Читать книгу Wie die Milch aus dem Schaf kommt - Johanna Lier - Страница 9

2010. Zürich. Schweiz

Оглавление

Kurze Zeit nachdem Pauline Einzig beerdigt worden war, erhält Selma Einzig, die Enkelin von Pauline, einen Brief, in dem ihr angekündigt wird, sie habe innerhalb der nächsten vier Wochen die Wohnung zu verlassen.

Selma bekommt den Schluckauf. Sie geht mit kleinen, tapsigen Schritten durch die stillen Räume, bemüht, in jeder Bewegung ein Gefühl oder einen Gedanken zu finden, bleibt stehen und schaut über die Dinge, die sich während der letzten Jahrzehnte ihres gemeinsamen Lebens in der weitläufigen Wohnung eingefunden haben: Joels Klavier, das er nie benutzte. Nachdem er es tagelang misstrauisch gemustert hatte, tauchte er seine Finger in die Tasten, erzeugte einen fürchterlichen Missklang, worauf er den Deckel zuklappte und das Instrument nie wieder anrührte. Sie lässt ihre Blicke über die in der Wohnung verteilten Bücher schweifen, die Pauline in die Regale zurückgestellt hatte, und Selma, die sich im Chaos, aber nicht in der Ordnung zurechtfand, musste sich auf die Suche machen. Sie starrt die farbigen Teppiche an. Jagdbeute von Paulines und Selmas Reisen.

Auf dem runden Esstisch stapeln sich frisch gewaschene, akkurat zusammengelegte Kleidungsstücke, Stoffe von hervorragender Qualität und Farben von einer dämmerungsgleichen Diskretion – Selma berührt die Stücke und presst ihre Nase hinein –, Pauline hat, so lange Selmas Erinnerungen zurückreichen, nur diese braunen, beigen und eierschalenweissen Woll-, Baumwoll- oder Seidenstoffe getragen, Kleider, die geschützt, geschmeichelt und gewärmt und dennoch der Trägerin eine kühle und abweisende Eleganz verliehen haben. Streicheln, ich hätte sie streicheln wollen, und doch, es war schwer, Pauline hat eine verhornte Haut, eine schuppige Seele gehabt, ein Herz wie eine Peitsche … Selma öffnet Schränke und Schubladen, wühlt unentschlossen zwischen den Dingen, und die Aufregung weicht dem Gefühl der Überforderung, sie setzt sich auf den kalten Küchenfussboden. Was soll ich machen? Wer will denn alle diese Sachen behalten? Wo soll ich sie unterbringen? Wohin soll ich gehen … Und von Selbstmitleid gelähmt verkriecht sie sich im Sofa, wickelt sich in die weiche Wolldecke und flüchtet sich in Tagträumen dorthin, wo ihre Mutter lebt: Valparaiso, die Hafenstadt an der chilenischen Küste.

Und wenn alles erledigt ist, wird sie über den Atlantik fliegen und das tun, was zu Paulines Lebzeiten ein Ding der Unmöglichkeit gewesen ist. Es hätte sie zu sehr gekränkt.

Als gäbe es nicht schon genug Schwierigkeiten zu bewältigen, hat Joel, einen Tag nach Paulines Beerdigung, den Entschluss gefasst, nach sechzehn Jahren Zusammenleben mit Urgrossmutter Pauline und Mutter Selma zu seinem Vater zu ziehen: Diogo Pintor Eloy. Selmas Freund aus Kindertagen und Chefredakteur der Gewerkschaftszeitung, in der Selma seit Jahren als Reporterin für Alltagsgeschichten und Lebenshilfe angestellt ist. Joels Flucht erstaunt und kränkt sie gleichermassen, obwohl sie seine Angst angesichts des Kummers und der drohenden Einsamkeit wie auch der Veränderungen, die Paulines Tod unweigerlich mit sich bringen, verstehen kann. Es ist seine Art, zu trauern … Er sucht beim Vater Sicherheit und Schutz …

