Читать книгу Mein Herz hört deine Worte - Joanne Bischof - Страница 8
Zwei
ОглавлениеVon der Veranda aus beobachtete Thor, wie Miss Ida Ava in die Stube führte. Dann trat auch er ins Haus und folgte ihnen. Gerade rechtzeitig betrat er den Großen Saal, um zu sehen, wie die Rothaarige um das ausgeblichene Sofa und den mit Büchern beladenen Beistelltisch herumging. Avas Schritt wurde langsamer, als ihr Blick auf das riesige Geweih über der Feuerstelle fiel. Ihre weit aufgerissenen Augen wanderten anschließend hinab zu dem Feuerholz, das den Kamin auf beiden Seiten flankierte.
Fein säuberlich hatten sie die Scheite gestapelt. Allein die nicht vorhandenen Vorhänge an dem Fenster über dem Kamin störten das Bild. Im Krieg hatte man sie von den Stangen genommen und Kleidung daraus gefertigt. Avas Aufmerksamkeit richtete sich auf die Waffen, die auf einem weiteren Tisch lagen. Dann auf die Munitionsschachtel, die anscheinend erst frisch durchwühlt worden war. Daran war er schuld gewesen, musste Thor zugeben.
Plötzlich warf Ava ihm einen Blick über ihre Schulter zu, als hätte sie die ganze Zeit schon gewusst, dass er da war. Es war der gleiche skeptische Blick, den sie ihm schon vorher zugeworfen hatte.
Warum? Er würde sie nicht anfassen. Und beißen würde er auch nicht.
Avas schwarzer Rock schwang wie eine Glocke von links nach rechts, als sie Miss Ida die Treppe hinauf folgte. Ihre schmale Hüfte sah aus, als könnte sie ein paar gute Mahlzeiten vertragen.
Eigentlich hatte Thor auch hinaufgehen wollen, aber vielleicht sollte er ein wenig Abstand lassen. Seine Arbeit auf der Plantage war für heute getan. Die Eimer hatte er alle gefüllt und mit Jorgans Hilfe die diesjährigen Erntehelfer ausgesucht. Er hatte drei ausgewählt. Jugendliche Negros, die bereits im letzten Herbst gute Arbeit geleistet hatten. Bestimmt würden die Nachbarn sich wieder darüber aufregen. Was bedeutete, dass seine Brüder und er mit uneingeladenen Gästen würden rechnen müssen. Doch diesmal wäre er gewarnt.
Mit diesen Gedanken im Hinterkopf machte sich Thor an die Arbeit und reinigte die Waffen. Er hob ein Gewehr vom Beistelltisch, lud es durch und sicherte es. Dann hob er es auf Augenhöhe, kniff ein Auge zu und visierte mit dem anderen über Kimme und Korn das Regal aus Kiefernholz am anderen Ende des Raumes an. Anschließend ließ er das Gewehr wieder sinken, blies etwas Staub vom Lauf und justierte das Korn. Zufrieden legte er es wieder ab.
Als ob sie ein Eigenleben führen würde, griff seine Hand zu dem Einmachglas, das danebenstand. Wie immer war es halb gefüllt mit dem besten Destillat des Landes. Er hatte zwar schon so viel getrunken, dass er bis zum nächsten Morgen durchhalten konnte, aber trotzdem trank Thor jetzt ein paar großzügige Schlucke. Noch während er das Glas zur Seite stellte, wusste Thor, dass dies nicht der letzte Griff zum Schnaps für heute gewesen sein würde. Mit diesem Gast im Haus würde er sich so viel Mut wie möglich antrinken müssen.
Das verkohlte Ende eines Streichholzes segelte an seinem Gesicht vorbei. Thor wandte sich zu seinem älteren Bruder um, der seine Aufmerksamkeit verlangte. Jorgan zog an einer frisch angezündeten Pfeife und zeigte dann mit ihr zur Treppe, die der neue Hausgast erst vor ein paar Minuten hinaufgegangen war. Schließlich machte er mit nüchternem Gesicht die Geste für schön, indem er die Fingerspitzen seiner geöffneten Hand vor seinem Kinn zusammenführte.
