Читать книгу Wie die Milch aus dem Schaf kommt - Johanna Lier - Страница 10
20. Juli. Zürich – Wien
ОглавлениеSami, mon cher
Der Weizen steht. Ein blendend heller Morgen. Enge Täler, obwohl wir durch das Mittelland fahren. Dazwischen Ausblick auf die kleinräumige Landschaft.
Du hast auf die Bahnhofsuhr geschaut und den Zug schnell verlassen. Nachdem du mir, ohne die anderen Fahrgäste zu beachten oder zu grüssen, einen Platz gesucht hast. Er ist nicht besser als andere, es geht dir nur darum, ihn auszusuchen. Eine Art letzte Liebestat, Fürsorge statt Worte, die äussern könnten, was du fühlst. Ich sage auch nicht, was ich fühle. Du hast mir beigebracht, über Gefühle nicht zu sprechen, nein, es hat sich mir von selbst beigebracht, da du damit nicht zu erreichen bist. Du würdest nichts fühlen, hast du gesagt, du wüsstest nicht, wie das geht.
Sex. Und Einsamkeit verhindern. Nur darum geht es. Ich wundere mich über die Selbstverständlichkeit, mit der du das sagst.
Du hast den Zug schnell verlassen. Nachdem du leise, aber fordernd gesagt hast: «Du sagst mir, wo du bist! Jeden Tag! Vergisst du es nicht?»
Deine Bewegungen waren hektisch. Unbeholfen.
Dabei bist du sonst so gelassen. Ich liebe deinen lockeren Gang, deinen schmalen Körper. Wenn du läufst, erinnerst du mich an einen jungen Hund, der sich durch frisch gefallenen Schnee kugelt – alles an dir springt.
Bist du deshalb so unsicher, weil man dir die Liebe, die du für mich empfindest, ansehen kann?
Du liebst mich. Du denkst unentwegt an mich, an dich, an uns. Und obwohl es dir nicht gefällt, kannst du es nicht ändern. Ich weiss um deine Furcht, ich könnte dich betrügen und verlassen, ich weiss um deine Hoffnung auf mein Einlenken: Ich will dich. Will dich um jeden Preis. Ich akzeptiere deine Bedingungen.
Ein Stück von mir bleibt im Bahnhof, geht mit dir die Südtreppe hinunter in die Passage, in der die Geschäfte gerade öffnen, die Pendler hastig frühstücken und gehetzt aufbrechen, die Nordtreppe hinauf in das blendende Sonnenlicht, am Restaurant mit dem vergilbten Schweizerkreuz über dem Eingang vorbei – hier unser erster gemeinsamer Kaffee –, du gehst, den Blick vorwärtsgerichtet, um rechtzeitig ausweichen zu können – keine Zeit, keine Energie verschwenden –, du erreichst das braune Gebäude mit den unordentlichen Büros, das der weltweit grössten Rückversicherung gehört – wie du mit stolzer Verachtung zu betonen pflegst. Den Badge bereits in der Hand lächelst du dem Portier freundlich zu, ist er doch ein Mensch, läufst in die Kantine, um ein Rosinenbrötchen zu kaufen, so jedenfalls hast du es erzählt, so jedenfalls geh ich mit dir in Gedanken den Weg.
Warum ein Rosinenbrötchen? Du wüsstest nicht einmal, ob es dir schmeckt, hast du gesagt.
Aber du bist kein herzloser Mensch. Dein Herz schlägt für den Portier, für die Putzfrau, für die Bauarbeiter. Für all diejenigen, die immer noch sind, was du gewesen bist. So jedenfalls stell ich mir das vor. Und doch bist du bereit, jedem, der in deiner Versicherung die Karriereleiter erklommen hat, in den Arsch zu kriechen. Du würdest alles tun, um so zu sein wie sie oder um zu bekommen, was sie bereits besitzen. Wenn ich dir das an den Kopf werfe, dich mit solchen Bemerkungen kränken will, bist du glücklich. Du fühlst dich erkannt. Das erstaunt mich.
Nun bist du an deinem Platz am Fenster angekommen. Im Grossraumbüro, das durch die vielen Trennwände eng und wegen der gestapelten elektronischen Geräte und des Durcheinanders von Kabeln verwahrlost wirkt. Du setzt dich hin. Und lässt die anderen deine Gleichgültigkeit spüren. Wenn dir Menschen oder eine Sache etwas bedeuten, trägst du Verachtung zur Schau. Machst dich unsichtbar, ziehst den Kopf ein und lässt die Ereignisse scheinbar unberührt über dir zusammenschlagen und bist dann doch beleidigt, ja regelrecht empört, wenn man dich übersieht und vergisst.
Oder verstehe ich nicht, was dir etwas bedeutet?
Es ist schwerer für diejenigen, die zurückbleiben. Du verbringst mit diesem Unbehagen deinen gewohnten Alltag. Es gibt kein aufregendes Erlebnis, keinen tröstenden Ausblick auf eine nette Überraschung, für dich ist alles wie bisher, nur: Ich bin nicht mehr da!