Selma spürt Neid. Neid auf ihr eigenes Kind. Das einen Vater hat. Einen Vaterort. Einen Ausweichort. Und sie macht sich Vorwürfe wegen ihrer Unzulänglichkeit. Weil sie nicht in der Lage ist, ihr Kind zu halten. Und zu trösten. Doch niemals würde sie ihm den Weg versperren, da sie die Liebe zu Joel der Liebe zu sich selbst gleichstellt und eine Verletzung seiner Gefühle sich anfühlte, als würde sie sich selbst etwas antun. Sie lässt ihn also gehen, ohne darüber zu sprechen, und er gibt mit feindseliger Miene zu verstehen, dass ihm jegliche Diskussion, dieses Ihn-Miteinbeziehen und Sich-Sorgen-Machen, dieses unnötige Wir-sind-ja-so-interessiert-an-deiner-Meinung schrecklich auf die Nerven geht. Und so wagt sie auch nicht, Joel von ihrem Vorhaben, bei Diogo sich zu entschuldigen und ihm vorzuschlagen, es nochmals mit der Familie zu versuchen, in Kenntnis zu setzen: Sie würde nach Paulines Tod bei Diogo einziehen. Endlich hätten sie es geschafft, eine Familie zu sein.

Sie packt mit dem Jungen seine Sachen zusammen. Richtet mit leichten Pfoten und melancholischer Zerstreutheit ein Durcheinander an, verliert und vergisst, und er läuft unwillig hinter ihr her, sammelt bedächtig auf und sorgt für Ordnung, schimpft lethargisch vor sich hin. Sie graben Erinnerungen aus und erzählen einander Anekdoten, Joel spielt mit, er, der immer wieder betont, er könne seiner Mutter niemals verzeihen, dass sie ihn durch ihren Lebenswandel dazu zwinge, ihren Namen zu tragen: «Joel Einzig, what the fuck, wie viel cooler ist doch Joel Pintor Eloy.» Was wiederum Diogo scherzhaft zu korrigieren pflegt: «Joel Pintor Einzig – Vater zuerst und dann die Mutter.» Worauf Selma nörgelt: «Joel Einzig Pintor.» Und Joel mault: «Wer fragt eigentlich mich?» Diogo boxt ihn in die Seite, fährt ihm durchs blonde Haar und pustet in seine blauen Augen: «Deine Mutter. Alles die Schuld deiner Mutter!»

Und so witzeln sie und lachen, bis Joel die Nerven verliert, seine Kleider aus dem Schrank zerrt und zornig in die Taschen stopft, was für eine Zeitverschwendung, was für eine Zeitverschwendung!

Nur fertig werden und endlich raus hier!

Nachdem Joel aus der ehemals gemeinsamen Wohnung ausgezogen und bei seinem Vater angekommen ist, arbeitet Selma sich hektisch von vorne nach hinten und von rechts nach links durch alle Zimmer, verstaut Stück für Stück Paulines Habseligkeiten in hellblau gemusterten Abfallsäcken, um auf die Strasse zu stürzen, die Säcke aufzureissen und das eine oder andere Ding zu retten. Joel! Er wird später den Wunsch verspüren, sich an seine Urgrossmutter Pauline, Gefährtin und Hüterin seiner Jugend, und an seine Grossmutter Marielouise, die in Chile lebt, zu erinnern.

Joel und seine Rechte gehen vor.

Marielouise Einzig hatte, den bruchstückhaften Erzählungen Paulines zufolge, den Kontakt zu Mutter und Tochter vollständig abgebrochen und beschlossen, ihr zweites und besseres Leben in der mythenumwobenen Wüste Atacama und der sagenhaften Stadt Valparaiso zu verbringen.

