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2 Grundprinzipien der Sozialpolitik

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Das Solidarprinzip (aus dem Franz.: solidaire – wechselseitig für das Ganze haften) ist einfach und es ist umfassend. Menschen leben in gegenseitiger Abhängigkeit. Jedem kann es passieren, auf Hilfe anderer angewiesen zu sein und umgekehrt kann jeder in eine Situation kommen, in der er in der Lage ist, anderen zu helfen.

Das kann in personeller Hinsicht interpretiert werden: Es gibt Menschen, die chronisch krank sind und deshalb dauerhaft, vielleicht sogar ihr Leben lang solidarischer Hilfe bedürfen. Und es gibt eben gleichzeitig Menschen, die nicht chronisch krank sind und deshalb solidarische Hilfe zu geben vermögen. Es kann auch im Hinblick auf die jeweilige Lebenslage interpretiert werden: Jemand ist vorübergehend arbeitslos; ohne solidarische Unterstützung hätte er kein Einkommen. Hat er wieder Arbeit gefunden, so kann er nun selbst andere, die jetzt arbeitslos sind, solidarisch unterstützen.

Das letzte Beispiel erinnert an das Zusammenleben einer Familie. Sind die Kinder klein, dann sorgen die Eltern für sie. Sind die Eltern alt und gebrechlich, wird ihnen von ihren nun erwachsenen Kindern geholfen. In einer kleinen Gruppe wie einer Familie funktioniert Solidarität meist (leider nicht immer) so, wie man es sich wünscht. Die Familienmitglieder lieben sich und gegenseitige Hilfe ist für sie selbstverständlich. Je größer und anonymer die Gruppe aber wird, desto schwieriger ist solidarisches Handeln: Solidarität zwischen den Bewohnern eines Wohnblocks, eines Stadtviertels, einer Stadt, gar der Bevölkerung eines ganzen Landes? – Solidarität stellt sich in den Beispielen mit abnehmender Wahrscheinlichkeit kaum von selbst ein und deshalb ist der Staat gefragt.

Wie und zwischen welchen Gruppen der Staat Solidarität organisiert, das kann recht unterschiedlich sein. In den Ländern der Europäischen Union existieren verschiedene Organisationsformen der Solidarität ( Kap. XI). Hier soll nur gezeigt werden, wie Solidarität in Deutschland ausgestaltet ist.

Das Sozialsystem hierzulande wird dominiert von der Sozialversicherung. Für die großen Risiken des Lebens – Alter, Krankheit, Arbeitslosigkeit, Arbeitsunfall und Pflegebedürftigkeit – gibt es Sozialversicherungen. Der Grundgedanke dabei ist, dass alle Mitglieder einer Solidargemeinschaft, also z. B. die Mitglieder der Gesetzlichen Rentenversicherung oder die Mitglieder einer Krankenkasse, gegenwärtig Beiträge zahlen, aus denen die Leistungen für diejenigen finanziert werden, die gegenwärtig Hilfe brauchen. Das nennt man Umlageverfahren. Jedes Mitglied einer solchen Solidargemeinschaft bzw. Sozialversicherung hat im Bedarfsfall Anspruch auf Hilfe aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Sozialversicherung ( Abb. 2).


Abb. 2: Solidarität in der Sozialversicherung im Umlageverfahren

Kennzeichnend für das Umlageverfahren ist die Gleichzeitigkeit von Beitragszahlung und Leistungsgewährung; alle finanziellen Mittel, die gegenwärtig von den Versicherten eingesammelt werden, dienen der gegenwärtigen Bezahlung von Leistungen. Sie sind deshalb auf eine annähernd gleichgewichtige Entwicklung der Beitragszahlungen und der Leistungsausgaben angewiesen. Sinkt die Anzahl der Beitragszahler oder sinken die Einkommen aus denen sie Beiträge zahlen, während die Leistungen mehr oder teurer werden, so gibt es folgende Möglichkeiten:

• die Beitragssätze steigen oder

• die Leistungsausgaben werden gekürzt oder

• beide Maßnahmen werden kombiniert.

Zum 1.1.2015 hat der Gesetzgeber erstmals einen neuen Weg beschritten. Für die Pflegeversicherung wird aus den Beitragseinnahmen ein kleiner Teil abgezweigt und einer demografischen Reserve zugeführt (in Abbildung 1 gestrichelt dargestellt). Diese Reserve soll dann aufgelöst werden und für Leistungsausgaben verwendet werden, wenn die geburtenstarken Jahrgänge das Alter erreichen, in welchem das Risiko der Pflegebedürftigkeit steigt ( Kap. II 1.2 sowie 4.4).

Typisch für eine Sozialversicherung ist die Versicherungspflicht für bestimmte Personengruppen, in erster Linie Arbeitnehmer bzw. ehemalige Arbeitnehmer. Der Staat überlässt es per Gesetz nicht dem einzelnen, ob er sich versichern möchte oder nicht. Als Begründung dafür kann man anführen, dass vor allem viele junge Menschen ohne Verpflichtung nicht bereit wären, sich gegen Lebensrisiken abzusichern, die mit hoher Wahrscheinlichkeit erst im Alter auftreten. Man nennt dies »Minderschätzung künftiger Bedürfnisse«.

