Читать книгу Wie die Milch aus dem Schaf kommt - Johanna Lier - Страница 11
ОглавлениеLieber Diogo
Das Gepäck: Schokolade (Geschenke). Bücher. Ordner. Papiere. Kabel für Elektrogeräte. Laptoptasche. Laptop. Fotokamera. Videokamera. Sonnenbrille. Lesebrille. Agenda. Ausweise. Geldbeutel. Kulturbeutel. Kleider.
Schattenlose Strassen in Hohenems. Auf der Suche nach einem Restaurant: Bin ans Gepäck gebunden – der Koffer rollt schwer und kippt vom Bürgersteig, hängt an einem herausragenden Stein, einer Rille oder steckt in einem Loch –, der Rucksack wie ein klammerndes Affenbaby.
Wie oft trug ich Joel auf dem Rücken.
Nacken und Schultern hart, Hitze auf dem Gesicht, auf der Brust, am Rücken, am Bauch und in der Hose dieses klebrige Gefühl – wie Bettnässen. Vergeblich versuche ich, den Gedanken an frischen Wind, kaltes Bier oder den klimatisierten Zug wegzuschieben.
Und an unsere kühle, dämmrige Wohnung: Pauline hörte Radio und flickte mit ihrer Singer-Maschine alte Küchentücher, alles geflickt, immerzu hat sie alles gestopft und zugenäht und Zigaretten geraucht. Joel trug auch im Wohnzimmer seine Kopfhörer und besetzte während Stunden das Bad.
Ach! Joel!
Ich weiss, du fühlst dich schuldig, weil Joel bei dir ist, was dich glücklich macht, so wahnsinnig glücklich. Aber du hast Angst gehabt – schreist mich wegen Nichtigkeiten an, hörst nicht zu, legst grusslos auf oder läufst weg, ohne zu wissen wohin, läufst einfach weg –, deine Angst, ich rieche sie, ich fühle sie wie meine eigene – du hast Angst gehabt, ich könnte mich umentscheiden, die Reise absagen, die dir so überspannt erscheint, wie dir meine Familie schon immer ein Ärgernis gewesen ist – das kann ich verstehen –, du hast Angst gehabt, ich könnte alles abblasen und sagen: Joel! Bleibt bei mir!
Durst. Mir ist übel. Es fühlt sich unangenehm an. Wie zu laute Musik. Und doch rede ich mir ein, wie schön alles ist, wie aufregend: ein Abenteuer. Ein neues Leben. In Freiheit. Und vollständig auf mich gestellt.
Du und ich. Wir waren Freunde. Erwarteten ein Kind. Und ich hatte nicht den Mut, Pauline zu enttäuschen. Und den Gedanken an ein gemeinsames Leben – du und Pauline unter einem Dach – sprachen wir nicht aus. So undenkbar! So UNMÖGLICH! Ihr hättet euch umgebracht.
Du hattest in meinem Bauch ein Geschenk hinterlassen. Und ich kehrte zu Pauline zurück.
Was für mich das flimmernde Phantom einer alten, verbitterten Frau, ist für dich gelebte Realität einer grossen Familie: essen, trinken, schlafen, reden, lachen, streiten, schreien, seinen Platz kennen, seine Rolle spielen, nicht allein sein, ja, nicht allein sein, das ist wichtig, nicht allein sein, und deine Mutter trägt den Ziegenbraten (Cabrito Assado no Forno) vom Hof deines Cousins, mit Olivenöl (Azeite) aus dem Hain deines Grossonkels und dem Rosmarin (Alecrim) vom Balkon deiner Tante in der Kasserolle, die dein Vater in der Autowerkstatt deines Onkels zusammengeschweisst hat, ins Wohnzimmer, stellt ihn schwer atmend auf den Tisch, auch den mit Pinienkernen (Pinhões) von der Cousine bestückten Reis (Arroz), und keinem der Männer fällt der Schweiss auf, der ihr ins aufgesteckte Haar rinnt. Sie ist die Einzige, die an diesem verfluchten Sonntag etwas tut.
Da ist Paulines offene Marielouise-Wunde ein Dreck dagegen.
Sie zog Marielouise und später mich und Joel allein auf. Nun ist sie tot.
Und Joel bei dir.
Nicht weil wir oder die Umstände es erzwingen. Nein. Weil er es will.
