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Eins

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BLACKBIRD MOUNTAIN, VIRGINIA

27. AUGUST 1890

Ava sah auf den Brief in ihrer Hand hinab. Zum wiederholten Mal las sie die in der Handschrift ihrer Tante Dorothee verfasste Adresse. Dann fiel ihr Blick auf das Holzschild, das vor ihr im Boden steckte. Der Ort stimmte überein, trotzdem hatte Ava plötzlich Schwierigkeiten, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Heiß brannte die Sonne auf sie herab und von den Küsten Norwegens war ihr nur noch die Erinnerung geblieben.

Der einfache Weg, der sich vor Ava erstreckte, unterschied sich kaum von der Straße, auf der sie hergekommen war. Allerdings würde sie die endlosen Waldgebiete hinter sich lassen, die sie den Vormittag über durchquert hatte, und in den Schatten unzähliger Bäume einer Plantage treten können. Den Früchten nach zu urteilen, die von den knorrigen Ästen hingen, musste es sich um eine Apfelfarm handeln. Ein süßer Duft hing in der stickigen Hitze. Ava holte tief Luft, beugte sich näher zu dem Schild und fuhr mit ihrem Finger die grob geschnitzten Buchstaben nach.

Norgaard.

Also dann. Das musste es sein. Das Land, in dem Tante Dorothees Neffen ihr Unwesen trieben. Frei und wild waren die Jungs, zumindest den Geschichten nach. Ava machte das nichts aus. Als sie im Armenhaus gelebt hatte, hatte sie immer wieder zusehen müssen, wie die Waisenkinder dort verwahrlosten. Nachdem sich ihre Umstände so drastisch geändert hatten, war sie nun – in Freiheit – umso begieriger darauf, dieses Haus zu finden. Und ihre dort lebende Familie.

Vor allem aber war sie gespannt auf die Kinder. Ein gleichmäßiges Trommeln auf dem Weg riss Ava aus ihren Gedanken und sie schaute auf. Ein Hund kam auf sie zugerannt. Schwanzwedelnd schnüffelte er an Avas Schuhen und schlug Ava mit seiner Rute gegen das Bein. Lächelnd beugte sie sich hinab und tätschelte den braunen Kopf, den ihr der Hund zur Begrüßung entgegenreckte. „Hallo, du“, sagte sie.

Nachdem das Tier Avas Hand ein paarmal abgeleckt hatte, machte es kehrt und trottete weiter den Weg entlang. Es schien, als wolle der Hund ihr den Weg weisen. Da er sich mit Sicherheit besser in dieser hügeligen Landschaft auskannte als sie, griff Ava rasch nach ihrer abgenutzten Reisetasche.

Während sie weiterlief, klopfte sie sich den Staub von ihrem schwarzen Trauerkleid. Ein Kleid, das sie von nun an nicht mehr brauchen würde. Die zwei Trauerjahre hatten bereits geendet, bevor sie auch nur einen Fuß in diese Gegend namens Blackbird Mountain gesetzt hatte.

Plötzlich knackte ein Ast auf dem Weg vor ihr und Ava schirmte ihre Augen ab. Immer länger wurden jetzt die Schatten in dem Hain, während es allmählich Abend wurde. Die tief stehende Sonne blendete. Ein weiterer Ast brach und ein Mann trat auf den Weg, nicht einmal ein halbes Dutzend Baumreihen von Ava entfernt. Weder konnte sie sein Alter einschätzen, noch konnte sie erkennen, was der Mann dort tat. Er kniete mit dem Rücken zu ihr und schien Äpfel in große Metalleimer zu sammeln. Der Hund umrundete ihn vergnügt. Ava fühlte sich beinahe wie ein Eindringling. Vorsichtig ging sie ein paar Schritte näher heran, um ein Hallo rufen zu können. Doch der Mann reagierte nicht. Erst als Avas Schatten neben ihn fiel, wandte er sich ihr zu. Langsam richtete er sich auf und fuhr sich mit seiner großen, kräftigen Hand durch das ungekämmte Haar. Es war so dunkel wie die Erde unter seinen Stiefeln und hing wirr bis über die Schultern hinab.