Und du verstehst nicht, warum ich diese Reise mache. Du verstehst nicht, warum ich in die Ukraine fahre, an den Ort, von dem die schwarze Hannah und der Jankel Yuter aufgebrochen sind. Du verstehst nicht, warum ich meine Mutter in Chile nicht mehr aufsuchen will, warum ich dem Inhalt in Paulines Kiste auf den Grund gehen muss.
Und du weisst nicht, was ich in der rosafarbenen Tupperwaredose gefunden hab. Nein. Das kannst du dir nicht einmal vorstellen.
Und du verstehst nicht, warum ich Pauline gehorchen würde, aber niemals dir. Dabei träumst du davon, in den Libanon zurückzukehren, um deine Mutter glücklich zu machen. Ja, du solltest verstehen, dass unser beider Leben von den Wünschen alter Frauen bestimmt sind – alter Frauen, die weit weg sind.
Und du verstehst nicht, warum ich in meinem Alter mit einer Freundin zusammenwohne. Du bist nicht mehr zwanzig – benimmst dich jedoch wie ein Kind, hast du gesagt.
Du verstehst nicht, warum ich als Redakteurin einer anstrengenden und zeitraubenden Arbeit nachgehe, die wenig Geld einbringt und eine ungewisse Zukunft verspricht.
Und du verstehst nicht, warum ich es zulasse, dass Joel zu Diogo zieht. Du verstehst nicht, warum ich die Freundschaft mit Diogo aufrechterhalte, ja sogar für ihn arbeite, du lässt keine Gelegenheit aus, ihn schlecht zu machen, parodierst einen Hahn, hüpfst durch deine Wohnung und krähst seinen Namen: Diogo Pintor Eloy. Was für ein schöner Name! Diogo Pintor Eloy.
Ich hab NUR Freunde. Und du hast NUR Familie. Du wüsstest nicht, wie man das macht mit der Freundschaft, hast du gesagt, deine Geschwister hingegen sind Teil deines Körpers, deine Familie ist alles, hast du gesagt.
Du kannst nicht verstehen, warum der Ort Valparaiso – vielleicht ist es ja nur das Wort – eine solch magische Wirkung auf mich ausübt. Gibt es dort Wohlstand? Arbeit? Sicherheit? Frieden? Ein angenehmes Klima? Hast du wütend gefragt.
Du bist im Lauf deines Lebens ein hervorragender und kluger Beobachter geworden, weil du in allem mit möglichst wenig Aufwand höchste Wirkung erzeugen willst. Und doch verstehst du mich nicht. Stellst dich vor mich hin und hältst mir in endlosen Monologen wahre Strafpredigten und erwartest meine Zustimmung: Ja! Ich werde zur Vernunft kommen.
Meine Reise macht dir Sorgen. Ich werde nicht frieren, Durst oder Hunger leiden. Ich muss keinen Dreck aushalten, keine Insekten, Mäuse und Ratten, mich nicht vor der Gendarmerie verstecken, Schwarzarbeit suchen, stehlen, es drohen weder Erschöpfung, Angst vor Prügel, Vergewaltigung noch Gefängnis und Tod.
Allenfalls eine Flugplanänderung, ein verspäteter Zug, eine Baustelle beim Hotel, ein gestohlener Koffer oder ein Unfall oder eine Krankheit, ja, das kann es geben.
Aber ich hab Angst, dich zu verlieren. Hab Angst, uns zu verlieren.
Ich möchte dich in den Arm nehmen. Und trösten. Deine Haut, die schmeckt wie dunkles Brot. Dein rundes Gesicht. Dein stachliges Haar. Deine kraftvollen und doch so sparsamen Bewegungen.
Unter der Dusche. Haare waschen. Heisses Wasser auf der vor Müdigkeit schmerzenden Haut. Auf den verkrampften Schultern. Weil ich vorhin den Fisch, den du gekauft hast, aufgeschnitten und in seine Einzelteile zerlegt hab. Diese Kleinstbewegungen lösen in den Muskeln einen Krampf aus. Als wollten sie die Unmöglichkeit zeigen, ein Lebewesen in seine Einzelteile zu zerlegen, um es den eigenen Wünschen gemäss neu zusammenzufügen.
Ich unter der Dusche und du auf dem Klo. Du liest Donald Duck und zwischendurch fragst du nach einem Wort: «Was heisst Glückstaler? Was heisst aufsässig?» Das ist aber bereits aus einem Buch über Rosa Luxemburg – die eigentlich Rozalia Luksenburg geheissen und die sich in Zürich aufgehalten hat –, ein Buch, das du durch deine Wohnung trägst, bevor du dich an den Tisch setzt, Kaffee trinkst und mit konzentrierten, aber dennoch weichen Bewegungen meinen Rücken eincremst, meine trockene Haut, die Öle und Cremes aufsaugt wie ein trockener Schwamm das Wasser, die roten Flecken, die jucken, auf denen du deine Finger zärtlich liegen lässt, wie du auch eifrig meine Hände nimmst, aufnimmst, sorgfältig, wie wenn es liegengebliebener Dreck wär, und langsam die knotigen Fingergelenke zu lutschen beginnst. Deine Faszination für meine Mängel. Meine Hässlichkeit. Meinen Makel. Diese Schamlosigkeit angesichts meiner Ausscheidungen. Meiner Gerüche und Geräusche.