Ich sehe dich vor mir, wie du die Schultern hochziehst, dich innerlich zur Faust ballst, versuchst, dich zu beherrschen, um Joel nicht anzubrüllen, ihn deiner Hilflosigkeit nicht auszusetzen, denn du bist von der Integrität der Kinder, von ihrem Recht auf eine eigene Persönlichkeit überzeugt, und doch bringt dich dieses nervtötende Türschlagen, dieses übelgelaunte Lass-mich-in-Ruhe-Mann und impertinente Hey-mach-mal-Platz, dieses rücksichtslose Warum-zum-Teufel-ist-der-verdammte-Kühlschrank-schon-wiederleer, dieses arrogante Jeder-Lehrer-ist-ein-Volltrottel-Gemotze an deine Grenzen, weil diese schrille Pubertätsoperette deinen Tagesablauf und deine Gewohnheiten stört, und so läufst du Joel hinterher, verunsichert und überbesorgt, um vor seiner verschlossenen Tür seine Lieblingsgerichte herunterzubeten, was dieser, obwohl er den kleinsten Wunsch, der sich in dir regt, das feinste Zucken in deiner Hose, spürt, gerade zur Zeit gar nicht schätzt und dir nicht mal Antwort gibt. Diese Vorstellung wird tagtäglich zu seiner vollsten Zufriedenheit gegeben und noch mehrere Spielzeiten dauern. Und du wirst lernen zu verstehen. Ja, ich auch.
Du bist wie ich.
Wir hätten das gut gemacht mit Joel.
Weisst du, was er zum Abschied unwirsch, ja undeutlich brummte: «Hey Mama. Keep cool. Alles ist gut.» Und dann brach es aus ihm heraus.
Er weinte fast: «Ich bin gerade ein ziemliches Arschloch. Ich scheiss auf euer Verständnis und euren Stolz. Das kotzt mich an. Ich geh euch total auf die Nerven! Das ist die Wahrheit. Warum gebt ihr es nicht einfach zu? Game-over!»
Ich war meiner abwesenden Mutter und meinem unbekannten Vater dankbar für ihre Friedfertigkeit. Für ihre Grosszügigkeit, ihren Unwillen, eine Familie zu gründen, Erwartungen zu hegen und ihren Willen durchzusetzen.
Und Joel mag das auch. Seine Eltern sind Freunde geblieben.
Du. Bär. Deine Fähigkeit, heftig zuzupacken und alle und alles schnell und sicher in deinen Pelz zu wickeln und zu wärmen. Tu das mit Joel. Es ist meine inständige Bitte. Gib es ihm.
Hattest du nie den Wunsch, diese Liebe einer Frau zu geben? Ist unter deinen zahllosen Geliebten keine, die du zu deiner Frau machen willst?
Deine Geliebten. Wer sind sie? Ich würde so gern wissen, wie sie aussehen!
Oder fehlt dir die Freundschaft? Bräuchtest du eine Freundin? Eine Vertraute? Bei der du es endlich wagen würdest, dich entspannt zurückzulehnen? Dich ihren Händen zu überlassen?
Aber du stösst mich weg. Geht dich nichts an, sagst du. Hättest mich ja haben können, wenn es nach mir gegangen wäre, sagst du.
Diogo, ich sehe deine wirren Haare. Die ich liebe. Blond, ja hellblond. Beinah weisses Haar. Und du trommelst auf deine Brust und singst von diesem Gefühl in deinem Herzen, das dir sagt, was es bedeutet, ein Portugiese zu sein. Ein Albinoportugiese mit Kirschaugen. Du liebst deine Eltern, weil sie keine Patrioten sind und dir dennoch beigebracht haben, was es heisst, ein Portugiese zu sein, sagst du und tanzt langsam mit erhobenen Armen, anmutig und für deine Körperfülle erstaunlich virtuos, es geht nicht um dieses Portugiese- oder Nichtportugiese-Sein, nein, die Erinnerungen, die hinter dem Wort lebendig stecken, allein darum geht es, um diese Erinnerungen, die den Titel Portugal tragen, doch dieser Titel ist Zufall, hast du gesagt.
Doch mal ehrlich: Sagst du das Wort Portugal, die Leute horchen auf und sehen in dir, was sie von ihnen unterscheidet. Irgendetwas. Ist ja egal. Ich denke, es spielt keine Rolle, was für Unterschiede, ich denke jedoch, es gibt sie. Für sie. Und für dich.
Es ist die Flucht, die, über dich hereingebrochen, dich vor Wut zappeln oder in Trauer erstarren lässt. Zwischen Gepäckstücke gequetscht bist du in einem kleinen Fiat durch Spanien und Frankreich nach Zürich transportiert worden. Dein Vater hatte den Brief eines Cousins zwischen die gebügelten Hemden in den Koffer gelegt.
Die Fahrt im vollgestopften Fiat durch Spanien und Frankreich, das Mittagessen in einer Raststätte bei Clermont-Ferrand, und du hast Fritten mit Ketchup gegessen und in den angespannten Gesichtern deiner Eltern plötzlich erkannt, es gibt keine Rückkehr. Das nervöse Zucken im rechten Auge deines Vaters und das leichte Wegschauen deiner Mutter, als am Nebentisch die Lastwagenfahrer aus Coimbra zahlten und gingen. Und dein Leben änderte sich: keine Mandelblüten, keine Lämmer im Fluss, keine Grossmutter mit vom Kartoffelschälen verquollenen Händen, keine durch das offene Treppenhaus hallenden Stimmen. Und nie wieder das Meer. Überhitztes Toben im arschkalten Meer. Und sich übergeben vor Lachen, weil alle wissen, arschkalt, das darf man nicht sagen.
