange du keine harte Arbeit scheust.“

Nicht im Geringsten. „Wäre es …“, Ava hielt inne. Wie sollte sie ausdrücken, was sie dachte? „Wäre es nicht unschicklich, wenn ich hierbleiben würde?“, versuchte sie es.

„Für andere schon“, antwortete Jorgan und blickte über die Schulter zu dem großen Fenster. Mit einem Kopfnicken bat er Ava, ihm die Treppe hinauf zu folgen. Seine tiefe Stimme klang noch genauso freundlich wie zuvor, als er sagte: „Und die Leute verpassen keine Möglichkeit, sich das Maul über andere zu zerreißen.“

Wohl wahr, das taten sie nicht.

Im Flur blieb Jorgan vor Dorothees Zimmer stehen und Ava tat es ihm gleich.

„Vielleicht können wir dem Tratsch irgendwie entgehen. Ich werde mit meinen Brüdern darüber sprechen“, sagte Jorgan und öffnete die Tür. Dicke, geblümte Vorhänge hingen vor dem Fenster, die Jorgan behutsam zur Seite zog. „Bestimmt findest du hier etwas, das du gebrauchen kannst“, sagte er.

Licht durchflutete den Raum und bahnte sich einen Weg zwischen dem tanzenden Staub hindurch. Ava trat ein und lief die nächstbeste Wand entlang. Dort hingen eingerahmte Stickarbeiten, jede mit den Initialen D. N. signiert. Die edlen Blütenblätter und verschlungenen Ranken zeugten von Norwegens eleganter Handwerkskunst.

Neben den Stickarbeiten hingen einige Kinderzeichnungen, die Dorothee an die Wand geheftet hatte. In der Ecke jedes Bildes stand in Dorothees vertraut verschnörkelter Handschrift der Name des Künstlers und das entsprechende Alter. Unter einer wilden Bleistiftkritzelei stand Haakon, 3 Jahre. Unter dem Bild eines großen Wals inmitten einer stürmischen See stand Jorgan, 10 Jahre. Das letzte Bild trug die Unterschrift Thorald, 7 Jahre. Die Bilder konnten also nicht zur gleichen Zeit entstanden sein. Ava beugte sich zu der letzten Zeichnung hinunter, der kindlichen Darstellung einer Familie. Die grob gezeichneten Personen lächelten über die gesamte Breite des Gesichts und jede Figur stand neben einem riesigen Baum, der bis in den Himmel hineinreichte. Vögel flogen über ihre Köpfe hinweg. Vorsichtig berührte Ava die vergilbte Ecke des Bildes.

Nicht weit von ihr entfernt stand Jorgan und schob eine Vase mit vertrockneten Blumen zur Seite, um nach einem Nähkorb zu greifen. „Den solltest du bekommen.“

„Oh, das kann ich auf keinen Fall annehmen“, erwiderte Ava.

„Was für einen Nutzen hat der Korb, wenn er hier herumsteht? Es würde Dorothee stolz machen zu sehen, dass er weiterhin gebraucht wird.“

Also griff Ava nach dem Henkel des Korbes und allein das Gewicht der ganzen Knöpfe, Nadeln und Garne sandte eine Welle der Freude durch den Körper. Ihr eigener Nähkorb war längst fort. Verkauft, um die Überfahrt hierher zu bezahlen.

„Gibt es sonst noch etwas, das du brauchst?“, fragte Jorgan.

„Für den Anfang reicht das aus.“ Und mehr als das. Ava sah sich im Raum um und begutachtete Dorothees kleines Reich. Rosa und elfenbeinfarbene Töne dominierten den großen Quilt, der über das Bett gelegt worden war, und das Kupfer des Kopfbrettes schimmerte im Glanz der Sonne. Farbenfrohe Garnreste ruhten auf dem Nachttisch ebenso wie eine elegante Schere. Es schien beinahe so, als hätte Dorothee bis zur letzten Sekunde an einem Projekt gearbeitet.

