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26. Juli. Košice – Lemberg

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Sami, mon cher

Bin heute Morgen aus der Dusche gestiegen. Ein grosses Tuch umgenommen. Die Sehnsucht abgewehrt. Bemühe mich, die Gedanken und Gefühle an die langsamen Bewegungen anzupassen, mit denen ich meinen Körper abtrockne, einöle und frisch einkleide.

Setze mich auf die schmutzigen Stufen der Bahnhofstreppe in eKošice und warte auf den Zug. Ich sehne mich danach, mit dir zusammen in den Reiseführern zu fleddern. Du liebst es, langweilige Sehenswürdigkeiten anzuschauen: «Oh, wie schön! Oh, wie schön», wiederholst du angesichts einer touristischen Attraktion. Und danach? Im Strassencafé sitzen. Schweigen. Zeit verstreichen lassen. Leute beobachten, mit denen dich nichts verbindet. Hauptsache: Du bleibst unberührt!

Mit dir würde ich auch das tun.

Du magst es, morgens das Fenster aufzureissen, wenn draussen schönes Wetter ist und die Menschen, Tiere und Pflanzen sich mit frischer Luft vollsaugen, du magst es, wenn ich deinen Monologen aufmerksam zuhöre oder deine sanften Schmeicheleien als Aufforderung zur Fügsamkeit verstehe, ich mag es, mit Regen im Ohr allmählich aufzuwachen, ich mag die warme Kaffeetasse, die du mir ans Bett bringst, ich mag es, mit dir zu kämpfen und zu streiten, ich will mich durch dich herausgefordert fühlen, spielen, immerzu spielen, du hingegen willst dich der Faulheit hingeben, Ruhe, immerzu Ruhe – Bewegung ist für dich lediglich ein Mittel, um den nächsten Schlafplatz zu erreichen –, ich liebe Wasser und nackte Körper und du liebst Strassen und Fahrräder und hasst es, wenn ich mich auf Treppenstufen setze, auf den Bordstein oder auf den nackten Boden.

Ein kindlicher Tritt in den erwachsenen Anstandsarsch – ein harmloses Stück Freiheit. Ja, Sami, mon cher, ich bin 35 Jahre alt, aber meine Hose ist schmutzig.

Ich ging durch die menschenleeren Strassen, liess mich treiben, versuchte die Geschwindigkeit meiner Schritte mit meiner Wut in Übereinstimmung zu bringen – unter Kastanienbäumen und ihren mit Saft gefüllten, platzenden Dolden. Es roch frisch und würzig. Vögel trällerten und sangen.

In der Morgendämmerung war ich aus deinem Bett gestiegen. Leise, du stelltest dich schlafend, und ich schlich mit den Schuhen in den Händen durch deine Wohnung, schloss die Tür, weil ich die Enge des Betts und der Umarmung und all diese ungelösten Spannungen nicht mehr ertrug und doch so sehr hoffte, nach meinem langen Spaziergang durch die Stadt auf der Wiese vor meiner Haustür deinen kleinen, dösenden Körper vorzufinden, deine wachen Blicke unter halbgeschlossenen Lidern.

Müde bist du, zerstritten mit dir und der Welt, und doch besitzt du die Fähigkeit, stundenlang gelassen zu warten.

Ich machte mir nichts vor. Und doch lief ich Umwege durch die Stadt, um dir genügend Zeit zu geben, zu mir zu fahren und dich in die Wiese zu legen.

Nacht. Der Himmel noch hell, das Land farblos. Tädäm. Tädäm. Tädäm. In hellen Tonfolgen: Tädäm. Der Zug fährt langsam. Ich höre Musik. An Pierlé. Songwriterin aus Belgien. Würde dir gefallen. Kehlige Stimme, die in höchste Höhen springt.

Die schwarze Hannah, der schweigsame Jankel, Ossip und Ruthchen fuhren ebenfalls durch die Nacht. Im Kopf Musik. Pferd und Wagen. Eine andere Musik als diejenige, die ich höre, «kiss me, kiss me … all my love comes to me …»

Es war stürmisch. Festhalten. Die Hände schmerzten. Kälte frass sich in Rücken und Bauch. Die sumpfige Strasse war eine Folter. Hufe knallten auf Steine. Räder sprangen. Übelkeit.

