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Fünf

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Das flackernde Licht der Laterne warf unruhige Schatten an die Wand der kleinen Hütte. Ava saß auf dem Boden inmitten von Dorothees Schätzen. Beschriftete und datierte Kisten in jeder Form und Größe, die Geschichten von der Frau erzählten, die deren Inhalt gesammelt hatte. In den Schatullen befanden sich Schnittmuster, die großen Leinensäcke waren gefüllt mit Spitze und anderen Besätzen. Ein dunkelblaues Glasgefäß enthielt Knöpfe in jeder Form und Farbe. Ava selbst lehnte an einem großen Fass, das mit Stoffen gefüllt war. Von gemustertem Baumwollstoff bis hin zu schweren Polsterstoffen war alles darin zu finden. Nach und nach würde Ava all diese Schätze gebrauchen können, aber heute Abend war sie lediglich auf der Suche nach Stickgarn.

Beim Öffnen einer weiteren Zinnschatulle entdeckte Ava mehrere Rollen bunten Garns. Sie hielt die verschiedenen Farben nacheinander an das bestickte Deckchen, das Jorgan ihr vorhin gegeben hatte. Bald schon hatte sie das richtige Hellgrün für die zarten Ranken und das elfenbeinfarbene Garn für die Blütenknospen gefunden. Die beiden Garne hatten sich ineinander verschlungen, sodass Ava nach der kleinen Schere griff und sie voneinander befreite.

Plötzlich hörte sie näher kommende Schritte und hob den Kopf. Ein dumpfes Geräusch erklang von draußen, dann wurde die Tür zur Hütte mit einem Schwung aufgerissen. Thor polterte mit solch einem Getöse hinein, dass Ava zusammenzuckte. Er winkte sie zu sich heran.

„Was gibt es?“, wollte Ava wissen.

Thors Blick viel auf die Laterne. Mit einem Satz hatte er sie erreicht und das Licht gedimmt.

„Bitte nicht“, sagte Ava und streckte sich, um es wieder aufzudrehen. Mitten in der Bewegung packte Thor ihr Handgelenk und hielt sie fest.

Erschrocken riss sie sich los, doch auch diesmal hinderte Thor sie daran, das Licht aufzudrehen. Was war hier los? Er kam näher. So nah, dass ihre erhobene Hand gegen seine Brust drückte. Ava wehrte sich und schlug gegen die stählernen Muskeln, als Thor sich hinkniete. Ein Schrei stieg in ihrer Kehle auf, doch sofort legte Thor seine riesige Pranke auf ihren Mund.

Avas Herz pochte so schnell, dass es wehtat. Er war ihr so nah, dass sie den penetranten Geruch von Alkohol aus jeder Pore seines Körpers riechen konnte. Wie viel hatte er heute Abend getrunken?

Ava stieß ihn so hart von sich weg, wie sie nur konnte. Doch Thor rührte sich keinen Millimeter. Nachdem er sich eine Schrotflinte auf den Schoß gelegt hatte, legte er den Zeigefinger an die Lippen. Mit derselben Hand berührte er sie dann so vorsichtig an der Schulter, dass Avas Magen sich umdrehte. Thors Gesicht kam immer näher und er blickte Ava tief in die Augen, als wolle er ihr auf diese Weise erklären, was er von ihr wollte.

Pures Grauen schnürte Ava die Kehle zu. Sie wollte seine Hand lösen, doch Thor ließ sie nicht los. Wie hatte sie nur so naiv sein können? Hatte sie wirklich geglaubt, sie könne ihm vertrauen? Die Panik übermannte sie und sie begann um sich zu treten. So fest und hoch, wie sie nur konnte.

Thor schlug ihren Fuß einfach weg. Der ärgerliche Blick, den er ihr dabei zuwarf, war einfach zu viel. Erst recht, als er mit dem nächsten Atemzug die Laterne ausblies.

