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30. Juli 2010. Lemberg

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Liebe Janika

Heute Nacht stürzte der Regen. Das Wasser von den Dächern spritzte aus angerosteten Rohren und bildete im Hinterhof ein weitverzweigtes Netz von Pfützen.

Jugendliche hocken auf kaputten Tischen, trinken Bier, reden und lachen laut, ein kleiner Junge liegt bäuchlings auf einer Schaukel und angelt nach einem Plastikgewehr: Pengpeng! Eine magere Frau mit grünem Regenmantel und grauer Kappe zieht eine Holzstange aus dem Geviert, in dem die Container stehen, und stochert damit im Abfall herum.

Ich stehe auf dem Balkon und rauche.

In der kleinen Wohnung am Prospekt Svobody sind die Kleider aufgehängt, die Bücher sortiert, die Toilettenartikel aufgereiht, das Bett ist gerichtet. Schreibplatz.

Der Besitzer hat mir eine Bratpfanne gebracht.

Ich brauche Milch, Kaffee, Zucker, Joghurt.

Die Verkäuferin im kleinen Supermarkt in der Hrnaluka holt ihre Brille aus der Schublade und studiert mein Wörterbuch. Fürsorglich steckt sie mir zusätzlich zum Vanillejoghurt noch eins mit Aprikosen dazu: Wasser, Käse, Brot.

Salz, Pfeffer, Öl, Essig – du weisst ja, ich bin glücklich, wenn ich die Möglichkeit zum Kochen hab.

Diogo hat seine redaktionellen Kontakte spielen lassen. Marya und Ludmila, zwei russische Übersetzerinnen, erwarten mich. Um die fünfzig, blass, blond und schüchtern freuen sie sich über meine Ankunft, als sei ich eine nahe Verwandte. Sie wohnen bei ihren kranken Eltern – ein Leben wie mit Kleinkindern –, zerrissen zwischen Arbeit, Pflegedienst und dem Bedürfnis, noch etwas anderes zu sein: Liebhaberinnen, Freundinnen, Opernbesucherinnen. Nach dem Vaterländischen Krieg zogen ihre Eltern aus Russland in die Ukraine, um Arbeit und billige Wohnungen zu finden, Zufall, nur Zufall, und Marya und Ludmila blieben in Lemberg.

Nach zwei Tassen heisser Schokolade – dickflüssig und übersüsst – reden wir über Adriano Celentano, Roberto Benigni und Jim Jarmusch. In Wolldecken gehüllt auf der Terrasse des Kawy Swit an der Katedralna.

Zwei junge Roma-Frauen packen mich am Ärmel und reden auf mich ein, so viele Zigeuner hier, lästig, lästig, bemerkt Marya und wedelt mit der Hand. Schwarze Wolken saugen am Licht.

Wir bestellen Tee und Käsekuchen. Marya und Ludmila setzen ihre Erzählung fort: Während der Sowjetzeit habe sich niemand um die Nationalität oder die Religion der anderen gekümmert, mindestens zwei Drittel der Klasse wären jüdisch oder sonst etwas gewesen, man diskutierte über die gleichen Dinge, ging zusammen ins Kino, nach dem Ende der Sowjetunion schossen jedoch jüdische, ukrainische, russische, tatarische, armenische und sonstige Identitäten wie Pilze aus dem dunklen, feuchtwarmen Hummus der vergärten Völkergemeinschaft hervor.

Später zeigen mir Ludmila und Marya den Markt. Helfen, das Abendessen einzukaufen: Nudeln, Tomaten, Frühlingszwiebeln, Suppensellerie, Heidelbeeren und Basilikum. Von der Reise hab ich noch frischen Ziegenkäse.

«Kein Fleisch?» Sie fragen immer wieder. «Kein Fleisch?»

«Nein. Heute nicht.»

Ludmila: «Die ukrainische Küche ist hervorragend. Ich liebe die mit Schweinefleisch gefüllten Piroggen und die mit Leber gefüllten Varenykys. Schau dich mal um.»

Marya: «Hast du unsere Wälder und Pilze vergessen? Meine russische Grossmutter legte Waldpilze, Lorbeer, Pfefferkörner und Wacholder in Salzlake ein. Sowas kriegst du hier nicht.»

Ludmila: «Siehst du! Wir brauchen ein kosmopolitisches Leben.»

Sie nimmt meine Hand und sagt, man solle die Welt der Grenzen, Nationalitäten und Rassismen verlassen und ins Land des Friedens, der Zeichen und Wunder flüchten, man müsse in die eigene Seele einziehen, wie die Schildkröten, die ihr Haus auf dem Rücken tragen, um jederzeit Schutz suchen zu können, wenn sie sich bedroht fühlten.