Thor wandte sich ab. Daran musste er nicht erinnert werden. Er spielte mit dem Deckel seines Glases und drehte ihn auf die Öffnung.
Jorgan stampfte auf, um erneut Thors Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Als die Holzdielen unter seinen Füßen nachgaben, warf Thor seinem Bruder einen Blick zu. Jorgan sprach Worte, die Thor zwar lesen, aber niemals würde hören können: „Du weißt, warum Dorothee sie eingeladen hat.“
Thor schloss die Munitionsschachtel, während seine Augen noch immer auf seinem Bruder ruhten, der ihm mit seinen zweiunddreißig Jahren vier Jahre voraushatte.
„Weil du dich niemals etwas traust“, sagte Jorgan. Niemals Haus verlässt, ergänzte er mit Gesten. Während er die Worte mit den Händen formte, baumelte die Pfeife zwischen seinen Lippen.
Ich verlasse Haus, gestikulierte Thor zurück. Er hielt seinen Daumen und zwei weitere Finger in die Luft für drei. Letzten Sonntag war er in der Kirche gewesen und unter der Woche zweimal am Weiher zum Baden. Für ihn war das viel.
Jorgan gluckste. Thor erkannte das an dem Hauch eines Grinsens und dem schnellen Heben und Senken seiner Brust.
Als Jorgan diesmal sprach, konnte Thor ihn nicht verstehen und er deutete auf die Pfeife zwischen Jorgans Lippen. Er zog sie aus dem Mund und sprach deutlicher: „Du bleibst in der Kirche nur für dich.“ Dann schielte er über seine Schulter in die Richtung, aus der er ein Geräusch gehört haben musste. Jorgan sprach nicht weiter, bis Thor seine sich bewegenden Lippen sehen konnte. Diese ungeschriebene Regel befolgten alle in diesem Haus. Trotzdem konnte Thor seinen Bruder auch dann kaum verstehen, da dessen Bart dringend gestutzt werden musste: „Und am Weiher gibt es keine Frauen.“
Thor rollte mit den Augen und versuchte Ruhe auszustrahlen, während das Thema Ava ihn innerlich aufwühlte. Ida kam die Treppe herunter und nickte bestätigend zu Jorgans Kommentar über Frauen, während sie nach dem Besen griff. Frische Bettlaken hingen zusammengefaltet über ihrem Arm und sie humpelte auffälliger als sonst an diesem Abend.
Thor stieß ein leises Seufzen aus. Da hatte wohl jemand gelauscht. Mit dem Zeigefinger zeigte Thor in Idas Richtung und weil er kein Zeichen zu diesem Wort kannte, musste er es buchstabieren: immer E-I-N-M-I-S-C-H-E-N. Verärgert bewegte er seine Hände schneller als sonst, wodurch die einzelnen Buchstabenzeichen verschwammen.
Ida lächelte bloß. Da Thor sich der zahlenmäßigen Unterlegenheit bewusst war, griff er nach seinem Glas und stürmte in Richtung Treppe. Zwei Stufen auf einmal nehmend hechtete er nach oben. Dann schritt er den Flur entlang. Von den vier Türen passierte er zunächst die von Jorgans Zimmer. Bei der nächsten Tür hielt er den Kopf gesenkt und den Blick starr auf den Boden. Hier hatte man Ava vermutlich untergebracht.
Zwar stand ein Bett in dem Raum, aber als er das Zimmer zuletzt betreten hatte, war es unter einem Haufen alter Felle und zwei Körben voller Einmachglasdeckel begraben gewesen. Den aufgetürmten Fellhaufen und Körben im Flur nach zu urteilen, hatte es sich Ava hier wohl gemütlich gemacht. Die nächste Tür führte in Dorothees altes Zimmer. Merkwürdig, dass Ida nicht dieses Zimmer für Ava hergerichtet hatte. Vielleicht wollte sie die Erinnerung an Dorothee noch ein wenig länger erhalten. Die letzte Tür lag am Ende einer zehnstufigen Wendeltreppe, die zum dritten Stockwerk hinaufführte. In dem ausgebauten Dachboden wohnte Thor seit jeher zusammen mit Haakon. Im Sommer war es sehr heiß hier oben, im Winter kalt. Trotzdem war es nicht so schlimm, dass die beiden nicht dankbar für diesen Ort gewesen wären. Der gesamte Raum war gesäumt mit Fenstern. Thors Lieblingsfenster zeigten westwärts hinaus auf den Abhang, auf dem seine Baldwins mit ihren tiefroten Früchten wuchsen. Die Sonne war bereits untergegangen. Allein ein sanfter, rötlicher Schimmer zog sich noch über den Horizont und spähte durch die knorrigen Äste der Apfelbäume.