Dunkelheit legte sich über sie beide und Avas Instinkt ließ sie zurückzucken. Hart stieß ihr Kopf an das hölzerne Fass und stechender Schmerz fuhr ihr durch den Schädel. Als Thor sie vom Boden aufhob, erinnerte Ava sich gerade noch an die kleine Schere. Schnell schlossen sich ihre Finger um das kühle Metall. Die Schere war klein genug, um sie in der Hand zu verbergen.

Als Thor sich in Richtung Tür wandte, versuchte sie sich loszureißen. Seine Hand legte sich erneut auf ihren Mund. Ava schrie, aber seine Pranke ließ jeden Ton ersticken. Ava biss ihm in den Finger. Thor jaulte auf.

Knurrend presste er sie an sich und schob sie vor sich her. Ava bekam kaum Luft. Unter Anstrengung griff er nach seiner Schrotflinte und schob sich mitsamt seiner Ladung aus der Hütte.

Gerade als er über die Schwelle trat, strampelte Ava in dem verzweifelten Versuch mit den Beinen, ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Doch als er stolperte, riss er sie mit sich zu Boden. Hart landeten sie auf dem staubigen Boden, der Gewehrlauf drückte Ava in den Rücken. Thor lag mit seinem ganzen Gewicht auf ihr und presste sämtliche Luft aus ihren Lungen. Sie keuchte und rang nach Luft.

Noch immer hielt Ava die Schere in der Hand. Sie versuchte sich gegen den strammen Arm zu wehren, der unter ihren Rücken fuhr. Ohne lange zu überlegen, stieß sie mit der Spitze der Schere so schnell und fest zu, wie sie nur konnte.

Thor presste seinen Mund an ihre Schulter, wodurch sein erbitterter Aufschrei gedämpft wurde. Bei diesem Laut fuhr es Ava eiskalt den Rücken hinunter. Tränen stiegen ihr in die Augen. Thor riss sie hoch. Halb zerrte, halb schleppte er sie von der Hütte fort.

Nach ein paar Schritten stolperte er erneut und hätte sie beinahe wieder zu Boden gerissen. Ihr Mieder saugte sich voll mit seinem warmen Blut, das ihm den Arm hinunterrann. Vor ihnen lag das Haus. Ruhig und still lag es inmitten des sanften Mondlichts. Wieso schleppte er sie zum Wohnhaus?

Aus dem Augenwinkel sah Ava einen unnatürlichen Lichtschein. Er war zu golden und außerdem zu nah, um vom Mond zu stammen. Nach nur einem Blick erkannte Ava, dass das Licht sich bewegte. Ein stetiges, unheimliches Auf- und Abhüpfen vieler Fackeln, die durch die Nacht getragen wurden. Avas Augen wurden noch größer, als der flackernde Schein maskierte Gestalten offenbarte.

Thor stieß sie gegen die Tür und allein seine Größe hielt sie dort gefangen, während er nach dem Türknauf tastete.

Aus der Ferne beobachtete Ava, wie die Gruppe großer, gespenstisch aussehender Personen den Hof betrat. Spitz zulaufende weiße Kapuzen saßen auf ihren Köpfen. Zwei kleine Löcher waren jeweils für die Augen hineingeschnitten. Ein paar der Gestalten trugen statt der weißen Kutten schlichte Leinensäcke mit grob ausgeschnittenen Augenschlitzen.

Hätte Thor sie nicht davon abgehalten, hätte Ava erneut geschrien. Während er noch immer mit dem Türknauf kämpfte, presste er sie fester gegen die Tür. Schließlich hämmerte er mit der blutverschmierten Hand gegen das dicke Holz. Mit einem Schwung wurde die Türe aufgerissen. Thor und Ava landeten auf dem Küchenboden. Sofort zog Thor Ava vom Eingang weg und trat die Tür zu.

Durch das schwache Licht einer einzelnen Kerze blinzelte Ava in die verblüfften Gesichter von Haakon und Jorgan. Sie rutschte von Thor fort und ließ die Schere klappernd zu Boden fallen. Was war hier los?

