Читать книгу Wie die Milch aus dem Schaf kommt - Johanna Lier - Страница 13
21. Juli. Wien
ОглавлениеLiebe Janika
Goldschlagstrasse. Was für ein Name! Eine weitläufige Wohnung. Ich will nicht im Bett meines abwesenden Gastgebers schlafen. Irre durch die Wohnung, prüfe die Räume, bis ein kleines, mit Pflanzen, Landkarten und Büchern gefülltes Zimmerchen sich richtig gut anfühlt, zerre die Gästematratze hinter dem Regal im Korridor hervor, durchsuche die Schränke nach frischer Bettwäsche, drückende Hitze, bei offenem Fenster Horden von Mücken.
Und vermisse dich. Wir würden einkaufen, kochen, essen, alles durchwühlen und analysieren, das Innerste unseres Gastgebers nach aussen kehren und uns zu Tode lachen, Spottdrossel, du meine geliebte Spottdrossel, ich bin so wohl mit dir wie noch nie mit jemandem zuvor. Es soll so bleiben. Es darf nicht aufhören. Aber du magst es nicht, wenn ich so rede, ziehst dich zurück, verschliesst dich. Distanz schaffen, immer wieder Distanz schaffen. Und doch bist du glücklich gewesen: auch du!
Ich lege mich auf die Matratze, die Hände hinter dem Kopf, und schliesse die Augen. Ich bin 35 Jahre alt. Ohne Familie, und mein Sohn ist fast erwachsen – ich soll das gefälligst in vollen Zügen geniessen, maulst du. Warum? Du bist es doch, die sich Mann und Kind wünscht? Mit Haus und Hund?
Meine Angst vor Einsamkeit entspricht nicht deinem Bild von einem perfekten Leben. Nach Jahren der Mutterschaft müsste ich nun meine Unabhängigkeit und Freiheit bis ins Letzte auskosten, das Beste aus meiner kleinen Existenz herausbeissen: What the fuck! Will ich das?
Stattdessen bin ich verwirrt und schreibe ungezügelte, formlose Briefe. Mein ganzes Durcheinander platzt auf, strömt in meine Computertastatur und sucht sich Empfänger: dich, Diogo und Sami.
Und ich will Paulines Kiste auf den Grund gehen. Ein unsinniges, ärgerliches Vorhaben, du vergleichst mich mit meiner Grossmutter und beklagst meine sinnlose Beschäftigung mit Mythen, Fantastereien und Illusionen – Sami gehört auch dazu. Ein unerreichbarer Liebhaber! Etwas Richtiges aus Fleisch und Blut würde mir jedoch gut tun, sagst du, etwas, was jeden Tag da ist, rülpst und furzt, Erwartungen hat und peinliche Schwächen zeigt: Ob es dir passt oder nicht.
Ob es dir passt oder nicht.
«Du bist, was du tust!» In voller Grösse stehst du da, die Hände am Hosenbund, spielst mit Pistolen und forderst mich heraus.
Wie viele Nächte haben wir in deiner Küche versoffen und über Marielouises Leben nachgedacht? Wo lebt sie? In der Wüste Atacama? In Valparaiso? Hübsch am Hügel mit Sicht aufs Meer? Oder in einer trostlos langweiligen Vorstadtsiedlung? Stellt sie einem mürrischen Ehemann das Essen auf den Tisch? Oder kifft und meditiert sie irgendwo in der Wildnis? Hat sie Familie? Einen Mann? Eine Frau? Kinder? Ist sie einsam? Mit ein paar Schafen im Süden? Oder Abuela einer grossen Sippe? Erfreut sie sich am Sonntag an einer lauten Enkelschar? Oder hat sie einer neurotischen Tochter beigebracht, mit gespreiztem kleinen Finger die Teetasse zu halten? Vermisst sie Selma? Weint sie in der Nacht? Oder verdrängt sie? Weiss sie von Joels Existenz? Will sie davon wissen? Hat sie alles vergessen? Liebt sie Augusto Pinochet? Oder Salvador Allende? Oder kämpft sie für die Rechte der Mapuche? Ist sie gleichgültig und denkt nur an ihr Vergnügen? Oder an Geld? Oder ihre kleinbürgerliche Ruhe? Ist sie ein Arschloch oder ein Engel? Weise? Humorvoll? Im Frieden mit sich selbst? Oder ein Kriegsschauplatz?
Übersetzerin? Reiseleiterin? Weinhändlerin? Käseproduzentin? Fischerin? Bäuerin? Grossgrundbesitzerin? Oder – Bettlerin? Hure? So eine alte, verbrauchte Hure? Die das Leben kennt, so wie es ist?
Calamity Jane?
Unter welchem Namen lebt sie? Valentina Rodriguez, Sofia Fernandez, Isidora Molina, Maite Perez? Als Künstlerin? Verkäuferin? Sekretärin? Putzfrau?
Oder gar jüdisch-orthodox? Chilenischer Zionismus?
Ist sie dick oder dünn? Schön? Hässlich? Unscheinbar?