Der Fremde öffnete leicht seinen Mund. Im Ausdruck seiner Augen lag eine beunruhigende Mischung aus Schmerz und Überraschung. Der Blick, mit dem er Ava bedachte, war so tiefgründig, dass er sogar von den gleichmäßigen Gesichtszügen des Mannes ablenkte. Er sagte kein Wort, bot Ava nur eine Art stumme, entwaffnende Verbundenheit an, als sei diese Welt für sie beide ein ungerechter Ort.

Ava hatte Mühe, ihre Stimme wiederzufinden. „Guten Tag, Sir. Könnten Sie … Könnten Sie mir bitte sagen, wo ich Dorothee Norgaard finde?“, fragte sie. Obwohl Ava vier Jahre lang eine Norgaard gewesen war, klang der norwegische Name mit ihrem irischen Akzent immer noch nicht richtig. Der Mann schielte auf die Reisetasche in Avas Händen, die sie fest umklammert hielt, und fuhr dann mit seinem Blick von ihren staubigen Schuhen bis hinauf zu ihrem Gesicht.

Auch wenn sich Ava nun noch mulmiger fühlte als zuvor, lockerte sie ihren Griff um den Lederriemen ihrer Tasche und erinnerte sich daran, dass sie das Schild korrekt gelesen hatte. Die Norgaard-Farm. Hier musste sie sein. Ava war einfach zu weit und zu lange gereist, um nicht am richtigen Ort zu sein.

Missmutig schob sich der Mann die Ärmel seines Karohemdes über die Ellbogen und deutete dann mit seinem Daumen über die Schulter. Offensichtlich war der Bursche kein großer Redner. Warum Ava ihn als Bursche bezeichnete, wusste sie nicht. Immerhin wirkte der Fremde deutlich erwachsener als sie mit ihren einundzwanzig Jahren. Stark und robust stand er vor ihr, ähnlich den Bäumen, die das Land säumten. Auch er schien einige Lasten auf seinen breiten Schultern tragen zu müssen.

Endlich gab sein Blick den ihren frei und der Mann wandte sich um und deutete erneut auf den vor Ava liegenden Weg. Also gut. Das bedeutete wohl, dass sie in diese Richtung weiterlaufen sollte. Sie schenkte ihm ein leises Dankeschön, was der Mann mit einem Nicken beantwortete. Als Ava an ihm vorbeiging, spürte sie den Blick seiner braunen Augen auf ihr ruhen.

Nach nur wenigen Schritten hielt Ava inne. Dieser Mann hatte die gleiche Stirn wie ihr Benn. Auch sie zeigte die stolzen Züge nordischer Herkunft. Obwohl sich die Haare des Fremden von Benns hellen Locken unterschieden wie der Tag von der Nacht, entdeckte sie etwas Bekanntes an seinem Auftreten. Dieselbe stramme Haltung und derselbe ernste Blick. „Könnte es sein, dass Sie einer von den Norgaards sind?“, fragte Ava in der Hoffnung, dass ihr irischer Akzent nicht zu unverständlich war. Offensichtlich hatten die meisten Amerikaner ein Problem mit ihrer Aussprache.

Zwei Eimer entfernt von den anderen kniete der Mann wieder auf dem Boden und sammelte Äpfel. In seinem Blick lag diesmal Bedenken. Er hatte etwas Wildes an sich, das – gepaart mit seiner Stille – Avas Unbehagen noch verstärkte. Doch dann nickte er. Ava lächelte ein wenig. Dieser Mann war kein Fremder, sondern gehörte zur Familie. „Ich bin Ava. Benns Witwe“, stellte sie sich vor. Wieder nickte der Mann, als hätte er das bereits geahnt. Vielleicht war er ein Onkel der Kinder. Wieso hatte Dorothee ihn dann nie erwähnt?

„Also“, begann Ava und deutete auf den Weg vor sich. Als ihr eine Strähne ihres rostroten Haares ins Gesicht fiel, wischte sie sie rasch fort. „Ich soll hier entlanggehen?“, fragte sie und wieder nickte der Mann, was Ava erneut ein Lächeln entlockte. „Ich danke Ihnen, Mr Norgaard.“ Sie umfasste den Griff ihrer Reisetasche wieder ein wenig fester und machte sich auf den Weg. Immer noch konnte sie den Blick des Mannes auf sich spüren. Komischer Vogel.