Und Ludmila weint.

Und schreibt mit einem Bleistift auf eine mit Zwiebeln gefüllte Papiertüte: «Let your sleeves never be wet of tears. You are too beautiful to cry.»

Im benachbarten Museum für Religionsgeschichte, das früher «Museum für die Geschichte des Atheismus» genannt worden ist, liegen in einem beleuchteten Sarkophag zwei dreitausend Jahre alte Skelette in innigster Umarmung. Gestorben während des Liebesakts.

Marya schaut schweigend in den Sarkophag.

Und Ludmila weint.

Ich erinnere mich: Lag nachts im Bett. Heiss. Schob die Decke in der Mitte zusammen und legte die Beine drum herum. Auch eine Art Umarmung. Bewachte die Lichtvorräte, die aus den Strassenlaternen ins Zimmer flossen, und hörte Pauline in der Küche klappern. Obwohl wir nach dem Essen alles spülten und wegräumten, ging Pauline, während ich im Bett auf den Schlaf wartete, in die Küche, arbeitete, als gälte es, eine Grossfamilie zu versorgen. Ich tauchte in die grauen Schatten ein, die das Zimmer in ein abstraktes Gemälde und mich in ein Sujet verwandelten, wartete auf das Abtauchen und legte das Versprechen ab, schnell, ganz, ganz schnell erwachsen zu werden, einen Mann zu finden, ihn mit dem Schleier über dem Kopf siebenmal zu umkreisen: Wein trinken, Gläser zertreten, Ringe austauschen und laut zu singen: Ich bin meines Liebsten und mein Liebster ist mein.

Ich legte den Schwur ab, nicht, wie die Frauen in meiner Familie es üblicherweise tun, allein zu leben, nein, ich wünschte mir eine Familie. Eine ganz normale Familie. Mit Pauline, mit meiner Mutter Marielouise, mit meinem Grossvater Hendrik, meinem unbekannten Vater und ganz vielen Geschwistern. Mit Cousinen und Cousins, mit Tanten und Onkeln. Eine mit Diogo oder Sami oder einem anderen Mann.

Und mein Bauch hätte dauernd ein Kind ausgespuckt, das von den hungrigen Herzen der Grossfamilie geschluckt worden wäre.

Eine solche Familie wäre für dich ein Albtraum. Alle diese Menschen würden dich überwältigen, vereinnahmen und deinen Rhythmus durcheinanderbringen. Eine solche Menschenansammlung mit all ihren unberechenbaren Nöten und selbstbezogenen Bedürfnissen störte deinen Drang nach Perfektion und deinen Wunsch, in allem die Beste zu sein.

Deine wunderbaren, grosszügigen Eltern und dein liebenswerter Bruder treiben dich ja bereits zur Verzweiflung.

Dennoch bist du mit deiner Lautstärke, deinem unbändigen Lachen, deinem Schimpfen und Fluchen, deiner überfüllten, gemütlichen Küche, deiner opulenten Kocherei, deiner Fürsorge, die weder Grenzen noch Skrupel kennt, meine vermisste Familie – die fehlende Stimulation in meinem zurückgezogenen, stillen Universum.

Wir bilden Einheiten gegen den Rest der Welt, um sie gleich darauf zu sprengen, um diesen Rest der Welt uns einzuverleiben.

Du sagst, die Entscheidung, wen oder was wir lieben, gibt Auskunft darüber, wer wir sind und was für uns ein gutes Leben ist.

Auf dem Heimweg kaufe ich bei einer alten Frau Blumen: Der Strauss, Margeriten, Erikas und in der Mitte eine rote Rose, riecht wie das Kraut, das auf der Wiese rund um Paulines Almhütte wuchs. Heftiges Heimweh. Obwohl ich sicher bin, dieses Stück Pauline-Natur, diese Leere – Sommer für Sommer diese Leere –, diese endlosen Tage in verschwitzten Kleidern und dieses über dem Feuer gekochte, nach Rauch schmeckende Essen zu hassen.

Monster zogen ihre langen Mäntel schattenhaft über die buckligen Wiesen, ihre Zähne blitzten in der Finsternis, Eulen lugten von den Bäumen, Füchse brachen durchs Gehölz, Maulwürfe huschten unter die Felsbrocken. Ich verkroch mich klopfenden Herzens und mit weichen Knien in einer Senke, kauerte auf weichen, vom Tag noch warmen Föhrennadeln, Ameisen krabbelten, doch ich blieb, wickelte die Würstchen aus dem rosafarbenen Fettpapier und verschlang sie alle – kaltes, süssliches Fleisch.