Ida kam hereingestürmt. Thor lag auf dem Rücken, seine Brust hob und senkte sich schnell. Blut sickerte durch sein Hemd direkt oberhalb des Ellbogens. Jorgan kniete sich neben seinen Bruder und rief nach einer Laterne.

„Ist er angeschossen worden?“, fragte er mit scharfer Stimme, während er den blutigen Ärmel aufriss.

Stöhnend richtete Thor sich auf und deutete auf Ava. Noch nie hatte sie ihn so wütend gesehen. Er symbolisierte eine Schere mit zwei Fingern und schlug dann mit dieser Faust in Richtung seines blutenden Arms.

Die Kinnlade kippte Jorgan hinunter, als er sich auf seinen Knien zu Ava umdrehte. „Du hast mit einer Schere auf ihn eingestochen?“

„Er hat mich gepackt!“, verteidigte Ava sich.

Jorgan schielte zu dem Bären von einem Mann hinüber, dessen Augen noch immer gefährlich blitzten.

Haakon schnaubte, angelte sich eine Schrotflinte vom Tisch und verließ die Küche. Noch immer das Bild dieser maskierten Gestalten vor Augen, ließ Ava sich gegen den Küchenschrank sinken. Mit beiden Händen strich sie sich das Haar aus dem Gesicht. Thor schnitt mit der Hand durch die Luft und legte dann die Fingerspitzen seiner beiden Zeigefinger aneinander. Zuletzt deutete er mit einem davon auf sie. Er blickte so ernst zu Ida empor, dass seine Verzweiflung Ava durch Mark und Bein fuhr.

„Ich sag’s ihr, Thor. Ich sag’s ihr.“ Die grauhaarige Frau kniete sich neben ihn und umwickelte seinen Arm mit einem langen Stofftuch. Als sie ihn fest zusammenknotete, zuckte er zusammen. Dann stand Thor auf, griff nach der Flinte und verließ mit einem letzten, finsteren Blick auf die Schere den Raum.

Nun wandte Ida sich freundlich, aber bestimmt an Ava: „Er hat gesagt, dass er dir niemals wehtun würde.“ Sie griff nach Avas Hand und drückte sie. „Es gibt ein paar Dinge, die du über Thor wissen musst. Jetzt ist nicht die Zeit dafür, aber sei gewiss, dass er dir nichts Böses wollte. Er wollte nur helfen.“

Bedrückt ließ Ava den Kopf hängen. „Es tut mir leid“, murmelte sie.

Ida warf Jorgan einen scharfen Blick zu. „Und euch allen sollte das eine Lehre sein, nicht immer so verflixt stur zu sein und alles zu vertuschen. Das arme Mädchen ist zu Tode verängstigt. Hat keine Ahnung von Thor, weil niemand ihr davon erzählt hat.“ Frustriert wischte Ida sich mit dem Handrücken über die Stirn. „Morgen früh solltet ihr das nachholen.“ Reumütig ließ Jorgan die Gardinenpredigt über sich ergehen und nickte.

Sanft drückte Ida Avas Hand und ließ dann ihren Blick über das blutverschmierte Kleid gleiten. „Hast du dich verletzt oder ist das Thors Blut?“

„Seins“, antwortete Ava und dieses Zugeständnis schmerzte sie. „Die blauen Flecken habe ich mir selbst zuzuschreiben.“ Sie stolperte, als Jorgan ihr auf die Füße half.

Noch immer raste ihr Puls, als sie ihm in den angrenzenden Raum folgte. Dort standen zwei Frauen. Ihre Haut hatte die Farbe von Kaffee mit einem Schuss Milch und beide hatten sich gemusterte Schals um den Kopf geschlungen, die das Haar verbargen. Ava erinnerte sich an Jorgans Erzählungen und dass Idas Schwester auf dem Land lebte. Sie musste die ältere der beiden sein. Cora, meinte sich Ava zu erinnern. Bei der anderen Frau musste es sich dann wohl um deren Tochter handeln. Auch ein junger Mann war im Raum. Ein kleines Mädchen spähte zwischen seinen Beinen hindurch, so klein, dass sie nicht älter als sechs Jahre alt sein konnte. Ihre geflochtenen schwarzen Haare wurden von einem gelben Tuch gehalten. Um eines der losen Enden wickelte Cora unaufhörlich ihren Finger.