„Darf ich fragen, wie Dorothee verstorben ist?“, wollte Ava wissen.

Jorgan trat näher an das Fenster heran und spähte hinaus. „Sie war schon alt – fast neunzig –, ist eines Tages zu Bett gegangen und nie wieder aufgewacht. Sie ist friedlich eingeschlafen. An einem Tag war sie noch da, am nächsten schon nicht mehr. Wir zeigen es vielleicht nicht gerne, aber meine Brüder und ich vermissen sie sehr.“

„Ich wünschte, ich hätte sie kennenlernen können“, murmelte Ava.

Jorgan lächelte traurig, dann sah er sich um. „Sie hat sehr gut von dir gesprochen.“ Er hob ein besticktes Deckchen auf, das auf einem nahe gelegenen Stuhl lag. „Und ich weiß: Sie wollte, dass du dich hier zu Hause fühlst. Also bitte lass es uns wissen, wenn du irgendetwas brauchst. Da du gerne nähst, wirst du bestimmt auch einen Blick in den Verschlag draußen werfen wollen. Da liegen stapelweise Stoffe und Schachteln voll Garn. Ich kann es dir zeigen, wenn du magst.“ Mit diesen Worten reichte Jorgan ihr die Gobelinstickerei. Als hätte er geahnt, dass ihre Reisetasche von solchen Dingen nicht viel in sich barg.

„Vielen Dank“, sagte Ava. Ihre Stickkünste hielten sich in Grenzen, dennoch fielen Ava einige Fehler bei den weißen und rosafarbenen Blüten und Ranken auf dem dunkelblauen Stoff auf. Gerne hätte sie zur Nadel gegriffen und das Werk vollendet. Es schien ihr so, als wäre diese Stickerei nicht anhand einer Vorlage entstanden, sondern direkt aus Dorothees Herz und Sinnen gekommen.

„Solltest du dich jemals nach einer Anstellung sehnen, können wir uns in den umliegenden Städten umhören. Allerdings …“, Jorgan hielt inne und lächelte freundlich. „Allerdings wäre es schade, dich wieder ziehen lassen zu müssen.“

Gerade als Ava ihm ein Danke schenken wollte, durchbrach der laute Donner eines Schusses die Luft. Vor Schreck sprang Ava auf. Ein weiterer Schuss kam aus derselben Richtung. Als alles wieder still war, grinste Jorgan und sagte: „Keine Sorge, das war nur Thor.“

„Was tut er da?“, fragte Ava.

„Verscheucht jemanden von unserem Land. Manchmal fühlen sich unsere Nachbarn zu wohl bei uns. Keine Sorge: Er passt auf, dass er niemanden trifft.“

Ava schluckte hart.

„Damit du Bescheid weißt: Unter der Woche ist Miss Ida die meiste Zeit hier“, fuhr Jorgan fort. Er hob die elegante Schere vom Nachttisch auf und schob sie unter den Deckel in den Korb. „Samstagabends besucht sie ihre Schwester Cora. Du wirst sie noch kennenlernen. Sie ist wirklich freundlich. Lebt auf unserem Land, ein paar Morgen hinter den Plantagen. Das ist ein Grund für die regelmäßigen Streifzüge von Thor und Haakon. Sie wollen sicherstellen, dass niemand sie belästigt.“

Jorgans Blick glitt zum Fenster, dann wieder zu Ava. „Ida hat angeboten, dauerhaft hier zu wohnen. Dann wäre es niemals unschicklich für dich, hier zu sein. Du wärst einfach Teil unserer Familie. Nichts anderes, als Dorothee im Sinn hatte. Wir würden dich für deine Arbeit bezahlen. Statten dich mit allem Nötigen aus, damit du ein neues Leben beginnen kannst. Wie auch immer wir dir helfen können. Wir leben im Überfluss, Ava, und es wäre unsere Aufgabe, für dich zu sorgen.“ Er winkte sie zu sich heran und deutete aus dem Fenster auf die nebenstehenden Gebäude. „In diesem Gebäude mit dem spitzen Giebel wirst du dich sicher einmal umsehen wollen. Dort wirst du ein paar Kisten mit Dorothees Sachen finden, die wir nach ihrem Tod dorthin gebracht haben. Auch Stoffe und so. Bediene dich ruhig. Und außerdem … es gibt noch etwas, das ich dir gerne zeigen würde.“

