Читать книгу Wie die Milch aus dem Schaf kommt - Johanna Lier - Страница 27

5. August 2010. Lemberg

Оглавление

Sami, mon cher

Du und ich im Bett: deine konzentrierten Bewegungen. Ja, das warst du: wenig Aufwand, grosse Lust. Um das zu erreichen, fühltest du jedes Fitzelchen, jede Regung meines Körpers. Aber du spieltest mit mir, spieltest gekonnt mit Erfüllung und Verweigerung. Kurz vor dem Orgasmus liessest du deine Finger von mir, immer wieder, bis ich dich schliesslich völlig ausser Rand und Band packte und geradezu um den Höhepunkt bettelte.

Danach: dein Körper unter meinem. Dein kleiner, weicher Körper. Und ich in deinen Armen. Deinen kräftigen Armen. Du trällertest ein Lied von Fairuz – der Mutter der libanesischen Nation –, es erzählte die Geschichte von Loulou, die den verstörten und von Raubvögeln verfolgten Singvogel in ihrer Hütte aufnahm. Am Morgen, nach einer leidenschaftlichen Liebesnacht, öffnete sie das Fenster und schaute ihm nach, wie er über das weite Meer davonflog.

Ich richtete mich auf und schaute in dein Gesicht, das von der Erinnerung entrückt zu sein schien. Immer wieder dasselbe Lied! Obwohl du auf deiner grundsätzlichen Gleichgültigkeit allen Dingen gegenüber beharrtest.

Du hattest studiert, weil man es erwartete.

Du arbeitest und verdienst Geld, weil man es erwartet.

Du strampelst dich die Karriereleiter hinauf, weil man es erwartet.

Du heiratest diese junge Frau, weil man es erwartet.

Deiner Mutter warst du dankbar, dass sie dich frühmorgens rechtzeitig für den Schulbesuch weckte, obwohl es in der Küche bitterkalt war, deinem Vater warst du für die strafenden Schläge dankbar, wenn du schlechte Noten nach Hause gebracht hattest.

Es käme dir nie in den Sinn, an die Zuneigung oder das Wohlwollen anderer Menschen oder an den guten Zufall, das hilfreiche Zusammenspiel von Ereignissen zu glauben. Deshalb bist du überzeugt davon, die Welt beherrschen zu müssen. Doch am liebsten ziehst du den Kopf ein, machst dich unsichtbar und unhörbar und lässt alles über dich hinwegschwappen – bist froh, überlebt zu haben. Aber siehst du dich übersehen und überhört und das Leben zieht an dir vorüber, bist du beleidigt und gekränkt, ja regelrecht erbost und aggressiv.

Aber die Sprachen liebst du. Und die Gedichte. Die Lieder. Es handle sich nicht um Kitsch, sondern um eine politische Parabel, sagtest du, und ich drückte dir schnell das Kissen auf das Gesicht: «Eine Lüge. Du lügst.»

Diese Loulou und ihr Singvogel waren nicht der Politik geschuldet, nein, sie waren eine Botschaft an mich. Sie verrieten mir, was du insgeheim dachtest. Es gibt kein Morgen … Nur das Heute … Und du gehörst mir … Mir allein …

Doch eines Tages läufst du mir davon. Kugelst wie ein junger Hund durch frisch gefallenen Schnee. Alles an dir springt. Und ich bleibe zurück, damit beschäftigt, frei zu sein, unentwegt frei zu sein, um über die Einsamkeit zu klagen, das Fehlen von Störung, von Reibung, von Zumutung, von Problemen mit anderen: das Fehlen von dir!

Gut. Weiter nicht schlimm! Man lernt neue Lieder. Neuen Kitsch. Neue politische Parabeln. Neue Lügen.

Pauline ihrerseits stellte eine Forderung nach Rückgabe, wollte ihre Lieder wiederhaben, von mir, ich sollte sie aus meinem Körper hervorholen, und du zeigtest mir, wie so etwas geht, wie man das macht. Denn du bist der Mensch, der das geheime Leben meiner Grossmutter, diese versteckten Erinnerungen, die unter all den Mythen und Lügen liegen, verstanden hätte. Du und Pauline: meine Parallelwelten! Aus einer anderen Zeit. Von einem anderen Ort.