Mit fünfzehn Jahren wollte Selma das Schweigen um das Verschwinden ihrer Mutter nicht weiter hinnehmen und hat lauthals Pauline ihren Hang zum Rätselhaften, zum Drama und dieses unerträgliche Pathos vorgeworfen. Pauline setzte geräuschlos die Teetasse ab, nahm einen Zug von der Zigarette und blies den Rauch entschieden wieder aus: «Ich hab deine Mutter vergessen, in meinem Kopf existieren keine Erinnerungen, in meinem Herzen sind keine Gefühle, es ist, wie wenn es meine Tochter nie gegeben hätte.» Was in ihrer Sprache jedoch bedeutete: «Ich vermisse mein Mädchen, ich muss immerzu an es denken, vom Augenblick des Aufstehens bis zum Moment des Einschlafens, und ich bete um ein Zeichen des Verzeihens – was auch immer ich ihm angetan hab.»

Selma starrte ihre Grossmutter an und versuchte, das Gesagte zu ergründen, Pauline sprach in der Regel nur, um etwas Bestimmtes zu erreichen. Vermutlich ist sie traurig … Sie will getröstet werden, ohne darum bitten zu müssen … Sie strich der alten Frau eine Haarsträhne aus dem Gesicht, liebkoste ihre Hand und stiess kampflustig aus: «Du hast sie tatsächlich vergessen? Und ich? Bin ich etwa vom Himmel gefallen?»

Pauline schwieg. Schaute ihre Enkelin prüfend an.

Und zerlegt vermutlich mein Inneres in seine Einzelteile, um zu verstehen, warum ich sage, was ich gerade nicht hätte sagen sollen … Selma runzelte die Stirn und fügte an: «Ich bin ihr Kind gewesen. Und ich bin es immer noch.»

«Geschichten gehen allein diejenigen etwas an, die sie erlebt haben. Sind sie tot, haben sie nicht mehr die Möglichkeit, sich dazu zu äussern», erwiderte Pauline barsch. «Wer tot ist, nimmt seine Geschichte mit. Weg ist sie. Und das ist gut so.»

Selma schluckte leer: «Tot? Meine Mutter ist in Chile. Aber doch nicht tot!»

Pauline ging mit weit ausholenden Schritten durchs Wohnzimmer, die Küchentür fest im Blick, es schien, als deutete sie in leichter Schräglage einen unbeholfenen Tanz an – und brüllte plötzlich los: «Dass du so undiszipliniert bist! Verwöhnt und undankbar! Ja illoyal! Illoyal! Du weisst nicht, wer wir sind.» Doch so schnell, wie sie in Wut geraten war, so schnell beruhigte sie sich, ihre Mundwinkel schnellten hoch, sie verschwand in die Küche und rief: «Siehst du die Bäume? Riechst du die Blüten? Hörst du die Kuhglocken? Und weisst du, mein Mädchen, um deine schönen Beine?»

An einem blauen Abend mitten im Winter in einer dicht befahrenen Stadt.

Und doch fiel hin und wieder, wie unbeabsichtigt, das Wort Valparaiso. Es wurde Selma zum Fluchtort, zum Stern am Himmel. Ein pochendes Geheimnis, das allein ihr gehörte und ein magisches Gefühl der Unverwundbarkeit hinterliess. Und sie dachte sich in allen Variationen aus, wie sie eines Tages mit entschiedenen Schritten die Bühne ihrer Mutter betreten würde, in der Hand ein aufgeregtes, verzeihendes Herz.

Die Tatsache, dass die Stadt Valparaiso weit entfernt von der Wüste Atacama liegt, hatte für Selma keine Bedeutung. Sie erklärte sich die geografische Ungenauigkeit mit Paulines Wunsch, Marielouise, ihre missratene Tochter, in die Wüste, wo die Hippies, die Kiffer und die Mystiker lebten, zu verbannen – verlorene Glückssucher. In diesem Bild fand sich Pauline wieder. Ja sie liebte es in ihrer selbstgerechten Art.