Wellen lecken.
Eine halbzerkaute kalte Fritte im Mund.
Keiner fragte dich. Keiner interessierte sich dafür, was du liebtest. Sie taten, was sie tun mussten, und achteten gerade mal darauf, dir den Kopf nicht zu zertreten. Hattest du auf einer Klippe gestanden und stolz auf die Brandung deiner Zukunft geguckt, schleiftest du sie plötzlich hinter dir her und man riss dich in eine grosse Unbekannte, die, obwohl sie vor dir lag, eine nie enden wollende Vergangenheit sein würde: EINES TAGES KEHREN WIR ZURÜCK! UND ES WIRD SEIN WIE FRÜHER! Das ist der Titel für die leere Gegenwart, die du deinen Eltern ewig zum Vorwurf machst. Derweil sie dir alles geben.
Du und deine Eltern!
Ihr räumt mir wegen eurem Glück über Joels Anwesenheit jeden Stein aus dem Weg – wenn ich nur lang genug wegbleibe.
Du nörgelst, weil ich nicht nach Chile fliege, um dem irrlichternden Marielouise-Spuk ein Ende zu bereiten – tu es für Joel, sagst du. Er braucht seine Grossmutter.
Aber wie fühlt es sich an, wenn man in Valparaiso die Calle Matriz entlanggeht, die Tür aufstösst, die Treppe hinaufsteigt und es nicht gelingt, den Finger zu heben und auf die Klingel zu legen? Wenn man auf einem Hotelbett sitzt und nicht in der Lage ist, den Hörer des Telefons in die Hand zu nehmen?
Was sage ich, wenn sie vor mir steht?
Diogo! Verdammt! Was sagst du?
Ich höre deine sprunghafte Argumentation, bildhaft und dramatisch, und dass du erst Ruhe gibst, wenn alle an deinen Lippen hängen und lachen.
Pauline stieg in die Archive des Kantons Thurgau und arbeitete sich durch die Register der Einwanderungsbehörde. Und sie fand fünf Personen, die, aus Zamość gekommen, in Sulgen/ Kradolf – dazu gehört auch der Weiler Donzhausen – geblieben waren. Sie hiessen Edelman und Beerman. Zehn Personen waren aus Sambir eingewandert: Edelman, Beerman, Eberhardt, Lieb, Beck, Landman und Eder. Neun Personen kamen aus Lemberg: Eberhardt, Lieb, Beck, Landman, Lanzman, Eder, Akerman, Gutman.
Die Personen, die Pauline ins Zentrum ihrer Notizen stellte, heissen jedoch Hannah, Jankel, Ossip und Ruth Yuter. Von ihnen ist die Rede, wenn es um die Vergangenheit unserer Familie geht.
Wie lang waren die schwarze Hannah, der schweigsame Jankel, der kleine Ossip und das kranke Ruthchen unterwegs?
Litten sie grosse Not?
Hatten sie das Notwendige dabei?
Als sie am Bodensee ankamen, war vermutlich fast alles aufgebraucht, verkauft, verloren, gestohlen. Kleider auf dem Leib und wenig Essen. Trockene Nudeln und Zwiebeln. Manchmal ein warmes Essen, Kohlsuppe, Hafersuppe, Milchsuppe, Kartoffelsuppe. Vielleicht eine Gurke oder ein Rettich. Ein Ei. Ein noch warmes Ei, das man ausschlürfen konnte. Nährstoffe, die tief in die Zellen eindrangen.
Und manchmal ein gestohlenes oder wildes Tier.
Hatten sie Schächtmesser dabei?
Töteten sie nach dem Gesetz?
Zogen sie entlang der waldigen Berghänge oder durch die bepflanzte Talsohle? Immer in Richtung See?
Es muss schwierig gewesen sein, ein Dorf oder einen Weiler zu meiden, nicht aufzufallen und doch in den Ställen Trockenheit und Wärme zu suchen, im Winter jedenfalls, im Sommer reichte im Schutz der Felsbrocken ein stiller Platz im Wald.
Du hast gesagt, bezüglich Migration sei die Frage nach der politischen oder sozialen Gerechtigkeit ausschlaggebend. Nicht die Frage nach der Herkunft oder der Identität, sondern die nach der Gerechtigkeit berühre das wahre Problem.
Diskutierst du solche Fragen mit Joel? Wirst du es ihm beibringen?
Lieber Diogo. Pass auf dich auf. Und auf Joel.
Es steht mir nicht zu. Aber du solltest weniger essen. Du hast zugenommen. Dein Bauch. Das ist nicht gesund. Oder ist es dein neues Vaterglück?
Du liebst es zu feiern. Und ich liebe es, dass du es liebst.
Auch dass du Joel liebst.
Manchmal bin ich so leer … Bin leer … Ich denke nicht … Und denke immerzu … Wohin will ich … Was mache ich … Unentwegt denke ich … Und denke doch auch wieder nicht …
Ich würde so gern mit euch in der Küche sitzen.
Deine Selma