Mit einer Handbewegung wies Jorgan sie alle an, sich zu setzen. Nachdem er Ava näher an die anderen herangeführt hatte, bat er sie dasselbe: „Bleib unten.“

Ava hätte nicht widersprochen, selbst wenn sie Einwände gehabt hätte. Sie lehnte sich an die Wand und zog die Knie an. Zwei kleine Kerzen brannten an je einem Ende des Raumes und hielten ihn im Halbdunkel. Ihr Rücken tat weh und Ava bewegte ihn leicht. Schmerz schoss durch ihre Hüfte und sie unterdrückte ein Keuchen. Es wäre wohl besser, wenn sie nicht versuchen würde, sich zu bewegen.

Die Längsseite des Großen Raumes war mit Fenstern gesäumt, die damit fast die gesamte Länge der Hausfront ausmachten. Mit über die Schulter geworfener Flinte kletterte Haakon auf den Tisch. Von dort aus griff er nach einem quadratischen Querbalken und schwang seine Füße hinauf und darum herum. Mit etwas Anstrengung hievte er sich hinauf, bis er auf dem schmalen Holz kniete.

Die Flinte hielt er in einer Hand, während er langsam über den Balken zu einem der Dachfenster balancierte. Dort lehnte er sich an die Wand und hob den Rahmen des nächstbesten Fensters an. „Sie brennen das Holzlager nieder“, teilte er den anderen mit. Sein Gesicht wurde von dem flackernden Feuerschein erhellt, doch sein Ton war ausdruckslos. Als würde ihn der Anblick dieser Zerstörung nicht beeindrucken.

Mit derselben Gelassenheit schritt Jorgan im Raum umher. Ohne sich zu bewegen, starrte Thor aus dem Fenster. Hatten sie diesen Angriff erwartet? Oder fühlten sich die Brüder wahrhaftig nicht bedroht? Vielleicht weder noch. Vielleicht wollten sie in diesem Raum einfach die Ruhe bewahren.

Thor lief die Fensterfront entlang. Sein ernstes Profil wurde von dem Halbkreis beleuchtet, zu dem sich der Fackelzug vor dem Fenster bildete. Thor blickte in Avas Richtung, bis Jorgan nach seiner Aufmerksamkeit verlangte. Daraufhin warf er seine Schrotflinte von einer Hand in die andere und zielte dann auf das Glas.

Haakon riss sich vom Fenster los und drückte sich in die Ecke. Die Waffe in seiner Hand war geladen und schussbereit. „Vorsicht!“, rief er mit höherer Stimme als sonst. Die anderen Männer duckten sich, als ein Feuerball durch den schwarzen Nachthimmel auf die oberen Dachfenster zugeflogen kam. Haakon duckte sich und schützte seinen Kopf mit dem freien Arm. Glass splitterte.

Ein mit brennendem Stoff umwickelter Stein rauschte durch die Luft und landete hart auf dem Boden. Jorgan rannte los, um die Flammen zu löschen.

„Nicht schießen!“, rief er und duckte sich wieder. „Damit meine ich dich, Haakon.“ Er zeigte hinauf zu seinem Bruder.

„Ich werde nicht schießen“, rief dieser zurück. Doch nachdem er sich die Glassplitter von Hemd und Hose gestrichen hatte, legte er die Flinte an.

Die Fensterscheibe über seiner rechten Schulter sah aus, als hätte man sie repariert. Plötzlich verstand Ava, wieso der Teppich an manchen Stellen verkohlt war. Das hier passierte nicht zum ersten Mal.