Nachdem Thor die Tür hinter sich geschlossen hatte, trat er zum Bett und setzte sich auf die Matratze. Dann griff er unter das Bett und zog eine grob gezimmerte Holzkiste hervor. Es befand sich nichts Wertvolles in dieser Kiste, nur eine Ansammlung von Krimskrams. Ein wunderbares Versteck für die eine Sache, die er dort aufbewahrte, wo sie niemandem auffallen würde.
Thor musste nicht erst in die Kiste greifen und das eingerahmte Hochzeitsbild herausziehen, um Avas kaum nach oben gezogene Mundwinkel vor sich zu sehen. Oder zu wissen, dass die junge Braut an der Seite von Benn Norgaard auf den Monat genau siebzehn Jahre alt war. Dass sie aus ihrem Leben in einem irischen Armenhaus gerissen worden war, um einen Mann zu heiraten, den sie nicht kannte. Trotzdem griff Thor – mit Avas Bild frisch vor Augen – in die Kiste und zog das Foto zwischen zwei Büchern hervor. Beides norwegische Bücher, die ebenso zerlesen waren wie die englischen Titel, die Thors Bücherregal füllten.
Er schaute hinab auf die Fotografie und fuhr sanft mit dem Daumen über den Rahmen. Bei dem Anblick von Avas weit geöffneten Augen und ihrem verunsicherten Blick fühlte Thor einen stechenden Schmerz. Benns stolzer Griff um ihre Hand. Das war es, was Thor an diesem Foto immer schon gestört hatte. Ein paar Monate nach der Hochzeit war es mit der Post gekommen. Das Unbehagen in Avas Blick. Wie jung und einsam und verloren sie aussah. Vielleicht konnte Thor nicht hören, aber ganz gewiss konnte er sehen. Besser als manch anderer. Und schon immer hatte er diesen Herzschmerz in ihrem Gesicht gesehen.
Aber Ava war die Frau eines anderen und darum hatte Thor sich geschworen, die Erinnerungen an das irische Mädchen aus seinen Gedanken zu bannen. Anschließend hatte das Foto als Staubfänger an der Wand gedient – neben vielen anderen Fotografien, die dort hingen. Bis die Neuigkeiten über Benns Tod die Farm erreichten. Da hatte Thor das Bild wieder von der Wand genommen und ein weiteres Mal das Gesicht der jungen Frau studiert, die sich an seinen älteren Cousin gebunden hatte.
Die – nun als Witwe – den Namen Norgaard trug.
Das Bild hatte Thor sicher in seiner Kiste verstaut. Zusammen mit dem kleinen Funken Hoffnung, der sich in seinem fest verschlossenen Herz geformt hatte.
Und nun befand sich Ava nur wenige Meter von ihm entfernt. Sie war ihm so nah, dass Thor nur den Flur hinablaufen und an die Tür klopfen musste, um in diese Augen blicken zu können. Um erneut festzustellen, dass ihre Haare tatsächlich die Farbe von Kupfer hatten und dass ihre Haut wirklich so weiß war wie auf der Schwarz-Weiß-Fotografie in seiner Hand. Er hatte sich die Farbe ihrer Haut wie Buttercreme vorgestellt und genauso seidenweich.
Diese Frau, die erst vor ein paar Stunden in der Plantage auf ihn zugekommen war. Als Thor todmüde dort stand, nur eine Armeslänge von Ava entfernt, konnte er kaum die Fragen beantworten, die sie ihm stellte. Vom ersten Moment an hatte Thor gewusst, dass es Ava war. Sein Herz hatte so schnell in seiner Brust geschlagen, dass Thor für einen Moment lang gefürchtet hatte, es würde versagen. Selbst wenn er gewusst hätte, was er ihr hätte sagen sollen, hätte er es nie im Leben aussprechen können.