Atacama, was «ans Bett gefesselt» heissen könnte, so jedenfalls stand es im Wörterbuch geschrieben, Atacama, Name für eine langgezogene Wüste, die auf der Landkarte schmal erschien, und Selma fürchtete, Marielouise müsste über den Rand stürzen, in die kalten Fluten des Pazifik oder über die unwirtlichen Klippen der Anden, deren Pfade ins benachbarte Bolivien führen.

Selma streckt sich auf dem Sofa aus und zieht die Wolldecke hoch, sie streicht mit der Fingerspitze über die Fotografie und versenkt sich in den Anblick ihrer Mutter: das glatte dunkle Haar über dem Kopf hochtoupiert, am Hinterkopf kunstvoll zu einem Knoten geschlungen, künstliche Locken fallen über die schmalen Schultern. Die dünnen Arme um die Brust geklammert und den Kopf nach vorne geneigt sucht sie Schutz vor den Wüstenwinden, die erbarmungslos die farbigen Stoffe ihrer luftigen Kleider, die präzis gesteckte Frisur wie auch die helle Haut zerstören. Die trockene Haut, das trockene Haar, ja das ganze trockene Wesen ihrer Mutter muss in diesen rauen Gegenden vollständig papieren und brüchig, schlussendlich zerrissen und in alle Himmelsrichtungen zerstreut worden sein.

Obwohl sie das schmale Gesicht ihrer Mutter seit frühester Kindheit nie wieder angefasst, nie die Hand auf die hohe Stirn gelegt hat, erkennt sie auf diesem Bild in traumhafter Sicherheit Marielouises Trockenheit, auch weil sie selber genauso spröde ist, hat sie doch die Herbe ihrer stolzen Grossmutter und die Trockenheit ihrer unerreichbaren Mutter geerbt.

Und so verteilt sie seit ihren frühen Kindertagen täglich Unmengen von Öl und Fett auf Haut und Haaren. Und denkt darüber nach, warum sie ohne Vater, ohne Mutter, allein mit ihrer exzentrischen Grossmutter aufwachsen musste, und fragt sich, ob dieses Alleinsein ein allgemein menschliches Schicksal ist, was aber sofort die nächste Frage aufwirft, warum denn andere Kinder in Familien lebten, und ob sie, aus ihr unerklärlichen Gründen, auserwählt sei, die Wahrheit über das menschliche Dasein früher als andere zu erkennen.

Heute jedoch, als erwachsene Frau und neuerdings als Erbin der verstorbenen Pauline Einzig, stösst sie angesichts der stillen Wohnung nur ein lapidares «Scheisse» aus und fühlt sich verärgert, weil dieses Alleinsein keine Frühreife, sondern lediglich ein Mangel und nichts als zusätzliche Arbeit ist.

Schränke öffnen? Schubladen herausziehen? Sachen in die Hand nehmen? Behalten? Weitergeben? Wegwerfen? Immerhin handelt es sich um ein vollständig gelebtes Leben. Selma sieht sich im Spiegel, der aus dem dunklen Korridor hervorblitzt, kleingewachsen, aufrecht, Kopf etwas nach vorne gereckt, leicht ausgedrehte Füsse, grosse Brust, den Bauch, der sich seit Joels Geburt aus ihr herauswölbt. Ich sehe aus wie ein ratloses Schaf. Nein, ich sehe nicht aus wie ein ratloses Schaf, ich bin ein ratloses Schaf, und es ist nicht gut, wenn ich jetzt auf dem Absatz kehrtmache, das Notwendigste in einen Koffer packe, die Wohnung abschliesse, den Schlüssel in den nächsten Gully werfe und so tue, als habe es dies alles nie gegeben …

Schön gearbeitetes, rötliches Holz, Blumenranken und mittendrin drei goldene Elefanten. Der Deckel der Kiste, die Selma unter dem Bett ihrer Grossmutter findet, lässt sich ohne Mühe aufklappen.