Pauline hatte in unseren leeren Vorratsschrank gestarrt und mich ins eine Stunde Fussmarsch entfernte Dorf zum Einkaufen geschickt. Auf dem Heimweg trödelte ich herum, bis der Einbruch der Nacht mich überraschte und Dunkelheit über mich herfiel.

Der Verzehr der Würstchen gab mir Kraft und Zuversicht, die Alm öffnete sich und zeigte sich im Mondlicht als harmloser, gleichgültiger Raum. Ich kroch aus der Senke und lief zur Hütte zurück. In Gedanken bei Pauline, deren Angst ich geradezu roch, stolperte ich immer wieder, rannte weiter, wütend, weil mein ungeschickter Körper mit meinen vorauseilenden Schuldgefühlen und dem ungeduldigen Wunsch, mich zu entschuldigen, nicht mithalten konnte, und von Weitem sah ich Paulines Gestalt, die auf der Bank vor der Hütte sass.

Sie umarmte und wiegte mich. Ich spürte ihre nasse Wangenhaut, hörte ihren stockenden Atem und fühlte den Druck ihrer starken Arme. Und dieses überraschende Liebesglück – in einem Film wäre es ein Happy End gewesen, in unserem Leben war es eine Episode – entschädigte mich für anstrengende Wanderungen unter stechender Sonne, Muskelkater, Mückenstiche, für einsame, stille Nächte, in die jedes Geräusch einschlug wie eine Bombe, furchterregende Gewitter, sterbenslangweilige Blaubeer- und Pilzernten, harte, trockene Kuchen, körnig-käsige Polenta mit verbrannten Zwiebeln und Kartenspiele mit einer Pauline, die ärgerlich die Karten weglegte, wenn sie verloren hatte.

Meine Grossmutter litt an Depressionen.

In den Bergen war sie traurig, weil die Steilwände das Fabulieren nicht erlaubten. Zu schnell waren die Täler überfüllt. Und die Berge in der Schweiz erinnerten sie an die Berge in Chile.

In der Kiste mit den drei goldenen Elefanten fand ich ein Bild von Marielouise auf einem Pferd. Sie trägt elegante, modische Grossstadtschuhe aus Schlangenlederimitat und eine taillierte rote Lederjacke. Eine weit ausgeschnittene grüne Bluse und – du wirst es nicht glauben – einen rosafarbenen Rock. Sie sitzt lächelnd, hoch aufgerichtet und so unpassend gekleidet auf dem braunen Pferd, das schläfrig in die Kamera blickt. Im Hintergrund eine raue Berglandschaft, grobe Felsbrocken, Wasserrinnsal im Geröll.

Eine Hütte. Rauch über dem rostigen Rohr.

Es ist verwirrend. Ich weiss, dass Marielouise nicht in Chile ist. Nicht in Chile sein kann.

Und dann ist plötzlich so eine Fotografie da.

Du, liebe Janika, wusstest hingegen, wie man die Öfen und den Herd anfeuert. Wie man heizen und kochen kann, ohne die Luft in Paulines Hütte mit Rauch zu vergiften. Man musste lediglich das Feuer in allen Öfen gleichzeitig zünden. Mit deiner Fähigkeit, dauernd in Bewegung zu sein, brachtest du dieses Kunststück zustande. Und du warst eine hervorragende Holzhackerin. Mit gesenktem Kopf liessest du das Beil mitten ins Holz fallen: Zack! Nicht mal Joel durfte ran.

Diese Tage mit dir, Diogo und Joel. Stundenlang wanderten wir durch die Wälder und bestiegen die Berge. Und ich war so glücklich, wenn Joel jubelnd über die Steine hüpfte, sich ins Wasser wühlte, literweise Sonne soff und kreischend mit den Schmetterlingen Hula-Hopp spielte. Und die Pfiffe der hysterischen Murmeltiere. Diogo liebte es, sie zu erschrecken. Zu Joels grosser Freude verfiel er in ekstatische Bockstänze und stiess schrille Schreie aus.

Eines Tages jedoch kündigte Joel den Vertrag. Er mochte die Hütte, die Berge, das Wandern und die Schmetterlinge nicht mehr.

Es tue ihm leid, aber er verspüre keine Lust, mir das Gefühl zu geben, eine gute Mutter zu sein: «Geh mit Pauline oder Janika. Lass mich in Ruhe.»

Als ich ein Kind und mit Pauline allein in der Hütte war, las ich unter der blau-weiss gewürfelten Bettdecke ein Buch nach dem anderen.

