Читать книгу Wie die Milch aus dem Schaf kommt - Johanna Lier - Страница 26
Оглавление«In Holland besuchten Hendrik und ich das Geburtshaus seiner Mutter. Am Haus war eine Tafel angebracht, die an die Bewohner erinnerte, die nach Auschwitz deportiert worden waren.
Eine blasse, unscheinbare Frau stand am Fenster und beobachtete uns misstrauisch. In Holland gibt es ja selten Vorhänge.
Hendrik warf einen kurzen Blick auf das Haus und lief wütend davon. Ich folgte ihm und unterliess es wie gewöhnlich, ihn an seine Studentenzeit in Frankfurt zu erinnern. Es war mir absolut unbegreiflich, was ihn damals dazu bewogen hatte, in die NSDAP einzutreten.
Fassungslos schwiegen wir und gingen ins Hotel zurück.» Notat von Pauline Einzig
gary altman, anwalt, 54 jahre, lebt in toronto: Das Haus neben der Ruine der Synagoge und dem Restaurant Goldene Rose. Eingang zum ehemaligen Khalal. Das Licht am Ende des mit Büchern und Zeitschriften überfüllten Korridors. Das Flimmern der Staubwolken aus abgeschabten Teppichen. Pilzkaviar, Krautsalat mit Erbsen, Reis mit Mais, Apfelschnitze, Bananenscheiben, Gurkenscheibchen und Saft. Der Vorsteher der örtlichen Jeschiwa sitzt mit verrutschtem Tallit hinter einem mit Papieren übersäten Tisch, schreit ins Telefon und reisst an seinen Schläfenlocken.
Der wartende Gastgeber, versteckt hinter der halboffenen Tür: Gary Altman. Kleingewachsen und mager. Sakko, Weste und Hose aus bestem Tuch, feuchtes, nach hinten gekämmtes Haar, ein kluges Gesicht, ein starkes Kinn und ein entschlossener Mund. Während er spricht, mustert er mich prüfend, seine Augen kippen plötzlich hinter die Stirn.
Gary Altman: «Im Jahr 1941 überrannte die deutsche Wehrmacht die Westukraine. In Sambir trieben sie 2.000 Juden auf den jüdischen Friedhof. Von dort brachte man sie zum Bahnhof, pferchte sie in die Waggons und transportierte sie ins Konzentrationslager Belcec. Doch bereits im Dezember wurde Belcec geschlossen, da die Deutschen beschlossen hatten, den Holocaust in der Ukraine mit Hilfe der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN-B) durch systematische Erschiessungen fortzusetzen.
An Schawuot – damals lebten vielleicht noch viertausend Juden – kamen die Nazis erneut mit Helfern aus der OUN-B ins Ghetto, brachten die Leute zu Fuss oder auf Lastwagen in den nächstliegenden Wald – auf Jiddisch heisst er Radlivka, auf Deutsch Rodovice und auf Ukrainisch Ralivka. Sie wurden alle getötet und in Massengräbern, die sie zuvor selber hatten ausheben müssen, verscharrt.
Eine kleine Gruppe von 26 Leuten versteckte sich während achtzehn Monaten in den Kellern eines alten Kornspeichers, bis die Russen sie befreite.
So überlebten meine Eltern.
Auf dem zentralen Friedhof von Sambir überstanden nur wenige Grabsteine den Krieg. Der jüdische Teil des Friedhofs, gegen den Wald hin, verwilderte vollständig, niemand kümmerte sich darum.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion kehrte Jack Gardner, ein Kanadier aus British Columbia, dessen Eltern ebenfalls die Massaker der Faschisten überlebt hatten, nach Sambir zurück und beschloss, den Friedhof zu retten. Er liess die übrig gebliebenen Steine ausgraben, an ihren ursprünglichen Ort zurücklegen, die Wiese reinigen und die Wege wieder herrichten und veranlasste, dass am Rand des Massengrabs ein Mahnmal aufgerichtet wurde.
Eines Nachts drangen ukrainische Nationalisten in den Friedhof ein, zerstörten das Mahnmal, verwüsteten die Landschaft und richteten an drei markanten Stellen zehn Meter hohe Stahlkreuze auf. Jack Gardner gab auf und starb an gebrochenem Herzen. Und vor drei Jahren bin ich nach Sambir gekommen, um den Geburtsort meiner Eltern kennenzulernen. Ich besuchte den Friedhof, entdeckte mit Entsetzen die drei Kreuze und versprach, das Werk von Jack Gardner zu vollenden.
Sagt dir der Name Stepan Bandera etwas? Er war in den 1940er-Jahren der Führer der Aufstandsarmee der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN-B). Sein Enkel, der ebenfalls Stepan Bandera heisst, lebt in Kanada. Er ist der Führer der heutigen Allukrainischen Vereinigung Swoboda. Er will sich an unserem Projekt, die Kreuze zu entfernen und den Friedhof zu restaurieren, beteiligen.