In einer Sommernacht studiert sie die Dokumente, Papiere und handgeschriebenen Aufzeichnungen. Manchmal dringen Musik, Gelächter, Stimmen und aufheulende Automotoren durch die offene Balkontür zu ihr hoch.

Pauline hatte zeitlebens ein Geheimnis um ihre Vergangenheit gemacht. Vernichtete in regelmässigen Abständen Fotos und Dokumente. War im Erfinden und Etablieren von Legenden und Mythen eine Meisterin und zwang der Welt stets ihre eigene Version der Ereignisse auf. Doch hatte sie, wie nun Selma zu entdecken meint, die letzten Jahre ihres Lebens genutzt, um das Durcheinander, das sie in ihrer Geschichte angerichtet hatte, zu entwirren. Tohuwabohu nannte sie es. Tohuwabohu! Was für ein wunderbares Wort für den Lärm in der Wüste, den niemand je gehört hat, der jedoch die Menschen verstört und das Bewusstsein und die Geisteskräfte vernichtet, wie die Engel es tun, wenn man sie aufsucht, bevor die Zeit reif ist …

Neben Schriften über die Kabbala in hebräischer Sprache findet Selma in der hölzernen Kiste Festschriften der historischen Gesellschaft der Ostschweiz über das hundertjährige Jubiläum der Schweizer Nudelindustrie wie auch Auszüge aus den kantonalen, polizeilichen Archiven des Kantons Thurgau über den Aufenthalt von jüdischen Reisenden aus Osteuropa in den Gemeinden Sulgen, Kradolf und Schönenberg. Sie entziffert Paulines schöne Handschrift: Notizen über Geschichten, die von galizischen Nudelbäckern handeln, von papier- und mittellosen Vagabunden, die im schweizerischen Thurgau herumzogen, im Weiler Donzhausen schliesslich damit begannen, Nudeln zu machen, und dafür im deutschen Ravensburg erste Maschinen kauften, auf den Bauernhöfen Trockentürme hochzogen und Tag und Nacht schufteten. Die Kunde über das moderne Handwerk und das neue Produkt verbreitete sich. Georg Kuhn, der Sohn des Müllers Kuhn aus der Gemeinde Kradolf, liess sich im Weiler Donzhausen bei den Vagabunden als Nudelmacher ausbilden und gründete in der Folge in ebendiesem thurgauischen Kradolf eine Nudelfabrik.

Es kam zu einem Krieg zwischen den aufstrebenden Fabriken des rotgesichtigen, schwitzenden Georg Kuhn und den kleinen Faktoreien der galizischen Nudelbäcker, sie stritten wegen Kleinigkeiten, kämpften um das Vorrecht, das Logo mit den goldenen Ähren auf den Verpackungen abzudrucken, oder um das Besitzrecht der Namen für die Formen der getrockneten Nudelspezialitäten. Nach Jahren verbissener Kämpfe kaufte Paulines Onkel Otto, Sohn des galizischen Vagabunden und Nudelbäckers Jankel Yuter und Enkel der tüchtigen schwarzen Hannah, für wenig Geld die in die Krise geratene Kuhn Teigwaren-Fabrik und veräusserte sie gewinnbringend an die mächtigste Konservenfabrik des Landes.

Und Selma findet in der Festschrift zur Begründung der Thurgauer Teigwarenindustrie einen Satz, den Pauline mehrmals unterstrichen und mit mehreren Frage- und Ausrufezeichen versehen hat: «Wo aus uralter Bauernschlauheit kaufmännischer Geschäftssinn entstanden war, wurden anscheinend mit Absicht Unklarheiten und Lücken belassen.» Und Pauline setzte mit der Spitze ihres roten Stifts ein fettes Kreuz auf diese Lücke und schrieb an den Rand des Papiers: «Da kommen wir her. Das sind wir.»