Und dieser Brandgeruch.

Immerzu dieser Brandgeruch. Für Pauline, die das Wort aschen liebte: dein goldenes Haar, Margarete. Dein aschenes Haar, Sulamith: Paul Celans Todesfuge. Die grossartigste lyrische Abrechnung mit der Schoa. Hat sie gesagt.

Johann Wolfgang von Goethes Gretchen und Heinrich Heines Loreley, allesamt deutsch, blond und golden, die Sulamith aus König Salomons Schir Ha’Schirim ist orientalisch und aschen gewesen und in Auschwitz verbrannt worden oder hat überlebt, aber ist nun für immer grau und noch viel grauer in der Seele, so etwas vererbt sich über Generationen hinweg, diese Verfärbung der Seele, wiederholte Pauline immerzu. Und ich wollte die ursprüngliche, noch unversehrte Sulamith aus dem Lied der Lieder zurück, deren glänzendes Haar in Locken über den Rücken fiel und die wunderschön gewesen war und in den Granatapfelgärten in den Hügeln Samarias sich der Liebe hingab, und meine Kinderseele verabscheute diesen Celan, der auf dem Wort aschen und auf Auschwitz beharrte, wenn er doch ebenso melonenkernschwarz und Granatapfelgarten hätte hinschreiben können.

Ich hingegen liebte historische Abenteuerromane: Angélique! Die wild, ungezähmt und bildschön, als Tochter eines verarmten Landadeligen aus dem 18. Jahrhundert gegen ihren Willen mit einem älteren, reichen Junker verheiratet, sich überraschend in den schweigsamen Mann, der gehbehindert und mit einem tyrannischen Charakter gesegnet ist, jedoch einen brillanten Geist, Humor und eine leidenschaftliche Liebesfähigkeit besitzt, unsterblich verliebt: Joffrey!

Doch kurz nach der Heirat zum Tod verurteilt und hingerichtet hinterlässt er seiner jungen Witwe nicht genügend finanzielle Mittel zum Überleben. Angélique bricht auf. Vor ihr liegt ein Weg voller Abenteuer und Prüfungen, der sie auf vier Kontinente und die Leserin durch zehn dicke Wälzer führt.

In Paris lebt sie als Wirtin einer übel beleumundeten Kneipe unter Ganoven und Bettlern, zieht ihre Kinder auf, zählt Dichter und Revolutionäre zu ihren Liebhabern, steigt am Hof des französischen Sonnenkönigs in den Rang der Favoritin und Geliebten auf, flüchtet vor Intrigen und Mordanschlägen übers Meer und wird von Piraten entführt.

Aufgrund politischer Wirren und launischer Winde, die das Schiff übers Wasser treiben, wird sie zu guter Letzt in den Harem des Sultans von Marokko verkauft.

Zurück in Europa gerät Angélique im Zuge der Religionskriege zwischen die Fronten der Katholiken und der Protestanten, landet erneut auf einem Schiff und im Bett eines Piraten, der sie in die Neue Welt bringt. Meine Heldin stellt sich selbstbewusst und unerschrocken allen Schwierigkeiten und muss sich doch immer wieder hilflos in die Arme und den Schutz eines mächtigen, einflussreichen Mannes begeben.

Nicht zu vergessen die quälenden Schuldgefühle! Im Sturm der Ereignisse sind Angélique ihre Muttergefühle und ihre Kinder schlicht abhandengekommen.

Pauline jedoch starrte aus dem Fenster und sagte: «Deine Mutter wollte sich nicht durch Ehe und Mutterschaft einsperren und frustrieren lassen. Und doch fürchtete sie sich vor Einsamkeit und Verbitterung. Deshalb hatte sie ständig neue Liebhaber, die sie alle auf Distanz hielt. Und wo ist Marielouise jetzt? Wo ist deine Mutter?»

Sie goss Tee aus der mit Blümchen verzierten Porzellankanne, führte die Tasse an die geschürzten Lippen, die sich gegen die Zumutung der Hitze wappneten, trank mit kleinen Schlucken und hielt eine Hand unters Kinn, um den Pullover aus Kaschmirwolle vor herunterfallenden Tropfen zu schützen – das kostbare Stück, das sie auch in den Bergen, in der verrauchten Almhütte trug –, setzte die Tasse ab, ein leises Klacken, Porzellan auf Porzellan, und befahl, ohne den Blick vom Fenster zu wenden: «Lass es! Hör auf, solchen Mist zu lesen!»

Und ich dachte darüber nach, was Pauline über meine Mutter Marielouise gesagt hatte.

Ja, was nun?

