Читать книгу Wie die Milch aus dem Schaf kommt - Johanna Lier - Страница 12
ОглавлениеSami, mon cher
Beim Umsteigen meinen Anschluss verpasst! Warten in Hohenems. Setze mich hin, rauche eine Zigarette, will deine Stimme hören.
Überfüllter Biergarten. Lärm von der Strasse, dazwischen Zikaden. Am Nebentisch eine Frau mittleren Alters vor einem grossen Glas Bier. Sie schaut mich an. Ich stelle mir vor, du bist bei mir, und ich bin dankbar, nicht allein an einem Tisch vor einem grossen Glas Bier zu sitzen.
Ich warte. Warte auf den Zug. Ja. Das Warten ist die Strategie der Unschlüssigen. Bis etwas geschieht. Irgendetwas. Und langsam laden sich die Dinge mit Erinnerungen auf – silbrige Weiden, blaue Kornblumen, Mais, Weizen, Rüben, Kohlraben, steil und schroff aufragende Felswände, tiefdunkelblauer Himmelsstreif, kleine Hütten und putzige Chalets, satte Wiesen, grau schäumende Wellen, unermüdlich rollender und wasserschaufelnder Fluss, Bergscheitel – und verwandeln sich in einen Ort von früher.
Es ist eine Reise ins Archiv weit zurückliegender Ereignisse, in das vage, zerstreute Denken an die schwarze Hannah, den schweigsamen Jankel, den kleinen Ossip und das kranke Ruthchen.
In Paulines Notizen finden sich Namen von Menschen. Namen von Orten. Und obwohl ich kaum etwas über die damit zusammenhängenden Ereignisse weiss, ist mein Inneres dauernd damit beschäftigt, aus den wenigen Bruchstücken Geschichten zu erfinden. Wie fühlt es sich an, in ein endlos sich dahinziehendes Tal einzutreten? Wochenlang durch die immer gleich aussehenden Tannenwälder zu wandern? Den immer gleich aussehenden Dörfern auszuweichen? Und plötzlich ragen sie auf: scheinbar unüberwindbare Felsbrocken. Wie fühlt es sich an, eine solche Bergsperre zu überwinden – um das nächste tannenüberwucherte, steinig-steile, immer gleich aussehende Tal vorzufinden und Tag für Tag, Woche für Woche durch diese unwirtliche Senke zu ziehen? Wussten sie vom grossen See hinter den gigantischen Absperrungen aus Granit? Wollten sie nach Deutschland? Frankreich? Holland? Um in Hamburg, Marseille oder Rotterdam das Schiff nach Chile zu besteigen? Nach Brasilien oder Argentinien?
Aber warum zogen sie nach Innsbruck nicht Richtung Bayern oder durch das Engadin nach St. Moritz und von dort weiter nach Mailand, Genua oder Livorno?
Hörten sie in Innsbruck vom Bodensee, dem fruchtbaren Vorarlberg und dem Thurgau? Wussten sie von der berühmten jüdischen Gemeinde in Hohenems? Wies man sie dort ab?
Warum blieben sie im Thurgau?
Oder zählten sie die Schritte? Einfach nur gehen? Alle Kraft dem Augenblick zuwenden, um die Gegenwart zu bewältigen? Ist das Meditation? Oder die Strategie der Unglücklichen?
Du bist mit einem französischen Förderstipendium in der Tasche im Flugzeug von Beirut nach Grenoble geflogen. Besonders begabte Kinder aus dem Libanon durften in Frankreich ihr Mathematikstudium fortsetzen. Aber du warst auch vor deinem wütenden Vater auf der Flucht. Am Flughafen untersuchte dich eine Ärztin. Sie habe dein Glied in die Hände genommen und mit prüfenden Blicken studiert.
Du kicherst wie ein kleines Kind, wenn du diese Geschichte erzählst.