In ihren Notaten berichtet Pauline von Flüssen und Hochwassern, beschreibt den Dnjestr, der in der Nähe des galizischen Sambir aus der Quelle gesprungen ist, und die Thur, die in der Ostschweiz jährlich Menschen, Tiere und kostbaren Hafer verschlungen hat. Und sie erwähnt den wilden Fluss Sambatjon, den bisher noch keiner zu überqueren gewagt hat.

Selma faltet eine brüchige Landkarte auf und findet rote Kreise um den litauischen Ort Marjiampolé, das polnische Städtchen Zamość und das ukrainische Sambir, und eine gestrichelte Linie führt von Sambir über Oswjecim, Wien, Salzburg, Innsbruck bis ins thurgauische Donzhausen. Doch das Ausmass des Erbes, das ihr die Grossmutter in dieser Kiste hinterlassen hat, zeigt sich Selma erst, als sie unter all den Papieren auf einen Plastikbehälter stösst, eine hübsche rosafarbene Tupperwaredose. Sie wiegt den überraschend schweren Behälter in der Hand, mindestens zwei Kilo, und entziffert das Etikett: einen Namen, ein Datum und einen Ort. Sie hebt sorgfältig den Deckel an: feinste braun-graue Asche. Und ein dickes, vergilbtes Büttenpapier. Hebräische Schriftzeichen.

Selma läuft ins Bad und übergibt sich. Sie spürt ätzende Säure im Hals, riecht den scharfen Geruch, Kühle steigt an den weissen Porzellanwänden der Kloschüssel hoch, in der braunen Flüssigkeit schwimmen rote Schlieren. Was hab ich gegessen, ich weiss nicht mehr, was ich gegessen hab … Eine Zikade ruft, eine Frauenstimme lacht, eine Tür fällt ins Schloss. Selma hört ihren eigenen Atem.

In den Müll. Nichts und niemanden behelligen!

Erstickende Enge.

Übelkeit.

Ein heisser Tag kündet sich an. Selma lädt Paulines Kiste in ihr Auto und fährt zur Wohnung von Janika Weissbrod, bei der sie im Gästezimmer Unterschlupf gefunden hat und bei der sie die nächsten Monate verbringen wird. Bei Janika, der Freundin, der Schwester, der Schwesterfreundin oder der Freundinschwester, bei Janika, die sie auch ihren bernsteinfarbenen Cowboy oder ihren Amy Winehouse-Engel nennt, bei Janika, die ebenfalls einen Brief bekommen hat, der ihr das Ende ihrer Aufenthaltsbewilligung ankündigt – und dass sie innerhalb dreier Monate Zürich und die Schweiz zu verlassen hat.

Janika will nicht. Der Gedanke, nach Israel zurückzukehren, ist ihr verhasst. Und so verbringen Selma und Janika ihre Nächte mit dem Formulieren von Rekursen und Einsprachen, zerlegen Janikas Leben in Einzelteile und setzen es neu zusammen – und zum ersten Mal ist Selma dankbar für das, was sie von ihrer Grossmutter gelernt, ja von ihr instinktiv übernommen hat, und über das ihre Freunde – vor allem auch Diogo und Joel – spotten und lachen: das Erfinden von Mythen und Geschichten. Ja, wer nimmt schon das Geschichtenerzählen, das Dramatisieren und Verdichten ernst, wer liebt schon die Lüge und die berechnende Manipulation?

Und so weben sie am Stoff von Janikas Biografie, erfinden unzählige Motive, Varianten von den Motiven und von diesen wiederum neue Versionen, wobei am Ende die Wahl nicht auf diejenige Version fällt, die ein wunschgerechtes Leben ermöglicht, sondern auf diejenige, die am ehesten den Erfordernissen der Einwanderungsbehörde entspricht.