Kurze Zeit später erblickte Ava vor sich ein großes rotes Haus. Ausgeblichen und verwittert wie es war, erinnerte es mehr an eine Scheune als an ein Wohnhaus. Doch mit dem Schaukelstuhl auf der Veranda und der aufgespannten Wäscheleine handelte es sich offensichtlich um Letzteres. Nach einem Blick über ihre Schulter bemerkte Ava, dass der Mann ihr folgte. Immerhin in einigem Abstand, so viel musste sie ihm lassen.

Trotzdem blickte sich Ava im Weitergehen alle paar Baumreihen um, bis die Plantage schließlich endete und sich ein riesiger Hof vor ihr eröffnete. Die dicken, verzweigten Äste gaben den Blick auf verschiedene Schuppen und Nebengebäude frei. Zwei der Gebäude waren massiv, weiter hinten entdeckte sie einen fast vollständig verkohlten Schuppen. Um die meisten Gebäude herum stapelten sich haufenweise Holzkisten und mehr Metalleimer, als sie jemals auf einer Farm zu Gesicht bekommen hatte.

Jetzt hielt Avas stummer Begleiter an und verschränkte die Arme vor der Brust. Zögerlich machte Ava genau in dem Moment einen weiteren Schritt auf das Haus zu, als ein zweiter Mann aus diesem heraustrat. Obwohl er genauso groß war wie der erste, war dieser Mann eher drahtig gebaut. Seine Haare waren zwar etwas heller, aber genauso lang – zumindest dem ersten Anschein nach, da dieser Mann das Haar zurückgebunden hatte.

Schwere Stiefel traten die Stufen hinunter. Noch ein Norgaard? Avas Blick huschte umher und suchte nach einem Hinweis auf die Kinder. Doch es war weder auch nur ein Spielzeug zu entdecken, noch hatte eines der Kleidungsstücke an der Wäscheleine annähernd Kindergröße.

Ava betrachtete den Fremden auf der Veranda und widerstand dem Verlangen, den kleinen Anhänger von ihrer Mutter an der Kette um ihren Hals zu berühren. Dies tat sie oft, wenn sie nervös war. „Hallo, Sir“, sagte Ava, trat näher und streckte dem Mann ihre Hand entgegen. Als er sie ergriff, wirkte Avas Hand plötzlich ganz winzig in seiner. „Mein Name ist Ava. Ich war mit Benn verheiratet“, stellte sie sich zum zweiten Mal vor. Obwohl es ihr komisch vorkam, so mit der Tür ins Haus zu fallen, wusste sie nicht, wie sie sich sonst vorstellen sollte. „Ah“, sagte der Mann und studierte sie für einen Moment. „Es ist mir eine Freude, Sie endlich kennenzulernen, Ma’am“, sagte er dann. Nachdem er sich geräuspert hatte, nannte er ihr seinen Namen. Jorgan.

Ava kannte diesen Namen aus vielen von Tante Dorothees Briefen. Darin war Jorgan nicht mehr als ein kleiner Junge gewesen. Doch diese Beschreibung passte nicht im Geringsten zu dem Mann, der vor ihr stand. Definitiv hatte Dorothee die Söhne nicht als Männer dargestellt. Noch bevor sich Ava einen Reim darauf machen konnte, trat ein weiterer Mann aus dem Haus. Obwohl der Charme des dritten Bruders bis ins Detail beschrieben worden war, wurde das Lob seiner Großtante diesem Mann nicht gerecht, der niemand anderes als nur der sehr erwachsene Haakon sein konnte. Seine strahlend blauen Augen nahmen Ava gefangen, und obwohl er glatt rasiert war, zerschlug sein muskulöser Körper jeden Gedanken daran, dass es sich bei den Norgaard-Nachkommen um Kinder handeln könnte.

Als Panik in Ava aufzusteigen drohte, sagte Jorgan: „Und das ist Haakon. Er ist der Jüngste.“ Mit einer Birne in der einen und einem Messer in der anderen Hand schnitt Haakon sich ein Stück ab und führte es auf der flachen Seite des Messers zum Mund. Sein markantes Gesicht spiegelte nichts als Unfug wider. „Wir haben uns schon gefragt, ob Sie auftauchen würden“, fuhr Jorgan fort.

Ava schluckte schwer. Wie hatte sie so falschliegen können? In Gedanken ging sie Dorothees Briefe durch. Immer wieder wurden die männlichen Nachkommen der Norgaards alles andere als Männer dargestellt. Jungen hatte Dorothee sie genannt. Sie hatte Andeutungen über die Abenteuer und den Unfug gemacht, den sie anstellten, und von ihren ungehobelten Manieren und den Bedarf nach einer festen Hand und Leitung erzählt. Selbst von Strafen hatte sie geschrieben. Vor allem, wenn es um Haakon ging. Denselben Haakon, der nun auf Ava herabgrinste und so aussah, als hätte ihm schon seit einiger Zeit keiner mehr so wirklich den Hosenboden versohlt.