„Sie wollen uns nur Angst einjagen“, sagte Jorgan. Die Hand, die neben Avas lag, war schweißnass vor Angst und Ava drückte sie kurz. Die junge Frau warf ihr einen traurigen Blick zu, obwohl sie im selben Moment dem Kind in ihrem Schoß Worte des Trostes zuflüsterte. Das Schluchzen des kleinen Mädchens verlor sich in dem Blusenstoff ihrer Schwester.

Irgendwo im Obergeschoss zerbrach ein weiteres Fenster.

„Seht nach, ob es oben brennt!“, rief Haakon herunter. Jorgan stieß Thor an der Schulter an und hob seine Finger, die er wie Flammen in der Luft zappeln ließ. Nickend bewegte Thor sich in Richtung Treppe. Beim Vorbeilaufen fuhr er mit der Hand über Avas Kopf, als wolle er sicherstellen, dass sie unten blieb. Blut war durch den provisorischen Verband gesickert, mit dem man seinen Oberarm verbunden hatte.

Einen kurzen Moment später ließen Schritte die Decke über Avas Kopf vibrieren. Als Thor zurückkam, legte er einen verkohlten Stein zur Seite. Wind pfiff durch das zerbrochene Fenster. Daneben stand Haakon und spähte durch den Raum. Seinem Blick nach zu urteilen war irgendetwas nicht in Ordnung.

Plötzlich brüllte er: „Links!“ Ein Splittern kam von der Küchentür, gefolgt von drei hereinstürmenden Männern. Mit ihren Zipfelmützen und den weiten Roben sahen sie riesig aus. Die Gesichter waren verdeckt, als wären sie Gestalten aus der Unterwelt. Doch durch die kleinen Löcher in den Kutten wurden Gesichtszüge echter Menschen erkennbar.

Angst machte sich in Ava breit, doch die Brüder stellten sich unbeugsam den Eindringlingen entgegen. Thor machte einen Satz nach vorne, die Flinte noch immer fest im Griff. Die verhüllten Männer sahen sich im Raum um, ließen ihren Blick zuerst hinauf zu Haakon und dann hinab zu den zusammengekauerten Frauen am Boden gleiten. Auch die Hündin rollte sich zusammen und winselte.

Einer der Männer zeigte mit dem Finger auf Idas Neffen, um ihm deutlich zu machen, dass er entdeckt worden war. Der dunkelhäutige Junge spannte seinen Kiefer an, rührte sich aber nicht vom Fleck.

Dann griff der Anführer der kleinen Gruppe in seine Robe und zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier heraus. Langsam bewegten sich die langen Finger der behandschuhten Hand, als sie das Mitbringsel auseinanderfalteten. Der staubige Saum der Robe glitt über gemusterte Stiefel. In der Luft hing der penetrante Geruch von Rauch.

Die Kapuze neigte sich nach vorn, als die Gestalt zu lesen begann: „Hiermit klagen wir Sie der unerlaubten Vergabe unangemessener Freiheit an.“ Der Mann sprach mit tiefer, langsamer Stimme, die seine Identität verbarg. „Weil Sie jenen das Recht gegeben haben, faul und aufmüpfig zu werden, die zu harter Arbeit geschaffen worden sind.“

Während er sprach, zitterte der steife Stoff vor seinem Mund. „Sollte dieser Warnung unserer noblen Gemeinschaft Glauben geschenkt werden, so zweifeln wir nicht an dem Erwachen einer höheren Gesinnung, die der unseren gleich ist. Wer immer sich dagegen sträubt, riskiert die eigene Seele. Sie wird ihm aus dem Leib geprügelt werden, bis sie sich von dem erbärmlichen Käfig seines Leibes befreit hat.“

Obwohl er nicht eins der vorgelesenen Worte kannte, hechtete Thor auf den maskierten Mann zu und blieb nur eine Armeslänge von ihm entfernt stehen. Sein Blick war starr auf den Kapuzenmann gerichtet, der nun jedem der drei Brüder hintereinander zunickte. Thor war unerschrocken wie ein wilder Bulle, doch als sein Blick mit dem seines älteren Bruders verschmolz, zeigte sich Verletzlichkeit auf seinem Gesicht.