«Wenn du die Schweiz verlassen musst, komme ich mit. Wir suchen uns in Tel Aviv eine Wohnung. Wir amüsieren uns, tun, was uns gefällt, für immer, für drei Tage oder nur für eine Nacht», beschwichtigt Selma. Doch Janika flitzt durch die enge Küche, setzt Teewasser auf und berichtigt mit ihrer kräftigen Stimme: «NOCH bin ich hier!»

«Gut, dann fahre ich nach Valparaiso oder in die Atacama-Wüste zu meiner Mutter», gibt Selma zurück. «Oder ich ziehe endgültig zu Diogo und Joel.»

Was Janika in kehliges Lachen ausbrechen lässt: «Ohne zu fragen, ob die Mutter überhaupt in diesem paradiesischen Tal oder dieser Man-ist-ans-Bett-gefesselt-Wüste lebt, ohne zu fragen, ob Diogo und Joel dich überhaupt noch wollen», sie richtet ihren rotblonden Haarturm und zieht gleichzeitig an einem Joint, wirft sich in den Rattansessel und streckt alle Glieder von sich. «Und was ist mit Sami? Was wirst du mit deinem Sami Berri tun? Lässt er dich gehen? Einfach so?»

Sami.

Sami und Selma.

Die Umgebung weicht vor ihr zurück und ein unbestimmter Raum tut sich auf. Sie starrt auf Paulines Kiste, das hölzerne Unding, das auf Janikas grob geknüpftem Wohnzimmerteppich steht, mitten in der Leerstelle, die Marielouise, Pauline, Joel – und bald auch Janika – hinterlassen. Sie starrt auf den Deckel. Drei goldene Elefanten. Zwei Augen, eine Nase.

Das Gesicht von Pauline, scharf gezeichnet, durch den Lichteinfall gerahmt, die knochigen Schultern in ein selbstgestricktes Tuch gehüllt, das Kinn vorgereckt, die Zigarette in der Hand, brüchig und verwundbar.

Sie schaute aus dem Fenster und sagte mit diesem herrschsüchtigen Ton in der Stimme: «Ich bin vom Stamm der Rosa Luxemburg.»

Selma wühlte ihre Finger in das krause, immer noch pechschwarze Haar und drückte ihre Lippen flüchtig auf den Kopf der alten Frau: «Das ist eine deiner Geschichten. Warum lügst du?»

«Ich bin vom Stamm der Rosa Luxemburg!»

«Was willst du? Was soll ich tun?» Selma setzte sich vor Pauline auf einen Schemel, rollte ihr die Strümpfe von den Füssen, drückte Salbe aus der Tube, legte die Hände um die Fussknöchel ihrer Grossmutter und strich mit kräftigen und kreisenden Bewegungen die Haut auseinander, massierte die von der Arthrose verkrümmten Füsse und spöttelte freundlich: «Du bist von einem jüdischen Stamm?»

«Das habe ich nicht gesagt! Das hast du gesagt!» Paulines grüne Augen, schmale Frühlingsblätter im alten Gesicht. Die schweren Brüste hatten sich in ihrem Schoss hingelegt. Sie drückte die Zigarette aus und zupfte das gestrickte Tuch zurecht: «Wer will denn ein Paria sein? Willst du ein schwarzer Paria sein?»

«Bin ich schwarz? Und Joel? Sieht aus wie Leonardo DiCaprio.»

«Und du? Wie Kate Winslet? Das ist ja zum Lachen! Heirate einen anständigen, erfolgreichen Mann. Joel braucht einen Vater.»

«Das sagst ausgerechnet du.»

«Einen anständigen Vater.»

«Joel hat einen Vater.»

«Ich spreche von einem richtigen Vater.»

«Und wo ist mein Vater?»

Pauline warf ihr einen verächtlichen Blick zu und kehrte zum Thema zurück: «Mein ganzes Leben wurde ich Neger genannt. Willst du ein Neger sein?»

«Wann hat es dich jemals interessiert, was ich sein will?»

«Du tust mir weh!»

