Читать книгу Wie die Milch aus dem Schaf kommt - Johanna Lier - Страница 20
ОглавлениеLieber Diogo
Kaufe mir heissen Kaffee. Nestlé mit Milch. Im Lidl besorge ich Brot, Käse, Tomaten, spanisches Mineralwasser und südafrikanischen Wein. Und ein Cornetto.
Das Cornetto aus Portugal. Du hast es geliebt.
Vom netten Kellner, der auch die Rezeption bedient, bekomme ich Messer, Gabel und ein Glas. Zurück im Zimmer beginne ich zu schreiben.
Deine Vergangenheit liegt hinter dir. Meine breitet sich soeben vor mir aus. Habe ich sie betreten und durchschritten, kann ich sie auch wieder verlassen. Unser beider Leben sind vom Verschwinden geprägt, also solltest du mich verstehen.
Und warum schreibst du, meine Briefe würden dich verunsichern?
Du sagst, ich würde dich bedrängen?
Ah. In der Aufzählung der Dinge, die du in Portugal verlassen hattest, ging etwas vergessen. Deine Mutter erzählte es mir in der Küche. Den Ziegenbraten hatte sie gerade in den Ofen geschoben. Geblieben ist mir ein Bild: die schmalen Lichtstreifen, die durch die Lamellen der Jalousien sickern. Das Kichern deiner Mutter, als sie, wegen der Rufe deiner Tante notdürftig in ein Tuch gewickelt, zum Fenster läuft und das Tuch von ihr abgleitet, weil sie die Jalousien mit beiden Händen aufstösst. Sie steht da, nackt, lacht und lacht, schaut dir selbstvergessen in die Augen, steigt aus dem Tuch, das wie ein Nest am Boden liegt, und beugt sich, die Arme über der Brust verschränkt, vorsichtig aus dem Fenster, gegenüber zeichnet sich das Gesicht des Nachbarn ab, der ebenfalls aus dem Fenster, aber nicht hinunter auf die Strasse, sondern zu deiner nackten Mutter starrt. Die Fassaden der hohen Häuser sind schwarz, dazwischen gleissender Himmelsfleck.
Damals, während eurer Flucht, in dieser Raststätte in Clermont-Ferrand, erkanntest du die Macht, die andere Menschen über dein Leben haben. Und die Faust des Verlusts traf dich mit voller Wucht.
Auch ich enttäuschte dich. Und ich raubte dir die Aussicht auf eine Familie und nahm dir dein Baby.
Es war nicht nur wegen Pauline. Auch wegen dir. Du warst so angespannt und zerrissen. Cholerisch. Du hattest diese Sehnsucht, an der Hand genommen und geführt zu werden. Und gleichzeitig diese Angst, weil einem Mann diese Art der Schwäche nicht zusteht.
Aber nun fühle ich eine grosse Kraft. Will mich in deine Arme wühlen, mit dir tanzen und dir zeigen, wohin unser Spiel führt. Ja, wir spielen. Mal sagst du, was wir tun. Und dann wieder ich. Wäre das nicht schön?
Ich stelle mir vor, wie Joel dich beim Kochen beobachtet. Er mag es, wenn du angebratenes Fleisch beim Wenden in die Luft wirfst. Deine Spässe treibst. Ich stell mir vor, wie ihr am Tisch sitzt, Joel mit vorgetäuschter Gleichgültigkeit und du mit deiner Fürsorge, die jeden zwingt, dich zu beachten. Das Licht ist gedämpft, die Wärme hüllt euch ein.
Ich erinnere mich an deinen Spott. Ich würde mit grellem Modeschmuck meine mangelnde Körpergrösse kompensieren. Und um einen Irrtum auszuschliessen, hast du dich standhaft geweigert, mir Schmuck zu kaufen.
Heute Nacht breche ich auf. Ich weiss allerdings nicht, ob es eine Verbindung in die Ukraine gibt. Der Grenzübergang sei zu kompliziert und die Zahl der Fahrgäste zu klein – sagt der nette Kellner an der Rezeption.
Und fährt dennoch ein Zug von Košice nach Lemberg, empfinde ich es als persönlichen Sieg. Wie albern.
Deine Selma