Als ich dich nach deinen ersten Erinnerungen gefragt hab, hast du starr geschaut und abgehackt erzählt, eher aufgezählt: festgestampfte Erde, braune Schaumstoffmatratze, Mutters rosafarbenes Kleid mit grünen Blumen, was dich erstaunt hat, weil draussen im Garten die Gräser und Büsche, aber nicht die Blumen grün waren, roter Plastikbecher mit weisser Milch, scharfe Schafsmilch, Glut auf Steinen, blau, violett, orange, und die Flammen, die am geschwärzten Holz lecken, langsam lecken und zucken, waren gelb, wie meine Zunge in dir, hast du gesagt, wie meine Zunge auf dir. An dir. Ich leck dich, bis du verkohlst.
Wir liegen auf der schmalen Couch, eng umschlungen. Ich schaff es nicht abzutauchen. Muss neue Positionen suchen. Noch enger. Noch inniger. Und dann ist es zu heiss. Zu wenig Luft. Mein Körper aufgelöst in deinem. Der Kopf hellwach, aufgeladen, angespannt.
Und du sagst: «Sorge dich nicht. Alles kommt gut.» Ich bekomme einen Lachanfall. Es passiert einfach, und danach meinen Schluckauf. Jedes Mal diesen lästigen Schluckauf.
Unterhalb der Eisenbahntrasse, in der Schlucht, ein schwarzer Fluss. Der Zug hält in einem kleinen Dorf, von dem ich noch nie etwas gehört hab. Bruggen in St. Gallen. Blutfarbene Schindelhäuser. Wein und Kerbel. Überall Pflanzen. Es ist alles so unglaublich verpflanzt.
Früher sind sie gewandert oder auf dem Pferdewagen gefahren. Sie hatten das Wetter auf der Haut und die Gerüche in der Nase. Geräusche haben sich genähert und wieder entfernt. Ich jedoch sitze im klimatisierten Zug. In einer geschlossenen Metallkapsel dringen wir in die Landschaft ein, die Lüftung neutralisiert die Gerüche und die Temperaturen, übernächtigt schaue ich auf den Landschaftsfilm, der vor meinen Augen vorbeiläuft, unberührt, was eine Sehnsucht auslöst, aber nur schwach, mir schiesst der Gedanke durch den Kopf: Fehlende Sinneswahrnehmungen bedeuten den Verlust von Gefühlen und Erinnerungen.
Aber es ist schön. Unzweifelhaft schön. Es würde dir gefallen.
Du liebst die Erinnerung an die Mandelbäume und die Schafe. Und die Blüten. Überall Blüten. Du bräuchtest einen Traktor, um die Felder am Fuss des Bergs Hermon umpflügen zu können. Obwohl ich mittlerweile herausgefunden hab, dass dein Dorf nicht am Fuss des Bergs Hermon, sondern viel weiter im Süden liegt. Du lügst. Und manipulierst. Wie Pauline. Sie hat das dauernd getan. Sagt auch Joel.
Joel. Mein Joel.
Weisst du noch, wie wir uns eine Kinderschar ausgedacht haben? Unsere Kinder. Die du nicht willst. Unsere Kinder, die du aufziehen würdest, wie Pauline es getan hat: Fleissig und erfolgreich müssten sie sein und gut angepasst und dennoch stolz auf ihre Herkunft und Traditionen, all das, was die Umgebung ablehnt und verachtet, hegen und pflegen, AUFRECHTERHALTEN, genau so. Du und Pauline. Ja, es ist dieses Herdfeuer, die langsam leckende und zuckende Flamme, die scharfe Milch im roten Plastikbecher, an die du dich erinnerst. Ich mich jedoch nicht! Und so bist DU aus meiner verlorenen Vergangenheit herausgetreten, so bist DU all das, woran ich mich laut Pauline erinnern soll.
Wir überqueren den Rhein. Bald erreichen wir Bregenz.
Am Horizont, im Dunst, Silhouetten hoher Berge. Davor flaches, fruchtbares Land. Kleine Einfamilienhäuschen. Putzig. Sauber. Geordnet.
Mein Handy meldet, ich sei nun in Österreich. Keine Grenzkontrollen.
Vier junge Frauen vertilgen Berge von Croissants – ihr Vorrat und die Krümel sind unermesslich – und lesen Gratiszeitungen. Wie du. Langsam kauen und Gratiszeitungen lesen. Akribisch. Zeile um Zeile.
Wie du mir fehlst.
Meine Hände sind unruhig. Du magst es nicht. Und bittest mich, damit aufzuhören, an mir selbst herumzufummeln. Warum?
Mein Körper ist dein Körper.
Vergiss. Vergiss mich. Vergiss mich nicht.
Deine Selma