Hat sie Liebhaber? Oder träumt und masturbiert sie? (Das würde ich von meinen Eltern nie wissen wollen, hast du gelacht. Und dich so verschluckt, dass ich fürchtete, du würdest ersticken.)
Warum hat sie nie von sich hören lassen? Was ist zwischen ihr und Pauline vorgefallen? Warum hat sie ihre Tochter nicht mitgenommen?
So viel Stoff. Damit könnte man Bibliotheken füllen, spottest du, nimmst mich in deine fuchtelnden Arme, tröstest mich mit deiner trägen Stimme, die einfährt wie alter, schwerer Rotwein, füllst mein Glas: Nastrowje! Wir schauen uns in die Augen und trinken ex. Ich mit offenem Rachen. Du mit spitzen Lippen. Und wir plündern deinen Kühlschrank. Morgens um fünf.
Was hat Marielouise ihren chilenischen Kindern gekocht? Knödel und Borschtsch? Gefillte Fish? Zürcher Geschnetzeltes mit Rösti? Milchreis? Ajiaco? Curanto en Hoyo oder Chancho en Piedra – was übersetzt heisst: Schwein in Stein?
Ja. Schwein in Stein. Deine Mutter ist Schwein in Stein. Oder Shwejn in Shtejn.
Erwache früh. Um sechs Uhr dröhnender Baulärm. Schlafe wieder ein. Um neun Uhr ruft Sami an. Will wissen, was ich tue, wann und mit wem. Und ich dasselbe. Kontrolle als Ersatz für Verbindlichkeit. Oder als Ausdruck der Angst, Gefühle aufrichtig zu äussern. Denn es könnten Verpflichtungen entstehen. Ja, wir sind uns nichts schuldig. Die Übereinkunft einer lockeren Affäre führt jedoch über kurz oder lang zum Eiertanz um fehlende oder hinderliche Leidenschaft. Trotz der Angst vor Verbindlichkeit möchte man im Wirbel des Schwindels einen Mittelpunkt finden … Den Zustand der Entfremdung und Selbsttäuschung hinter sich lassen … Das gelobte Land des Eigentlichen und Vollgültigen betreten …
Bin froh um meine Abreise …
Im Dorf, in dem Sami aufgewachsen war, übernachteten im Herbst 1972 europäische Touristen. Eine ältere Frau aus Schweden ging abends ans Flussufer, machte eine Gaslampe an, reihte ihre Kosmetika auf, band sich ein Haarband um den Kopf, wischte sich mit Lotion die Schminke weg, wusch sich Gesicht, Hals und Brust mit Seife, tupfte rosafarbene Wässerchen auf die Augenpartie, rieb unterschiedliche Cremes auf Gesicht, Hals, Brust, Arme, Hände und Füsse – Augenwasser, Lippenfett und ein Hauch aus einer Spraydose aufs Haar. Zähneputzen, Gurgeln und Brauenzupfen.
In diesem libanesischen Bergdorf assen die Bewohner am offenen Feuer, schliefen und kochten auf gedeckten Terrassen, wuschen sich und ihre Wäsche im Fluss, der schäumend durchs Dorf toste.
Die Kinder umringten die Frau aus Schweden und bestaunten das merkwürdige Ritual. Sami entzifferte die Namen auf den Flaschen, Stiften, Tuben und Tiegeln: Christian Dior, Jean-Paul Gaultier, Helena Rubinstein, Coco Chanel, Estée Lauder, Elizabeth Arden, Maybelline – noch heute zählt er sie, ohne zu zögern, auf. Er hatte, so erzählte er, instinktiv die Botschaft dieser erstaunlichen Performance begriffen: Man muss seinen Körper lieben und sich um ihn sorgen, denn er ist das einzige Zuhause, aus dem man bis zum Tod nicht vertrieben werden kann.
Auch ich reihe all die guten Dinge, die ihr mir mitgegeben habt, im Regal neben dem Badezimmerspiegel auf: Birkenpeeling und Granatapfelöl für den Körper, Rosencreme fürs Gesicht, Hafermilchdeodorant (alles von dir), Zahnpasta aus Meer- und Solsalzen (von Sami), eine dunkelgelb leuchtende Glyzerinseife (von Joel), meine alte Zahnbürste, ausgefranst und verwildert (von Pauline).
Frühstück im türkischen Restaurant. Wenn ich das Brot aufschneide, bringt mich der Duft um mein Leben: warm und weich! Frischer Ziegenkäse, knackige Gurkenscheiben, süsse Tomatenräder, würzig ölige Oliven, Rührei mit scharfer Wurst, Butter, Honig, Povidl-Marmelade. Ich bemühe mich, langsam zu essen, um den verdammt kurzen Moment zu verlängern – doch dann erfasst mich der Strom der Nahrungsaufnahme, die feinen Sachen strömen in meinen Mund und unzerkaut durch meinen Rachen in den Magen – dennoch schaffe ich nur den halben Käse, das Brot, die Gurken und Tomaten, drei bis vier Oliven, und der noch gut gefüllte Teller geht zurück. Es kostet nicht viel. Das Geld ist nicht das Problem. Die Überfülle, das Zuviel. Einpacken lassen? Nein! Denn morgen möchte ich Köfte, Paprika, Salat, Joghurt und Reis essen.