Mittlerweile zitterten Avas Hände und sie presste sie gegeneinander. Aus ihrem Versuch, mit fester Stimme zu antworten, wurde nicht mehr als ein leises Flüstern: „Es freut mich, Sie kennenzulernen, Sirs. Ich vermute, Sie sind … die Brüder? Die Söhne?“

Wessen Söhne, daran konnte Ava sich nicht mehr erinnern. Dorothee hatte nur selten etwas von den verstorbenen Eltern berichtet. Mit einem Mal löste sich der Gedanke an drei verwahrloste Kinder in Luft auf, die Avas Unterstützung nötig gehabt hätten. Oder ihre mütterliche Fürsorge. Tante Dorothees Schilderungen waren wirklich irreführend gewesen. Avas Verlangen, endlich mit ihr sprechen und das Missverständnis aufklären zu können, wurde immer stärker.

„Genau. Ich bin der Älteste“, sagte Jorgan. „Am besten nennen Sie uns einfach beim Vornamen. Immerhin gehören Sie zur Familie und müssten ansonsten ziemlich oft Mr Norgaard sagen. Wie mir scheint, haben Sie Thor bereits getroffen. Er ist der Zweitälteste.“ Mit seinem Finger deutete er hinter Ava auf den dunkelhaarigen Mann, der noch immer ein paar Schritte entfernt stand. Denjenigen, der so stark aussah wie ein Ochse und den Blick noch immer nicht von Ava abgewendet hatte.

Thorald. So war er in den Briefen genannt worden. Es hatte immer so geklungen, als nehme er einen besonderen Platz im Herzen seiner Großtante ein. Aber um nichts in der Welt hätte Ava den Namen mit diesem Mann in Verbindung gebracht. „Richtig“, sagte sie. „Wir … sind uns schon begegnet.“

Jorgan lächelte schief. „Entschuldigen Sie. Thor redet nicht besonders viel.“

Das hatte Ava bereits herausgefunden.

Jorgan schielte an ihr vorbei und ließ dann seinen Blick schweifen, als würde er nach Worten suchen. „Sind Sie vom Bahnhof hierhergelaufen?“, fragte er.

„Ja“, antwortete Ava. Ihre schmerzenden Füße erinnerten sie an jede einzelne Meile von der Stadt bis hierher.

„Entschuldigen Sie, dass wir nicht gekommen sind, um Sie abzuholen. Und mein Beileid wegen Benn.“

„Danke“, erwiderte Ava leise. Sie setzte ihr Gepäck auf dem Boden ab und wusste nicht recht, was sie sagen sollte. Ihr Ehemann – der Cousin der Männer – war tot. Und Ava nun hier in Amerika.

Wieder schnüffelte der Hund an ihren Schuhen und Haakon schnippte mit den Fingern. „Grete!“ Sofort trottete der Hund, der wohl eine Hündin war, an seine Seite.

Ava sah sich um. Nachdem sie nun die Bekanntschaft mit drei Männern gemacht hatte, war sie mehr als bereit, endlich eine Frau zu sehen. „Könnten Sie mir vielleicht sagen, wo ich Tante Dorothee finden kann?“

Jorgan schielte zu seinen Brüdern hinüber, bevor er sich den Nacken rieb. Mit sorgenvoll zusammengezogenen Brauen wandte er sich schließlich an Ava. „Daraus schließe ich, dass Sie meinen Brief nicht erhalten haben.“

Kopfschüttelnd verneinte Ava.

Jorgan umfasste seinen anderen Arm knapp oberhalb des Ellbogens. „Sie ist … Ich fürchte, Ihnen sagen zu müssen, dass Dorothee … gegangen ist. Vor nun zwei Monaten.“

„Wohin ist sie gegangen?“, fragte Ava. Im selben Moment lief sie rot an. Plötzlich fühlte sich ihr Trauerkleid viel zu eng und zu schwer an.

„In-In den Himmel“, antwortete der älteste der Brüder.

„Höchstwahrscheinlich“, fügte Haakon hinzu und schob sich ein weiteres Birnenstück in den Mund.