Er spürte die Holzdielen vibrieren. Thor ließ das Bild wieder in die Kiste gleiten und schob sie außer Sicht. Gerade als er sich aufrichtete, betrat Haakon das Zimmer. Mit zusammengepressten Fingerspitzen führte Haakon seine Hand mehrmals an den Mund.
Zeit zum Essen. Thor erhob sich. Haakon sagte etwas, aber der Satz verlor sich im Dämmerlicht. Thor hasste die Dunkelheit, weil sie seine Welt zusammenschrumpfen ließ. Mit etwas Abstand zwischen den Handflächen ließ er seine geöffneten Hände vor seiner Brust gegeneinanderkreisen, legte dann die Handflächen aneinander und bewegte sie sanft vor und zurück – Gebärdensprache bitte. Eine Freiheit, die er niemals für selbstverständlich gehalten hatte. Zumindest nicht, seit ein Lehrer ihm die Hände zusammengebunden und von ihm verlangt hatte, wie jedes andere Kind reden zu lernen.
Haakon deutete in den Flur und buchstabierte dann A-V-A. Anschließend fuhr er mit dem Zeigefinger vom Auge runter über die Wange. Sie weinte?
„Nicht laut“, sagte Haakon und drehte die Laterne auf. „Ich habe sie gehört, als ich an ihrem Zimmer vorbeikam.“ Dann drehte er sich um. Für nichts in der Welt würde dieser Junge eine warme Mahlzeit verpassen. Kurz bevor er verschwand, drehte Haakon sich noch einmal um. „Warum hat Dorothee sie herkommen lassen?“
Thor zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf. Das war die einzige Antwort, die er Haakon geben würde.
„Scheint, als wären wir gleich alt. Habe das herausgefunden, als ich ihr verklemmtes Fenster repariert habe“, ergänzte Haakon. Dabei ließ er bedeutungsschwanger seine Augenbrauen auf und ab hüpfen, als wäre das Fenster nicht das Einzige, dem er sich annehmen wollte. Noch bevor sich Thor eine Antwort ausdenken konnte, hatte Haakon sich bereits umgedreht und war die Treppe hinabgestürmt.
Nicht wirklich hungrig griff Thor nach dem Einmachglas. Obwohl er kein Verlangen hatte, drehte er den Deckel von der Öffnung, hob das Glas an die Lippen und trank. Unerfüllte Sehnsucht hatte diese Gewohnheit mit der Zeit in ihm reifen lassen. Doch als der Branntwein ihm warm die Kehle hinablief, folgte kein tröstliches Gefühl, und der Alkohol tat nichts gegen die penetrante Erinnerung an Haakons selbstgefälliges Grinsen. Verärgert über seine eigene Schwäche drehte Thor den Deckel wieder auf die Öffnung.
Dann erhob er sich, setzte das Glas beiseite und brachte ein weiteres Mal das Foto zum Vorschein. Steif von dem langen und harten Arbeitstag lief Thor die Treppe hinab. Der Flur lag beinahe in vollkommener Dunkelheit, allein der Schein von Avas Lampe trat unter ihrer Tür hindurch. Thor ging so vorsichtig, wie er nur konnte. Als sie noch jünger gewesen waren und regelmäßig Unfug ausgeheckt hatten, hatte Haakon ihm gezeigt, welche Bodendielen knarzten. Thor versuchte, nicht auf diese zu treten, und hielt dann vor Avas Tür inne.
Zögernd legte er seine Handfläche gegen das Holz. Dann senkte er den Kopf und schloss die Augen.
Da war es. Ein sanftes Beben im Gebälk. Es bewegte sich unter seiner Hand … Der Klang ihrer Trauer. Überwältigt zog sich Thor zurück, dankbar über Idas Anwesenheit. Vielleicht würde sie dafür sorgen, dass Avas Tränen schneller versiegten und sie leichter in den Schlaf finden konnte.
Nach einem letzten Blick auf das Foto – der Beginn einer Geschichte, über die er nichts wusste und offen gestanden auch nicht verdiente – kniete Thor sich nieder und stellte es in die Nische von Avas Tür. Wenigstens etwas, das er für sie tun konnte.