Der Unterschied zwischen dem erfolglosen Verhindern von Unglück und dem vergeblichen Streben nach Glück entzog sich mir – und ich wusste nicht, was Pauline mit ihrer Rede bezweckte.

Ich beobachtete, wie sie den Duft einer geschälten Mandarine einsaugte und die Schale in kleinste Stückchen zerkrümelte, und konnte den Blick nicht von ihrem schönen Profil abwenden, schaute auf den schlanken Hals, die aufrechte Kopfhaltung, roch den würzigen Duft des zimtbraunen Rollkragenpullovers. Fischreiher. Sie erinnerte mich an einen Fischreiher. Ein leiser Widerwille stieg mir in die Kehle.

Und ich las weiterhin meine Kitschromane.

Drapierte mich vor Paulines Augen im Sessel, das Haar im Gesicht, liess langsam die Beine heruntergleiten, spreizte sie, scheinbar völlig unbewusst, und wenn Paulines Blick sich genügend in mich gebohrt hatte, hob ich, irritiert über diese strafende Aufmerksamkeit, unwillkürlich den Kopf, schloss hastig die Beine, lächelte schuldbewusst, wendete mich ab und vertiefte mich erneut in das Buch.

Ein kleines Mädchen tanzt. Die Arme ausgebreitet, die Hände geöffnet dreht es sich um sich selbst, stampft mit den Füssen. Den Kopf in den Nacken geworfen lacht es selbstvergessen, die Haare fliegen – plötzlich wendet es mit einer impulsiven Bewegung der Kamera den Rücken zu, hebt den Rock, reisst den Schlüpfer runter und wackelt kreischend mit dem nackten Hintern.

Lärm, viele Menschen: Frauen sitzen an Tischen, Männer stehen in Gruppen.

Die junge, bunt gekleidete Frau gleitet mit hoch erhobenem Kopf durch die Menschenmenge, federleicht, als ginge sie durch Wände, als berührte sie die Materialität der sie umgebenden Dinge nicht. Sie kniet vor mir nieder, wartet, lächelt mich belustigt an, streicht mir flüchtig das Haar aus dem Gesicht, zieht mir den Schlüpfer hoch und glättet den Rock. Sie trägt mich aus dem Saal und verschwindet im dunklen Bildhintergrund.

Marielouise beugt sich über mich. Hellblau schwimmende Augen. Wirres, strähniges Haar. Sie lächelt zerstreut. Aus ihrem Mund fällt Wärme. Ja, Wärme fällt auf mich herab. Sie umklammert mich erstaunlich kraftvoll. Fast tut es weh. Und nimmt mir den Atem. Wir tauschen Küsse und lachen.

Diesen Super-8 Film liess Pauline auf DVD überspielen. Ich fand ihn in der Kiste unter ihrem Bett.

Wer stand hinter der Kamera? Wer hielt diese Episode fest? Ich spule den Film innerlich zurück und schaue mir die Szene nochmals an.

Der Körper prallt auf andere Körper. Reflex. Unmittelbare Freude. Dieser Stempeldruck auf die Brust. Tämp! Tämp! Das ist meine SCHÖNHEIT. Doch würde niemand die Schönheit dieses Gemäldes «Tanzendes Kind und fürsorgliche Mutter» bestreiten. Also IST es schön! Weil es für uns ALLE schön ist. Tämp! Tämp!

Rufst du Joel an? Und berichtest mir, wie es ihm geht? Hast du von Diogo gehört? Meldet er sich bei dir?

Ich denke an dich. An unsere Nächte in deiner Küche. Deine vielen Schnapsflaschen. Sieben Sorten Whisky. Oder Rum. Oder Cognac. Und den Schokoladenkuchen mit Chili. Deine Gewürzsammlung. Deine Tarotkarten. Unsere Spiele. Die Zigaretten und dein schadenfreudiges Lachen, wenn du ein Spiel gewinnst. Die Sexinserate. Mit dir lerne ich, ungehemmt zu sprechen. Seit ich dich habe, lerne ich, die Worte zu gebrauchen. Sie sind die Stücke unserer Erfahrungen. Wir nehmen die Sätze auseinander, schauen die einzelnen Wörter an und setzen sie neu zusammen. Du und ich.

Verzeih mir die langen Briefe. Aber ich habe das Gefühl, du magst Pauline.

Sie ist ein präzises, geordnetes, eigenwilliges, wütendes, vielschichtiges Universum.

So wie du.

Es geht mir gut.

Und du wirst mich mit jedem Brief besser verstehen.

Deine Selma

Wie die Milch aus dem Schaf kommt

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