Am Ende des Ganges stellte Ava ihre neuen Schätze in ihrem Zimmer ab und folgte Jorgan dann hinab in das Erdgeschoss. Er sagte kein Wort, bis sie vor dem Haus standen. „Du solltest wissen, wie wir unseren Lebensunterhalt verdienen“, bemerkte er dann und zeigte auf das größte der umstehenden Gebäude. Eine Scheune, so groß wie das Wohnhaus selbst. „Manche Leute empfinden das als eine Schande, deswegen solltest du Bescheid wissen, bevor du dich zum Gehen oder Bleiben entscheidest.“

Eine Vorahnung stieg in Ava auf, während sie das wettergegerbte Gebäude mit den vielen Fenstern beäugte. „Wir brennen Schnaps. Also, Thor brennt Schnaps. Hier in der Brennerei.“

Als sie beim Gebäude angekommen waren, schob Jorgan die schwere Tür auf. Dahinter lag Dunkelheit und ein Schwall des berauschenden Geruchs nach Äpfeln und ihrem süßlichen Saft schlug ihnen entgegen. Ava folgte Jorgan in den Raum hinein, dessen Decke sehr weit über ihren Köpfen schwebte. An jeder Wand reihten sich Regale voller Einmachgläser aneinander. Mehrere Hundert, schätzte Ava. Davor standen riesige Holzfässer in Reih und Glied, jedes mit Kreide beschriftet. Eine lange Werkbank stand in dem Raum, darauf befand sich ein Durcheinander aus Stiften, Papier und Haushaltsbüchern. Von einem Dachsparren aus wurden sie von einer Eule beobachtet.

„Schnaps“, sagte Ava leise, obwohl sie es eigentlich nicht aussprechen wollte. „Pa hatte damals damit begonnen, als er das erste Mal Fuß auf dieses Land gesetzt hat. Deswegen hütet Thor die Plantagen auch wie seinen Augapfel. Er brennt den besten Schnaps des Landes“, erklärte Jorgan.

Ava schritt die Länge der Werkbank entlang, beäugte währenddessen jedoch die vielen blauen Auszeichnungen, die an die Wand geheftet worden waren. Immer größer und aufwendiger wurden die blauen Schleifen, je näher die Datierung dem heutigen Tag kam. Der Mann musste wirklich begabt sein.

„Die Leute zahlen viel für das Zeug und mit dem Geld lässt es sich gut leben. Vielleicht etwas zu gut, denn uns fehlt es wirklich an nichts und das schon seit einiger Zeit. Ich frage mich manchmal, ob es Haakon besser getan hätte, in weniger luxuriösen Umständen aufzuwachsen. Obwohl es dafür natürlich schon zu spät ist.“

Ava hob einen Bogen Papier hoch und bewunderte die fein säuberlich notierten Zahlen, die das gesamte Blatt füllten.

„Pass auf, wo du das hinlegst. Thor ist ziemlich pedantisch. Das hier ist seine ganze Welt“, warnte Jorgan grinsend und Ava achtete sorgfältig darauf, das Blatt an dieselbe Stelle zu legen, von der sie es aufgehoben hatte.

„Seine Welt …“, wiederholte sie.

„Oh ja. In diesem Teil des Landes gab es keine Schule, in die er hätte gehen können. Seit er laufen kann, ist er Pa wie ein Schatten überallhin gefolgt. Die Schnapsbrennerei liegt auch ihm im Blut.“

Das würde erklären, warum der Mann schlimmer roch als ein Spirituosenladen.

