Читать книгу Wie die Milch aus dem Schaf kommt - Johanna Lier - Страница 23

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«Ich legte die Scheibe mit den patriotischen Hymnen auf den Plattenspieler und befahl Marielouise, das Thurgauerlied zu singen: Oh Thurgau, meine Heimat! Marielouise starrte auf ihre Füsse und sang leise mit. Sie wirkte beschämt, es war ihr offenbar äusserst peinlich. Aber ich hegte eine grosse Liebe für diesen Landstrich. Obwohl ich mir nicht sicher bin, ob wir jemals da hingehörten.

Als ich elf Jahre alt war, wurde meiner Mutter mitgeteilt, es wäre besser, sie würde das Dorf verlassen. Sonst sähe man sich gezwungen, ihr die Kinder wegzunehmen. Wir sind eine Weile herumgezogen. Später liessen wir uns in Zürich nieder.

Selma wollte ich nicht zwingen, dieses Lied zu singen. Aber ich bestand auf der thurgauischen Aussprache gewisser Wörter: Böm, Tülle, Guggumere und Bülle anstatt Baum, Kuchen, Gurke und Zwiebel. Joel verspottete mich, warf mir übertriebene Sentimentalität vor und trällerte: Guggumeretülle uf dä Bülleböm! Und Selma konnte sich nicht beherrschen und lachte hemmungslos über mich: Gurkenkuchen auf Zwiebelbäumen!

Sie sind Kinder einer anderen Zeit.» Notat von Pauline Einzig

irina tomczuk, kellnerin im restaurant goldene rose, 26 jahre, lebt in lemberg: Die jungen Kellner tragen künstliche Schläfenlocken, die hübschen Kellnerinnen billige Perücken, an den Wänden gefälschte Fresken von Bruno Schulz, die Bezahlung muss ausgehandelt werden: Wir sind in einem Basar.

Eine kleine Frau trägt Berge von Tellern und Gläsern herum, begrüsst jeden mit einem herzlichen Lächeln.

Wärme und Gerüche. Die kleinen Lampen kleckern gelbe Pfützen. Orchestriert von Klezmermusik wird lauthals Essen bestellt: Tzimmes, Hummus und Borschtsch.

Die rundliche Kellnerin Irina setzt sich zu uns an den Tisch: Das Wandern der Augen an Fresken, an Fenstern, an Tischen entlang auf der schwierigen Suche nach der einfachen Antwort. Die Lippen in der Sahne, die Haarsträhne in der Schokolade.

Ludmila, meine Übersetzerin, fährt sich aufgekratzt durchs Haar. Und hin und wieder der jungen Frau über den Mund.

Irina Tomczuk: «Meine Familie kommt aus den Bergen in der Nähe der ungarischen Grenze. In Transkarpatien sprechen wir einen besonderen Dialekt. Mein Grossvater war sehr patriotisch und sagte: Vergiss nie, dass du Ukrainerin bist! Eine meiner Grossmütter kommt jedoch aus dem russischen Süden, von der Krim.

Warum ich in diesem jüdischen Restaurant arbeite? Die Juden sind schlau und tüchtig. Sie beherrschen die Kunst, Geld zu verdienen und zu vermehren. Also wollte ich diesen Job, um den Umgang mit Geld zu lernen. Wir haben keine festen Preise, wir feilschen mit den Gästen um die Bezahlung, eine Art Basar, es ist zwar hart, mit fremden Leuten zu verhandeln, aber das will ich hier lernen.

Ja, ja, ich weiss, das ist keine jüdische Tradition, es ist einfach ein Spiel, das uns Spass macht, wir schaffen eine lustige Stimmung für unsere Gäste.

In der Westukraine reden die Leute schlecht über die Juden. Und es ist meine Aufgabe, die Gäste über die jüdische Kultur aufzuklären. Ich erzähle Legenden, informiere über Traditionen in der Synagoge und unterhalte mich über Kunst und Kultur. Zum Beispiel über Bruno Schulz. Seine Fresken sind hier an den Wänden zu sehen. Sie sind uralt und sehr kostbar.»

Ludmila nähert sich meinem Ohr und flüstert, die Lemberger Juden seien alle von der Krim gekommen. Es gebe so viele Familien mit jüdischem Hintergrund, die sich weigerten, darüber zu sprechen. Nicht zu Unrecht, denn Polen und die Ukraine würden als die Wiege des Antisemitismus bezeichnet. Kein Wunder also, wenn die Leute ihre wahre Herkunft verschwiegen.

Und in den Familien, in denen jüdischer Hintergrund verleugnet würde, sei der ukrainische Nationalismus besonders ausgeprägt. Den Kindern hämmere man ein, gute und patriotische Ukrainer zu sein. Diese Irina sei ein exemplarisches Beispiel für eine junge weibliche Generation: «Sie sind gewandt, klug und schön, sie machen gute Studienabschlüsse, beherrschen Fremdsprachen, ukrainisches Kunsthandwerk, die Tänze, die Gesänge und sind Patriotinnen. Und diese Irina hat eine jüdische Grossmutter von der Krim. Das ist typisch. Das ist so typisch.»

Doch Irina schüttelt heftig den Kopf, ihr Blick wird hart und sie hebt abwehrend die Hände. Ich verstehe nicht, was sie sagt. Nur immer wieder: «Njet! Njet! Njet!»

Und Ludmila erzählt die Geschichte von Robert aus Arizona, der nach Lemberg gezogen ist und sich nun Goran nennt.

Goran fand in Sambir seine verlorene Familie wieder: eine uralte Stiefmutter, drei Geschwister, Neffen und Nichten. Er bezahlt ihnen das Essen, die Kleidung und die Ausbildungen.

Während des Zweiten Weltkriegs liess Gorans Vater Frau und Kinder in Sambir zurück und flüchtete über Deutschland und Frankreich in die USA. In Arizona heiratete er eine Amerikanerin und bekam mit ihr zwei Söhne. Einer von ihnen war Robert – oder eben: Goran. Der Vater blieb jedoch zeitlebens ein ukrainischer Nationalist. Er verachtete die Armenier, die Tataren, die Georgier, die Polen und natürlich die Russen. Im Besonderen hasste er die Juden, da diese für die Polen gearbeitet und mit den Russen kollaboriert hätten. Denen war alles recht. Hauptsache, es schaute Geld heraus.

Und er hielt an den Bräuchen des unterdrückten ruthenischen Bauernvolks fest: Am achten Tag nach der Geburt liess er seine zwei Söhne beschneiden – wie das in Sambir seit jeher gemacht worden war.

Ludmilas Einwand, in Sambir hätte der jüdische Bevölkerungsanteil über sechzig Prozent betragen und nur in jüdischen Familien wären die Söhne beschnitten worden, weist Goran starrsinnig zurück.

Wie die Milch aus dem Schaf kommt

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