Ganz nahe bei sich sein. In diesem Körper, der alte Zeiten aufbewahrt und in die Gegenwart holt, «I need protection …»

Das Licht fällt grell aus dem Zug auf die heftig schwankenden Bäume. Sind sie gut verwurzelt, im Geäst aber biegsam und weich, überleben sie Stürme und Unwetter, Trockenheit und Kälte, «so you walk thousand of miles …»

Das Davor war Erinnerung, das Danach ein Traum, die Gegenwart Reise, Durchgang, Bewegung, «true love is to need …»

Ich tanke nur Empfindungen. Ich sehe Paulines präzise Bewegungen, mit denen sie an den Wasserhähnen dreht, um die richtige Wärme zu bekommen. Und so fühlt es sich an: Wasser kalt oder heiss einstellen. Es gibt Temperaturen im Körper, die falsches Leben anzeigen, und solche, die gutes Leben anzeigen, «before you cry I have been gone … I have always been a dreamer with a dirty mind … I have not had the chance to say goodbye … but it’s not my fault … nobodys fault …»

Erwache um fünf Uhr früh. Karpaten. Bunte Holzhäuser den Strassen entlang aufgereiht.

Wälder. Wiesen. Hügel.

Vogelbeeren. Hab seit Jahren keine Vogelbeeren gesehen. Tiefrote traubenförmige Signallichter in Hülle und Fülle.

Äpfel und Kirschen. Gänsetruppen in Gärten und Höfen.

Schlafen. Dösen. Flaches Land. Der Fluss. Der Dnjestr. Sandiges Ufer.

Eine Frau in hellbraunem Trainingsanzug und pinkfarbenen Schuhen schiebt einen Kinderwagen durch hohes Gras.

Muss an deine Erzählungen von den Zedernwäldern im Libanongebirge denken. Libanongebirge. Mont Liban. Dschabal Lubnan. Laban. Was auf Aramäisch weiss bedeutet.

Erinnerst du dich an den Labane, den Käse, den ich dir im Einweckglas mitgebracht hab? Du wolltest dir das Rezept für deine Mutter notieren: Joghurt in einen Mull giessen und zwei Tage abtropfen lassen. Die Molke trinken und die feste Masse zu kleinen Kugeln formen und in ein Glas legen. Roten Chili, Nelken, Koriander und Kardamomsamen, grüne Pfefferkörner, Senfkörner und ganz viel frische Petersilie dazwischen legen und das Glas mit Olivenöl auffüllen. Schliessen und lagern.

Der Esel reisst das Maul auf. Schrille Schreie. Der Zug bremst. Ich rieche Urin, Schweiss, Bier, Salz und Knoblauch. Eine unsichtbare, nervende Mücke.

Lemberg. Der Ort, von dem die schwarze Hannah, der schweigsame Jankel, Ossip und Ruthchen aufgebrochen sind. Ihr Aufbruch spiegelt sich in meiner Ankunft.

Sie verliessen damals ihr Zuhause. Eine Wohnung steht heute für mich bereit. Angehörige nahmen damals für immer Abschied. Unbekannte erwarten heute meinen Anruf. Ohne Sehnsucht. Ohne Freude. Aber immerhin.

Und ich sehe dich vor meinem inneren Auge, wie du neben mir stehst, ruhig und gelassen, Kaugummi im Mund, und nur die abgehackten Kaubewegungen verraten den drohenden Ausbruch. Dein Hass auf die Dummheit und Rückständigkeit der Menschen, die nicht wissen, was ein gutes Leben ist. Und somit auch auf mich.

Du denkst, ich bin sentimental und gelangweilt.

Und dennoch liebst du meine Briefe. Ja du verlangst und erwartest sie mit der Dringlichkeit eines Süchtigen. Du denkst, sie sind Poesie. Ja du sagst: J’aime ta poésie.

Ich verstehe dich nicht. Du bist mir ein Rätsel.

Und es wäre mir ein so grosser Wunsch, dass du die Forderung deiner Mutter in den Wind schlägst.

Selma

Wie die Milch aus dem Schaf kommt

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