Tranken sie alle? Oder nur Thor? Als Ava sich erkundigte, räusperte Jorgan sich. „Hin und wieder gönne ich mir ein Gläschen. Haakon ebenfalls. Nur Thor ist etwas speziell, wie du bereits bemerkt hast. Dafür, dass er so viel trinkt, hat er sich gut im Griff. Hatte er schon immer. Dieser Kerl könnte vollkommen betrunken einen Raum betreten und kaum jemandem würde es auffallen. Zumindest, wenn er nicht diese Fahne hinter sich herziehen würde.“

Sollte das ein Trost sein?

„Ich frage nur, weil ich mit einem Mann verheiratet gewesen bin, der sich nicht besonders gut im Griff hatte“, erklärte Ava.

Langsam dämmerte es Jorgan. Ava konnte es an seinem Gesichtsausdruck erkennen. In seinen Blick mischte sich Überraschung, als habe er von Benns Sucht bisher nichts gewusst. Woher hätte er es auch wissen sollen? Die Liebe eines Mannes zur Flasche war kein Thema, das man in einem Brief an die entfernte Verwandtschaft aufgriff. Unsicherheit machte sich in Avas Magen breit und sie sah durch das schmutzige Fenster hinaus zu Ida, die mit einem Korb voll frischer Wäsche vorbeimarschierte. Sie schien etwas in diesen drei Männern zu sehen …

Mit seinem Stiefel schob Jorgan eine Abdeckplane zur Seite und Ava erhaschte den Blick auf weitere Gläser.

„Thor. In der Vergangenheit haben wir ihn schon einmal darum gebeten, kürzerzutreten. Vielleicht wird er es jetzt noch einmal versuchen“, sagte Jorgan.

Verwirrt überlegte Ava, wieso er das tun sollte.

„Viele Wagen kommen und gehen auf dieser Farm. Hin und wieder gibt es Stress, wenn die falschen Leute auftauchen. Aber wir werden gut auf dich aufpassen. Es würde uns allerdings helfen, wenn du in der Nähe des Hauses bliebest“, bemerkte Jorgan und hielt inne, als würde er auf ihre Einwilligung warten.

„Das werde ich“, nickte Ava.

„Normalerweise legen wir uns mit den Leuten nicht an, aber es gibt einige raue Burschen in der Gegend. Manche sind kühner als andere. Da Thor ein paar Negros für die kommende Ernte angeheuert hat, könnten Schwierigkeiten auf uns zukommen. Einige unserer Nachbarn sehen so etwas überhaupt nicht gern. Es könnte etwas ungemütlich werden. Bitte verlasse die Farm nie ohne einen von uns.“

Erzählte Jorgan ihr das alles, um ihre Entscheidung zu beeinflussen? Ava sah sich in der Scheune um. Ein Schauer lief ihr über den Arm und Ava fuhr sich mit der anderen Hand über die Stelle.

„Ich verspreche es“, sagte sie.

Jorgan winkte sie hinaus in die Sonne und schien nach einem leichteren Gesprächsthema zu suchen. „Ich werde bald heiraten … Ende des Sommers. Ihr Name ist Fay“, erzählte er und bei der Erwähnung ihres Namens leuchteten seine Augen auf. „Sie wird schon bald herkommen, dann wird es eine Frau mehr auf der Farm geben. Ich denke, du wirst sie mögen.“ Jorgan passte sich Avas Schritt an, als sie sich Ida an der Wäscheleine näherten. „Natürlich nur, wenn du hierbleiben würdest. Fürs Erste sollte es reichen, wenn du Anfragen verfasst. Ich werde dafür sorgen, dass sie verschickt werden.“

Hinter der an der Leine hängenden Wäsche wurde Ava langsamer und hielt kurz inne. „Ich danke dir.“ Und in der Zwischenzeit würde sie alles dafür tun, sich ihren Lebensunterhalt auf dieser Farm zu verdienen.

Mein Herz hört deine Worte

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