Das Solidarprinzip der Sozialversicherung wird durch ein weiteres wichtiges Prinzip der Sozialpolitik ergänzt: Die Subsidiarität (aus dem Lat.: subsidium = Reserve, Rückhalt).

Subsidiarität heißt, der Sozialstaat wird nur dann aktiv, wenn der Einzelne sich nicht selbst helfen kann. Das ist einerseits für den Staat eine Aufforderung sich nicht in die Belange der Menschen einzumischen, wenn diese des Staates und seiner Hilfe nicht bedürfen. Und es bedeutet andererseits für den Einzelnen, dass er Hilfe durch den Sozialstaat nicht verlangen kann, wenn er in der Lage ist sich selbst zu helfen oder wenn er einer solidarischen Gruppe wie seiner Familie, seiner Sozialversicherung angehört, die ihn unterstützen kann. Im § 2 des Sozialgesetzbuches XII – Sozialhilfe – findet sich unter der Überschrift »Nachrang der Sozialhilfe«, folgende Definition des Subsidiaritätsprinzips:

»Sozialhilfe erhält nicht, wer sich vor allem durch Einsatz seiner Arbeitskraft, seines Einkommens und seines Vermögens selbst helfen kann oder wer die erforderliche Leistung von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen, erhält.«

In der einschlägigen Literatur findet sich für subsidiäre Sozialleistungen häufig der Begriff Fürsorgeleistung.

Nach dem Subsidiaritätsprinzip sind neben den Leistungen nach Sozialgesetzbuch (SGB) XII (Sozialhilfe) das Arbeitslosengeld II, die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsunfähigkeit, das BaFöG und das Wohngeld organisiert: Diese Leistungen werden nach einer Bedürftigkeitsprüfung gewährt. Wenn jemand Sozialhilfe beantragt, dann prüft das Sozialamt zunächst, ob der Antragsteller Lohnersatzleistungen aus einer Sozialversicherung bekommen kann. Wer z. B. als Ersatz für sein Arbeitseinkommen Krankengeld erhält, hat keinen Anspruch auf Sozialhilfe, weil die Krankenkasse als Solidargemeinschaft für ihn eintritt und er folglich den Rückhalt der Sozialhilfe nicht benötigt. Ist keine Sozialversicherung zuständig oder reichen deren Leistungen nicht aus, um den Lebensunterhalt zu sichern, muss der Antragsteller nachweisen, dass weder er selbst, noch seine nächsten Angehörigen ausreichend Einkommen erzielen oder Vermögen besitzen, bevor er Leistungen der Sozialhilfe erhält. Sozialhilfe und alle anderen subsidiären Hilfen sind somit nachrangig.

Subsidiäre Leistungen werden im Gegensatz zu Leistungen der Sozialversicherung aus Steuern finanziert und nicht aus Beiträgen. Wer Mitglied oder mitversicherter Angehöriger einer Sozialversicherung ist, hat aufgrund seiner Eigenschaft als Versicherter automatisch Anspruch auf Leistungen der Sozialversicherung. Subsidiären Leistungen fehlt dieser Automatismus, sie beruhen nicht auf einer Zugehörigkeit zu einer Versicherung.

Nicht alle Sozialleistungen lassen sich unter die beiden Rubriken Solidarleistung und subsidiäre Leistung einordnen. Deshalb wird ein weiteres Prinzip definiert, das Versorgungsprinzip. Der Bezug von Kindergeld ist nicht an die Zugehörigkeit zu einer Sozialversicherung als Solidargemeinschaft gebunden und es wird ohne Bedürftigkeitsprüfung ausgezahlt. Der Leistungsanspruch ergibt sich aus einer Eigenschaft oder Situation. Im Fall des Kindergeldes ist der Leistungsbezug an die Eigenschaft, Eltern von minderjährigen bzw. in Ausbildung befindlichen Kindern zu sein, geknüpft. Dem Versorgungsprinzip werden auch Leistungen nach dem Gesetz über die Versorgung der Opfer des Krieges zugeordnet. Ebenso gehören die Leistungen des Staates an Beamte, wie Beihilfen und Pensionen, zu den Versorgungsleistungen. Wie subsidiäre Sozialleistungen werden sie aus Steuern finanziert ( Tab. 2).

Tab. 2: Solidarität, Subsidiarität, Versorgung


SolidaritätSubsidiarität/FürsorgeVersorgung

Der Sozialstaat in Deutschland gleicht einem großen – mittlerweile über 130 Jahre alten – Gebäude mit vielen Etagen, vielen Eingängen, Anbauten, Umbauten. Um dieser Komplexität gerecht zu werden, hat der Gesetzgeber vor ca. 45 Jahren begonnen, das Sozialrecht in einem Gesetzbuch, dem Sozialgesetzbuch (SGB) zusammenzufassen. Das SGB besteht aus derzeit zwölf einzelnen Büchern; als vorerst letzte wurden im Jahr 2005 im Buch II die Grundsicherung für Arbeitssuchende (sogenanntes »Hartz-IV-Gesetz«) und im Buch XII das Bundessozialhilfegesetz in das SGB eingefügt ( Tab. 3).

Tab. 3: Aufbau des Sozialgesetzbuches


SozialgesetzbuchAufbau

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