Selma hielt inne, stellte die Füsse ihrer Grossmutter sorgfältig auf die Fussablage des Rollstuhls und strich mit dem Zeigefinger zärtlich über den hohen Rist: «Tee?»

«Weisst du, was schlimmer ist als die Angst vor verderblichem Einfluss und Umweltverschmutzung? Weisst du das? Zieh mir die Strümpfe über! Ich will die grauen Seidenstrümpfe. Hol sie. In der Kommode!»

«Hier. Graue Seidenstrümpfe.» Selma hob die Strümpfe hoch, die sie ihrer Grossmutter ausgezogen hatte. Pauline packte den einen Strumpf, beugte sich vor und versuchte den Fuss anzuheben, sie arbeitete Stück für Stück an der Annäherung von Hand und Fuss, ihr Atem ging heftig: «Schlimmer ist die Angst vor Auflösung und Verschwinden.»

Selma hatte sich auf ihre Hände gesetzt, um der Versuchung, Hilfe zu leisten, widerstehen zu können, denn das Eingeständnis der Schwäche und Hilflosigkeit hätte ihr Pauline nicht verziehen. Doch die alte Frau musste schliesslich erschöpft aufgeben, lehnte sich zurück und legte den Strumpf verärgert in ihren Schoss.

Das seidene Stück über Kopf und Gesicht gezogen murmelte Selma mit dumpfer Stimme: «So. Und aus der Asche des Verschwindens steigt Rosa Luxemburg als Phönix auf und kündet von der Wiederkehr des ewigen Juden.»

Pauline beobachtete ihre Enkelin, wie man es mit einem fremden Wesen tut, dessen Verhalten man zwar verurteilt, aber nicht ändern kann, beim besten Willen nicht, und nach einer Weile sagte sie mit Blick zum Fenster: «Die Farben verändern sich, bald ist der Himmel lila, ja, der Himmel ist lila, es tut gut, das Eindunkeln zu beobachten, dann weiss man, alles wird gut …» Und brach ab und schwieg.

Selma zog den Strumpf vom Kopf und wartete. Sie kannte Paulines Schweigen. Und sie fragte sich in solchen Momenten, ob Pauline wohl an Marielouise dachte, ob sie ihr Kind vermisste, und begann erneut, kraftvoll und konzentriert zu massieren. Weich, sie ist weich wie ein Baby, weich und schön … Sie spürte den bohrenden Blick auf ihrem Scheitel … Wir sind eine Horde beziehungsloser Individualisten … Wir sind verletzt … Ja, wir haben den Hang, uns stetig zu verletzen, denn im Grunde sind wir von unserer Minderwertigkeit überzeugt …

Und als hätte Pauline ihre Gedanken gelesen, entzog sie ihrer Enkelin das eingefettete Bein und sagte klar und deutlich, sie wolle nun die Strümpfe, und fügte an: «Du bist der letzte Neger in der Familie. Du bist der letzte Neger! Mein letzter Selma-Neger! Aber du hast vergessen, was ein gutes Leben ist. Wer zeigt der Welt, wenn ich tot bin, was ein gutes Leben ist? Sag es mir! Wer?»

Selma sitzt auf dem grob geknüpften Wohnzimmerteppich in Janikas Wohnzimmer, dreht die rosafarbene Tupperwaredose in den Händen, prüft das Gewicht und studiert das dicke, schmutzige Büttenpapier, das sie darin gefunden hat.

Mit den Augen tastet sie die hebräischen Schriftzeichen ab. Sie wird Janika um die Übersetzung bitten müssen.

Die auf der Landkarte rot eingekreisten Ortschaften notiert sie in einem schwarzen Notizbuch: Kupiškis, Zamość, Sambir.

Und: Oswjecim, Wien, Salzburg, Innsbruck. Donzhausen.

Sie packt ihren roten Koffer. Bücher. Viele Bücher.

Und Paulines Dokumente.

Wie die Milch aus dem Schaf kommt

Подняться наверх