Letzte Woche fuhr ich mit Stepan Bandera Junior, einigen wichtigen Persönlichkeiten der jüdischen Gemeinde, Beamten und Politikern der örtlichen und der regionalen Behörden und in Begleitung von Journalisten und Kameraleuten nach Kiev. Seine Exzellenz, der Patriarch der Katholisch Unierten Ostkirchen, gewährte uns eine Audienz. Er beteuerte, die Stahlkreuze im jüdischen Friedhof von Sambir würden ihm grosse Schmerzen in seinem Herzen bereiten. Er würde alles tun, um uns zu helfen, aber die Kreuze müssten bleiben. Durch einen Priester geweiht sind sie in den Stand der Heiligkeit versetzt worden und dürfen auf keinen Fall entfernt werden: Geweiht sind sie der Ewigkeit übergeben.
In allen Zeitungen und Fernsehstationen berichteten sie über unsere aussichtslose Reise.»
Selma Einzig: «Was erzählten deine Eltern?»
Gary Altman: «Nichts. Kein Wort. Holocaust-Überlebende reden nicht.»
Selma Einzig: «Du sagtest, deine Eltern wären 1952 nach Kanada ausgewandert. Sprachen sie über die Zeit davor?»
Gary Altman: «Mein Vater wurde mit seiner Familie und Nachbarn nach Radlivka gebracht. Sie standen am Rand des Massengrabs und warteten auf ihre Hinrichtung. Da schob sich die Hand meiner Grossmutter in die Hand meines Vaters und sie steckte ihm einen Zettel zu. Als die Scharfschützen die ersten Salven abgaben, liess mein Vater sich fallen. Und er überlebte unter den Leichen seiner Familie und nächster Nachbarn. Auf den Zettel hatte meine Grossmutter geschrieben: Du sollst überleben. Das ist mein letzter Wunsch.»
Selma Einzig: «Dann haben sie also doch geredet?»
Gary Altman: «Warum bist du hier?»
Selma Einzig: «Ich? Weshalb fragst du?»
Gary Altman: «Mein Vater starb vor drei Jahren. Meine Mutter weiss nichts von meinen Reisen. Bin ich in Deutschland, in Polen oder in der Ukraine, macht sie sich schreckliche Sorgen. Also schweige ich.»
Selma Einzig: «Findest du in Sambir, was du in den Erzählungen deiner Eltern vermisst hast?»
Gary Altman: «Ja.»
Selma Einzig: «Gibt es dir bekannte Namen auf den Grabsteinen?»
Gary Altman: «Nein. Die meisten sind vergraben. Oder wurden für den Bau einer Bonbonfabrik genutzt. Und die übrigen sind von Schnee und Regen so beschädigt, dass man nichts lesen kann.»
jilal fadel, leiter des instituts für osteuropäische geschichte, 38 jahre, lebt in lemberg: «Es muss sich um Pragmatismus handeln, wenn Gary Altman die Geschichte des reumütigen Stepan Bandera Junior erzählt. Warum auch nicht? Egal welches Motiv der Bandera-Enkel auch hat, er hilft, einen jüdischen Friedhof zu retten. Soll er doch denken und glauben, was er will. Hauptsache, der Friedhof überlebt. Oder Gary Altman verspürt ein Bedürfnis nach Reue der Schuldigen. Nicht nur den Friedhof retten, nein, auch Wiedergutmachung empfangen. Obwohl er eigentlich um den Missbrauch durch den jungen Bandera wissen müsste.
Bandera Junior unterstützt Gary Altman, um der Welt das menschenfreundliche, weltoffene Gesicht der Allukrainischen Vereinigung Swoboda zu zeigen, die ihre Wurzeln in der ehemaligen OUN-B hat.
Im Gegensatz zu Gary Altman wusste Bandera Junior von der Unantastbarkeit der geweihten Kreuze. Die Zeitungen und Fernsehsender haben über seine Fahrt nach Kiev und das vergebliche Bittgesuch an den Patriarchen berichtet.
Seine Überraschung und sein Bedauern, ja seine Tränen sind Teil einer gross angelegten Kampagne, die den Faschisten ein modernes und gemässigtes Image verleihen soll.»
allukrainische vereinigung swoboda: «Einführung ethnischer Zugehörigkeit im Personalausweis; ethnische Quoten in Politik, Wirtschaft und Kultur; Aufnahme des Straftatbestandes ‹anti-ukrainische Tätigkeit› und Einführung entsprechender Strafen; Abschaffung der doppelten Staatsangehörigkeit; Vorzugsbehandlung ukrainischer Rückkehrer; radikaler Einwanderungsstopp für Nichtukrainer; Schaffung des Status einer Atommacht; Beitritt zur Nato; Importbeschränkungen; Verbot von Tabak- und Alkoholwerbung; strafrechtliche Verfolgung der Propagierung von Drogen; Verbot von Abtreibung und Homosexualität; Aufrechterhaltung hierarchischer Geschlechterrollen; Führerkult; wissenschaftlich-rationale Absicherung der faschistischen Ideologie …»