„Wir, die wir selbst nur als bescheidene Aufsicht fungieren, sehen uns zu diesem Aufruf gezwungen. Als jene, die über Gesetz und Heiligkeit wachen, müssen wir diese übergeordneten Werte hochhalten und ehren. Diese Nachricht sollte beherzigt werden, bevor Blut vergossen werden muss.“

Der Mann faltete das Blatt ebenso bedächtig zusammen, wie er es aufgefaltet hatte, und schob es zurück in seine Kutte.

Für einen Moment herrschte Stille. Dann rief Haakon herab: „Das hast du bestimmt alles selbst geschrieben, nicht wahr?“ Jorgan warf ihm einen warnenden Blick zu.

Plötzlich bewegte sich die verhüllte Gestalt auf Ava zu und neigte den Kopf, um sie anzusehen. Der weiße Stoff seiner Kapuze flatterte in der Zugluft des kaputten Fensters und der Tür, wodurch sich die leblosen Schlitze über den Augen gespenstisch bewegten. Er beugte sich herab, um Ava besser sehen zu können.

Immer näher kam der Mann, bis Haakon plötzlich rief: „Noch einen Schritt näher und ich schieße dir die Füße weg, Peter Sorrel!“

Die gespenstische Gestalt sah hinauf zu der Stelle, an der Haakon noch immer zusammengekauert auf dem Balken hockte. Das Holz knarzte, als er sich bewegte, um zu zielen. „Oder meinst du wirklich, dass wir zu dumm sind, um zu wissen, dass du der einzige Trampel weit und breit mit solch riesigen Füßen bist?“

Finster kichernd wandte sich der Mann ab und blickte stattdessen wieder zu Ava. Eine endlos lange Zeit, sodass Ava das Blut in den Adern gefror. Sich hinkniend neigte sich die Gestalt näher der am Boden kauernden Gruppe zu und beäugte nun das kleine Mädchen, das laut zu weinen begonnen hatte. Er griff in seine Robe und streckte dann die behandschuhte Hand aus, als wolle er ihr etwas geben. Ida zog das Mädchen näher an sich heran. Wenn Blicke töten könnten, hätte dieser Mann bereits längst in einem Grab gelegen.

Endlich erhob er sich wieder und ließ ein Fadenknäuel neben dem Kind auf den Boden fallen. Dann drehte er sich um und verschwand hinaus in die Nacht. Die beiden anderen Gestalten folgten ihm. Auf ihrem Weg nach draußen rissen sie mehrere Rahmen von den Wänden, deren Glas klirrend auf dem Boden zerbrach. Einen Moment später ertönte ein mächtiges Geschepper aus der Küche, als die Männer den Tisch mitsamt allem, was darauf war, umwarfen.

Niemand bewegte sich, als schließlich Stille einkehrte.

Dann trat Thor über knirschende Glassplitter hinweg und schloss die Tür. Für einige Zeit stand er am Fenster, als würde er das Ausmaß des Feuers abschätzen wollen. Ohne eine Miene zu verziehen, starrte er nach draußen. Seine Ruhe ließ ahnen, dass die Gefahr sich nicht ausbreitete.

„Sie verschwinden“, sagte Haakon und entsicherte seine Flinte. Bevor er sich mit einem dumpfen Aufprall auf den Tisch gleiten ließ, hängte er sie sich wieder über die Schulter. Das kleine Mädchen wurde stiller, während ihr Weinen in regelmäßigen Schluckauf überging. „Die haben Al wehgetan. Die haben das gemacht“, schluchzte sie.