Avas Magen verkrampfte sich. Hitze stieg ihr in den Kopf und die Welt um sie herum drehte sich. „Sie ist … verstorben?“, fragte sie atemlos.

Mitfühlend senkte Jorgan seinen Kopf. „Es tut mir leid, es Ihnen auf diese Weise mitteilen zu müssen. Ich habe Ihnen sofort einen Brief geschrieben in der Hoffnung, er würde Sie noch vor Ihrer Abreise erreichen“, erklärte er. Dann betrachtete er ihre vom Wind zerzausten Haare. „Wie ich sehe, war ich zu spät.“

Ava musste sich hinsetzen, aber hier gab es nichts außer dem Staub unter ihren Füßen. Ohne auf ihr Kleid oder ihre Strümpfe zu achten, ließ sie sich auf die Erde nieder. Plötzlich fühlte Ava sich schrecklich klein. Blinzelnd sah sie in den klaren blauen Himmel empor. Er erinnerte sie unverhohlen daran, wie weit entfernt sie von Norwegen war. Oder Irland. Sie war hier in Virginia. An einem Ort namens Blackbird Mountain. Und hier war keine Tante Dorothee.

Obwohl Ava mit dieser Frau keine Blutsverwandtschaft verband und durch den Briefwechsel zwischen ihnen nicht mehr als eine einfache Freundschaft entstanden war, war Benns Großtante alles gewesen, was ihr von einer Familie geblieben war.

„Was soll ich nur tun?“, flüsterte sie zu sich selbst.

Der älteste Bruder, Jorgan, kam an ihre Seite. Er kniete sich in den Staub und stützte sich mit seinen von der Arbeit rau gewordenen Händen auf dem Boden zwischen ihnen ab. „Miss?“, fragte er.

Zitternd sog Ava die Luft ein und sah dem Mann ins Gesicht. „Was soll ich nur tun?“, frage sie erneut.

„Sie … Sie legen einfach Ihren Arm in meinen“, schlug Jorgan vor und machte Anstalten, ihr aufzuhelfen. „Kommen Sie herein. Miss Ida, unsere Haushälterin, wird Ihnen etwas zu essen geben.“

Jorgan half ihr die wenigen Stufen zur breiten Veranda hinauf und führte sie zur Haustür. Mit vor Verwirrung hochgezogenen Brauen hielt der jüngste der Brüder sie offen. Jorgan führte Ava in die Küche, zog einen Stuhl vom Tisch und half ihr, darauf Platz zu nehmen. Im selben Moment trat eine Frau aus der Speisekammer, deren Haut so dunkel wie Zimtstangen war. Mit einem freundlichen Lächeln brachte sie Ava eine Tasse Kaffee und eine Scheibe Gewürzbrot. Ava rührte weder das eine noch das andere an. Stattdessen verschränkte sie die Hände zwischen ihren Knien, um sie vom Zittern abzuhalten.

Undeutlich hörte sie die Frau sagen: „Sie ist ziemlich blass.“

Dann Haakons Stimme: „Sie ist ja auch Irin.“

Ava rührte sich nicht.

„Ich meine damit, dass sie sicher gleich umkippt, Haakon. Ohnmächtig wird“, erklärte die Frau und legte Ava ihre kühlen Hände an die Schläfen. Beinahe hätte Ava die Augen geschlossen.

„Sie wusste nichts von Dorothees Ableben“, sagte Jorgan mit gedämpfter Stimme.

Ein Stuhl schabte über den Boden und Jorgan setzte sich neben Ava. Die Frau reichte ihm ebenfalls eine Tasse Kaffee. Aus dem Augenwinkel sah Ava, wie Thor den Raum verließ.

„Alles in Ordnung mit Ihnen?“, fragte Jorgan sanft.

Ava nickte, doch selbst diese kleine Bewegung fühlte sich unwirklich an. Verzweiflung machte sich in ihrer Kehle breit und brannte dort stärker, als es der Fußmarsch diesen Berg hinauf getan hatte. Sie neigte den Zinnbecher in ihrer Hand, doch beim Anblick der dampfenden Flüssigkeit zog sich ihr der Magen zusammen.

„Sie sind trotzdem willkommen hier“, sagte Jorgan und schien es ernst zu meinen.

„Aber wir haben keinen Platz, wo wir sie unterbringen können“, warf Haakon nicht gerade leise ein.