Während zweier Jahre besuchte ich dich montags und donnerstags, um die Nacht mit dir zu verbringen. Du bist ein Mann der Gewohnheiten. Mit diesem merkwürdigen Lächeln, das deine Augen nicht erreicht, lässt du dir Bücher empfehlen, weil du Deutsch lernen willst. Ja. Das sagtest du, und Woche um Woche bekamst du von mir ein Buch, um wenig später ein Neues zu verlangen. Obwohl, und da bin ich mir sicher, du nie eines von ihnen gelesen hast. Nicht weil du sie nicht magst, nein, weil du sie vergisst. Du lachtest laut, eine Spur zu laut, als ich dir Geschichten aus Tel Ilan von Amos Oz brachte, mit der Bemerkung, der Berg Hermon spiele eine zentrale Rolle im Leben der Protagonisten. Und wieder überzog dieses merkwürdige Lächeln dein Gesicht. Einschmeichelnd – oder eher eine Bitte, es als Schmeichelei zu verstehen.
Und eines Nachts fand ich im Klo unter ausgelesenen Zeitungen das Buch von Amos Oz. Ich kehrte ins Bett zurück und summte dir ins Ohr: «When I first saw you with your smile so tender, my heart was captured, my soul surrendered» – Elvis Presley.
Ein Verführer, oh ja, du bist ein Verführer. Und ich bin froh, weil ich für das, was ich an dir nicht verstehe, einen Namen hab.
Vermisse dich. Denke, ich verliere dich. Denke, es stimmt nicht, weil ich es bloss denke. Denke, es ist besser, auf dich zu verzichten. Denn wir sind unentschlossen. Du wartest auf meine Veränderung. Ich warte auf deine Zuwendung. Und so belauern wir uns.
Du weisst, ich würde niemals die Forderung deiner Mutter akzeptieren. Deshalb bist du beleidigt und versuchst mich durch Liebesentzug zu bestrafen.
Auf jedes Glücksmoment folgt die Zerstörung: ein Morgen. Sonnenlicht. Kaffee am offenen Fenster. Die Couch. Die Füsse hochgezogen. Kauern in den Gerüchen: Bäume, Abgase, Milch, du, ich, Shampoo. Dein Shampoo. Dieser selbstverständliche Frieden, um den wir uns nicht zu bemühen brauchen. Und am Abend eine geplatzte Verabredung. Ein unangekündigtes Nichterscheinen.
Und ich springe verspielt und bedürftig an dir hoch, jaule und winsle, warte darauf, von dir getätschelt zu werden: Sitz! Platz! Nu! Nu! Jetzt reicht’s aber!
Als Kind fragte ich mich, warum Pauline und Marielouise keine Männer hatten wie die Mütter meiner Freundinnen, und ich legte den Schwur ab, nicht so zu leben wie meine Grossmutter und meine Mutter – ein Mann, ein richtiger Mann sollte es sein –, und nun bin ich vor dir auf der Flucht: mit Geld, Pass und klimatisierter Eisenbahn, die soeben in den Bahnhof von Hohenems einfährt. Endlich!
Das Land tut sich auf. Salzburg. Hunger. Der Verkäufer in der Minibar trägt eine lächerliche Papierkappe und ich kaufe mir ein ungeniessbares Sandwich: saure Paprikaschnitze zwischen trockenen Käsescheiben und labbrige Salami in einem feuchten Brot.
Trotz der Klimaanlage riecht es nach ausgefahrenem Mist. Goldenes Abendlicht.
Isst du gerade eine Bratwurst? Du hast gesagt, du willst heute Abend in der Bude am Bahnhof eine Bratwurst essen. Ich sehe dich, wie du die Wurst und das Brot hastig in dich hineinstopfst, mit offenem Mund langsam kaust, gleichzeitig sprichst, und ich möchte wissen mit wem, du beantwortest meine SMS nicht.
Je t’embrasse.
Selma