Auf meinem schwarzen Kleid bleiben Mehl und die Sesamkörner zurück. Die Frau vom Nebentisch starrt mich an. Ich schäme mich und versuche, das weisse Mehl wegzuwischen.
Ich bring dir Rezepte nach Hause, einfache und deftige, wie du sie liebst. Wir sammeln sie für unser Restaurant mit den schwarz-weiss gemusterten Bodenfliesen, das versteckt im Garten liegt: Bäume, Büsche, Blumen, Gräser, Kräuter – und Wege aus allen Himmelsrichtungen führen zu einem einzigen Aussichtspunkt: Wüste, rundherum Wüste, und im Norden Bergketten und im Süden das Meer –, in unserem Garten kann man flanieren, ja geradezu wandern und in Lauben, unter Pergolen und in an Bäumen hängenden, freischwingenden Korbstühlen ausruhen, was gut ist für die Verdauung und für unser Restaurant, denn dadurch entsteht neuer Hunger – aber zuerst testen wir die Rezepte, kochen, bitten unsere Freunde zu Tisch und beobachten sie beim Essen.
Die Reise durch die Slowakei macht mir Sorgen. Bratislava. Košice. Von dort ist es nicht mehr weit bis zur Ukraine. Gibt es an der Grenze Übernachtungsmöglichkeiten? Gibt es Verbindungen nach Lemberg? Muss ich einen Umweg fahren? Warschau? Krakau? Budapest? Man hat mir gesagt, die Bahnverbindungen in der Slowakei und der Ukraine seien sehr schlecht. Eigentlich mag ich es, mich ziellos treiben zu lassen. Aber ich hab kein Bild von den Wegstrecken und ich spüre meinen Körper nicht.
Obwohl ich mit fünfzehn Jahren schon einmal durch diese Landschaft gefahren bin. Das war vor zwanzig Jahren.
Im slowakischen eKošice, es war im Jahr 1990, setzte ich mich frühmorgens mit geschlossener Jacke und verschnürter Tasche in den Bahnhofswartesaal, um auf den Bus zu warten, der mich nach Drjetoma, ein kleines Dorf an der östlichen Grenze, bringen sollte. Allmählich füllte sich der Saal mit mürrischen Menschen.
Obwohl Pauline mir und Joel zeitlebens Disziplin, Loyalität und Fleiss predigte – ja, sie bezeichnete ihre Familie als zivilisatorisches Experimentierfeld –, war sie als junges Mädchen ziemlich wild gewesen. Mit entschiedenen Schritten, den Blick fest aufs Ziel gerichtet, hatte sie fremde Länder durchquert und Abenteuer bestritten, die für eine junge Frau der damaligen Zeit ungewöhnlich waren. Während des Zweiten Weltkriegs arbeitete sie, zusammen mit Brigita, einer Kommunistin aus der Slowakei, in den Armenvierteln Londons als Sozialarbeiterin.
Später wohnte Brigita bei Pauline in Zürich.
Pauline liebte Brigita.
Als ich mit fünfzehn Jahren die Schule verweigerte, schickte Pauline mich kurzerhand zu Brigitas Mutter in ein Dorf in der slowakischen Tiefebene, damit ich das wahre, das wirklich harte Leben kennenlernte. Diese Erfahrung sollte mich auf den richtigen Weg zurückbringen.
Die Menschen im Wartesaal in Košice schwiegen, bis ein junger Mann, der mich unverwandt angestarrt hatte, eine Bemerkung machte. Alle schreckten auf und schauten mich an. Das Gespräch weitete sich aus und wurde lebhafter, die zuvor noch müden Reisenden musterten mich, wiesen schamlos auf Details meiner Erscheinung und meines Gepäcks hin und – ich redete mir nichts Falsches ein –, lästerten über mich und lachten. Der Hohn und die Aggression im Wartesaal schwollen an. Die Blicke, Finger und Stimmen schwappten über mir zusammen und verdichteten sich an meinem Hals zu einem Angstkragen. Ich verharrte regungslos, als könnten Gleichmut und Schweigen mich vor dem Ausbrechen der Katastrophe schützen. Nur die Augen. Ich wusste es. Meine Augen verrieten mich. Niemand kann kontrollieren, was in den Spalten zwischen den einzelnen Sekunden für jeden sichtbar aufblitzt.
Liebe Janika. Die Verlängerung deiner Aufenthaltsgenehmigung für die Schweiz ist mein grösster Wunsch. Ich weiss, du magst nicht darüber reden – die Umstände kümmern sich gerade nicht um deine Pläne. Das macht dich bockig und wütend. Du bist nervös und verweigerst dich. Aber ich möchte dir trotzdem sagen, wie traurig es für mich wäre, wenn du nach Israel zurückkehren müsstest.
Aber ich bin zuversichtlich. Alles wird gut.
Ich umarm dich.
Selma