Ava sah sich um. Die Dämmerung war hereingebrochen. „Gibt es denn … Gibt es noch mehr Familien in der Gegend?“

„Nein, Ma’am“, antwortete Haakon. Seine stechend blauen Augen verloren an Reiz, als er Ava von oben bis unten musterte. „Nur uns.“

Niemand rührte sich. Unbeweglich verharrte jeder an seinem Platz, der stickigen Luft gleich. Ava legte sich die Hand auf die Stelle an ihrer Brust, an der sie ihren pochenden Herzschlag spüren konnte. Sie atmete tief in ihre schmerzenden Lungen ein. Jetzt war nicht die richtige Zeit, um zu verzweifeln. Trotzdem wurde ihr Zittern immer schlimmer, schwoll an wie eine Flut. Die Welt verschwamm vor Avas Augen und irgendjemand sagte ein paar Worte, die sie nicht verstehen konnte.

Die Veranda knarzte, gefolgt von schweren Schritten. Einen Moment später wurde ein Glas Wasser vor ihr abgestellt. Ava spähte hinauf und blickte in Thors Gesicht. Wasser tropfte vom Glasrand, als sei es gerade erst an einer Quelle gefüllt worden. Als Ava das Glas nicht ergriff, schob Thor es ihr entgegen und trocknete sich anschließend die Hände an der Hose.

Ein kleiner Schluck des kühlen Wassers lief Avas Kehle hinab und sie überwand sich, ihrem Wohltäter ein Danke zuzuflüstern.

Mit einem leichten Humpeln kam die Haushälterin näher und legte zärtlich ihre Hand auf Avas. Im sanften Blick der Frau lag Besorgnis. Dieses Feingefühl ließ Tränen in Avas Augen treten. Die Frau bat die Männer, sie für einen Moment alleine zu lassen. Nachdem sie die Küche verlassen hatten, drückte die Haushälterin Avas Hand erneut. Diese schloss ihre Augen und schickte ein Gebet in den Himmel, nein, eher eine Bitte, dass dieser Tag nur ein Traum war.

„Nun lass nicht den Kopf hängen. Wir werden schon dafür sorgen, dass es dir wieder gut geht. Besser als gut. Ich versprech’s dir. Ich schmeiße den Haushalt hier schon seit fast dreißig Jahren. Früher haben die Jungen mich Mommy genannt, aber jetzt sagen sie nur noch Miss Ida. Ich werde gut für dich sorgen“, versprach die Haushälterin. Ein paar verirrte graue Haare kräuselten sich um ihre glänzende Stirn und in ihren Augen lag so viel Freundlichkeit, dass Ava zwischen all der Unsicherheit einen kleinen Hoffnungsschimmer wahrnahm. „Du musst dich vor nichts fürchten. Die Norgaards sind alles gute Jungen. Hab sie selbst erzogen und sie sind treuere Seelen, als du dir vorstellen kannst“, fuhr Ida fort.

Ava nickte langsam.

„Also dann“, sagte die Haushälterin und bedeutete Ava, mit ihr weiter ins Hausinnere zu gehen. Ein Haus, das unter derselben Leere zu stöhnen schien, die Ava in ihrem Inneren spürte.

Dennoch unterschied sich dieser Ort deutlich von dem Leben, das Ava bis jetzt gekannt hatte. Vielleicht würde sie hier endlich Sicherheit und Ruhe finden. Oder sogar ein Zuhause. Hatte Dorothee nicht genau davon gesprochen? Die Verse, die sie Ava zugesandt hatte, hatten schließlich dafür gesorgt, dass Ava es wagte, aus den Schatten ihrer Vergangenheit herauszutreten, hinauf auf die Gangway des Schiffes.

Der HERR wird eine Zuflucht sein dem Unterdrückten, eine Zuflucht in Zeiten der Not. Mit einem beherzten Griff brachte Miss Ida sie beide zum Stehen. Dann hob sie Avas Reisetasche hoch, als würde das Gewicht ihrer dünnen Gestalt nichts ausmachen. „Es gibt eine Sache, die du über Haakon wissen solltest: Er weiß nicht immer, wovon er redet“, sagte Ida an Ava gewandt und drückte freundlich ihren Arm. Dann winkte sie Ava hinter sich her. „Lass uns einen Platz für dich finden.“

Mein Herz hört deine Worte

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