Sami. Die Wärme, diese schafartige, milchige Wärme, die Pauline mir gab, ist nicht mehr. Und Joel ist ein grosser Junge. Wohnt bei Diogo.

Und ich wagte mich auf dein unsicheres Terrain. Die meiste Zeit waren wir im Bett. Und rammelten wie die Kaninchen. Oder wie altkluge, verspielte, aber unreife Kinder.

Aber bist du bereit, mir die verlorene Wärme zu geben? Willst du mein Freund sein?

Der Klingelton des Handys, die Piepser für SMS, die ich dauernd ändere, damit mein Herz nicht zu klopfen anhebt und meine Hände nicht zu zittern beginnen, wenn jemand sich meldet. Denn Lippen, Kinn, Kehlkopf, Brust und Seele springen das Gerät an, die wartende Seele wird zur berstenden Seele, warum nicht du, warum nicht eine kleine Nachricht, ein Wort, nur ein Wort, ein Wort, ein Gedanke, ich brüte auf dem Balkon meiner überhitzten Wohnung vor mich hin, ärgere mich über die Anrufe und die Nachrichten anderer Menschen, weil dann meine Sehnsucht aus mir herausschiesst und im Nichts der nachrichtenlosen Liebe verschwindet. Das Klingeln des Handys bestimmt den Tagesverlauf.

Die Hoffnung bleibt, es würde durch ausbleibende Anrufe sich endlich dieses Gefühl der Befreiung einstellen.

Der Vorsatz, mich zu lösen, fällt ab wie faules Obst, die Hand schnellt vor, drückt die Taste wie im Schlaf, wie im Traum. Deine Stimme: «Wo bist du? Was tust du? Schläfst du?» Zu jeder Tageszeit diese Frage: «Schläfst du?»

Du und ich. Wir wollten das einfache Leben. Keine Dramen. Keine Mysterien. Keine Geheimnisse. Das einfache, gute Leben, die alltäglichen Freuden, die Sorgfalt im Banalen, ein geblümtes Plastiktischtuch mit Kartoffeln und Kaffee, ein Stück Brot mit Öl und Salz, auch das Kitsch, unser ganz persönlicher Kitsch.

Ich mochte es, im Supermarkt zu trödeln, mit dir von Regal zu Regal zu bummeln, Früchte, Gemüse, Saucen, Pulver, Gewürze, Kräuter, Säfte, Käse, Wein, Schokolade, die Verpackungen und Schriften zu entziffern, Rezepte auszutauschen und Erinnerungen, und das, was du sagtest, wenn du diese schönen Dinge betrachtetest, und die Art und Weise, wie du es sagtest, zeigte ein Stück deiner Gewohnheiten, deiner Abneigungen, deiner Lüste, ja die innerste Stofflichkeit deiner Existenz teilte sich mir mit, ich liebte es, und so gingen wir von Regal zu Regal, du studiertest eine Flasche mit Himbeersaft, ich schlenderte weiter in der Erwartung, dich im nächsten Augenblick an meiner Seite zu spüren – dieses Kribbeln auf meiner Haut.

Und ich mit Joel. Und du und ich. Und unsere zukünftige Kinderschar, die in diesem beschissenen Libanon aufwachsen müsste, wie du nicht aufhörtest zu klagen und zu jammern.

Warum rufst du nicht an?

Du bist wie Paulines Hand, die aus einem weichen, kamelfarbigen Ärmel hervorlugt und mich packt. Mich festhält!

Warum rufst du nicht an?

Die Himmelsleiter. Jakobs Leiter in den Himmel. Der Himmel tut sich auf. Für uns. Und wir steigen hinauf. Früher hat Jakob in der Dunkelheit am Ufer des Flusses mit dem Engel gekämpft. Ich kämpfe mit dir. Weil ich dich will.

Du bist das Beste in mir.

Und ich in dir.

Selma

Wie die Milch aus dem Schaf kommt

Подняться наверх