„Sch…“, murmelte Ida und wiegte das Mädchen sanft wie das Mondlicht. „Sie werden ihm nicht mehr wehtun. Nie mehr.“ Ida versuchte nach einer Decke zu greifen, aber ihr Arm war nicht lang genug. Mit dem starken Wunsch, irgendwie behilflich sein zu können, stand Ava auf, doch Jorgan bat alle, bis zum Morgen außer Sicht zu bleiben. „Morgen haben wir genug Zeit, um uns um das Durcheinander zu kümmern.“

Morgen. Wie sehr sich Ava danach sehnte. Idas Schwester holte ein paar Decken aus einem Regal und Ava half ihr dabei, ein Deckenlager auf dem Boden auszubreiten. Bald schon hatte Ida das Mädchen darauf schlafen gelegt und streichelte ihr über das tiefschwarze Haar. Dabei erfuhr Ava den Namen des Kindes: Georgie. Ihre ältere Schwester stellte sich als Tess vor. Derweil saß der Bruder der Mädchen, Al, auf dem Boden und starrte aus dem Fenster.

Nachdem es sich jeder von ihnen weitgehend gemütlich gemacht hatte, waren einige der Decken noch unbenutzt. Ava sah sich nach Thor um. Sie griff nach einer karierten Wolldecke, die sie ihm anbieten konnte, doch er war nirgends zu sehen.

Haakon lief hinüber zu der Stelle, wo Georgie tief und fest schlummerte, und tippte ihr auf die Nasenspitze, bevor er ihr sanft über die Schulter streichelte. Eine fast schon familiäre Geste. Dann sah er nach Tess, drückte sanft den Arm der hübschen, jungen Frau und wandte sich dann an Ava. Behutsam berührte er mit den Fingerspitzen ihre Wange. „Du hast da eine ganz schön böse Schramme.“

„Ich weiß. Nicht nur da“, antwortete Ava.

Er grinste, als hätte er ihr Gerangel mit Thor beobachtet. Ava war froh, dass er es nicht getan hatte. Obwohl sie in Haakons blaue Augen hinaufsah, konnte sie an nichts anderes denken als an den verletzten Blick in Thors Augen. Wie er diese Bewegungen gemacht hatte – sein stummes Flehen danach, ihr zu zeigen, dass sie bei ihm sicher war. In diesem Moment fühlte sich Avas Kehle so zugeschnürt an wie an ihrem Ankunftstag auf der Farm. Das Schlucken fiel ihr schwer.

Haakon wandte sich ab und trat zu Jorgan ans Fenster. Flüsternd unterhielten sie sich.

Die alte Standuhr am anderen Ende des Raumes erinnerte mit ihrem Läuten an die späte Stunde. Mittlerweile machten sich die vielen blauen Flecken auf Avas Körper bemerkbar und ließen jede Bewegung auf dem Boden zu einer Qual werden. Trotzdem hatte sich Ava vor dem Schlafengehen noch nie so sicher gefühlt. Nicht mit Benn und sicherlich nicht in den Schlafsälen des Armenhauses. An das Anwesen, in dem sie als Kind mit ihrer Mutter gelebt hatte, konnte sie sich kaum noch erinnern. Von Jahr zu Jahr wurden die Erinnerungen brüchiger, ähnlich den vom Baum gefallenen Blättern, die mit der Zeit verrotteten und schließlich ganz zerfielen.

Jetzt war sie hier und für diese Menschen, diesen Ort, war sie unendlich dankbar.

Auch Al griff nach einer Decke und einem flachen Sofakissen und legte sich auf den Boden. Seine Waffe lag neben ihm auf dem Boden und obwohl er bereit war, jederzeit aufzuspringen, schien er vorerst ruhig zu werden.

Avas Augenlider wurden schwer und sie schloss die Augen. In der Stille lauschte Ava dem leisen Säuseln des Windes. Und dem beruhigenden Geräusch von den Schritten der Norgaard-Brüder, die sich nun ebenfalls schlafen legten. Während Ava in den Schlaf hinüberglitt, bemerkte sie nur vage, wie der Leiseste der Truppe sein Nachtlager neben ihr aufschlug.

Mein Herz hört deine Worte

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