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22. Juli. Wien

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«Wenn alle Staaten Nationen verkörpern, dann sind alle Fremden mögliche Verräter. Ob man ihnen erlaubt – oder auch vorschreibt – sich zu assimilieren oder nicht, auf jeden Fall haben sie weniger Rechte, um ihre Andersartigkeit oder Besonderheit zu leben.

Dazu kommt, dass die elementaren Ängste und Nöte von Personen ohne Aufenthaltsbewilligung aus einer sicheren, sesshaften Perspektive kaum vorstellbar sind.» Notat von Pauline Einzig

Die Leopoldstadt liegt in den Auen zwischen Donau und Donaukanal auf einer Insel. 1624 vertrieb Ferdinand der Zweite die Juden aus Wien und sie zogen auf die sogenannte Werd. 1671 zerstörte Leopold der Erste die Synagoge und erbaute eine Kirche für den heiligen Leopold – von da an hiess die Insel Leopoldstadt. Dennoch kehrten die Juden zurück, wegen der für den Handel günstigen Lage in Hafennähe und wegen der Nachbarschaft zum Prater, einer ausgedehnten Auenlandschaft – 1766 zur allgemeinen Benutzung freigegeben zog sie Kaffeesieder und Wirte an. Später wurde der Wurstelprater zum Zentrum für Unterhaltung, Prostitution, Handel und Schwarzmarkt. Als Joseph der Zweite 1849 in seiner Märzverfassung «Gleiches Recht für alle» proklamierte, wuchs die jüdische Bevölkerung in der Leopoldstadt an, auch wegen der Nähe zum Nordbahnhof, der, 1865 erbaut, Ankunftsort der Reisenden aus Galizien, Lodomerien, Böhmen, Ungarn und Rumänien war. Die Insel erhielt den Spitznamen «Mazzesinsel».

Praterstrasse. Taborstrasse. Grosse Sperlgasse. Kleine Sperlgasse. Tandelgasse. Marktgasse. Augarten. In der Hollandstrasse eintönige Häuser. Ein Kosher-Supermarket. In der Lilienbrunngasse ein lang sich hinziehendes Gebäude mit schmutzig-grüner Fassade. «Tapezierer» steht auf einer Blechtafel geschrieben. Milchglasfenster. Keine Dekoration, kein Schmuck.

Ein Schild weist auf eine Bäckerei hin. In einer verstaubten Vitrine ist Werbung angebracht für einen Jahreskalender, den man mit Selbstporträts gestalten kann. Identität heisst also, während eines ganzen Jahres sich täglich anzuschauen. Heute, am 22. Juli, und am 22. Juli vor einem Jahr bin ich gewesen und am 22. Juli nächstes Jahr werde ich sein. Und so gehe ich nicht verloren in der unberechenbaren Welt – eine Selbstvergewisserung zum Frühstück.

In der kleinen Sperlgasse das Kosher-Restaurant Milk & Honey. Afrikanerstrasse. Mohrengasse. Negerchengasse.

Am Ufer der Donau, unter dem Kopf der Reichsbrücke der Mexikoplatz. Hier der Schwarzmarkt mit illegalen Geldtauschgeschäften. Ein Schmuggel- und Hehlermarkt der Migranten, Flüchtlinge und Sans-Papiers: Türken, Serben, Vlachen, Albaner, Polen, osteuropäische Juden, Sinti, Roma und viele andere. Dieser Ort anarchisch-illegaler Überlebenstaktik wird als Übergangslösung von der Stadtverwaltung akzeptiert, da einer, der sich hier aufhält, jederzeit ausgeschafft werden kann. Praktisch ist es, flexibel und billig und nützlich für den bevorstehenden Wahlkampf. Denn jeder Politiker, der einen solchen Ort aufräumt und das «Gesindel» vertreibt, wird gewählt – und die Übriggebliebenen, die nicht verhaftet worden sind, ziehen in die Freudenau.

Im Schatten der Bäume die Rücken der Männer, über die Brettspiele gebeugt.

Der Redefluss der Frauen fliesst den Bänken entlang: russisch, serbisch, hebräisch, türkisch.

Das Kichern der Kinder unter der schimpfenden Bewachung der Alten. Fliegende Bierdosen und liebkoste Fahrräder in den Händen junger, balgender Männer.

Gierige Mädchenfäuste in der Tiefe der Schokoladentüte.

Mexiko ist weltweit der einzige Staat gewesen, der 1938 in der Unoversammlung gegen den Anschluss Österreichs an Hitlerdeutschland protestiert hat. Ist in schwarzen Lettern in den Granitbrocken graviert. Leider hat Österreich selber nicht protestiert. Es braucht schon einiges an Selbstironie, die Tafel zu Ehren Mexikos gerade hier zu platzieren, denn die Leute, die hier Handel treiben, wären wohl ausnahmslos von den Nazis getötet worden: Aycan Supermarket / Wohnheim Stadt Wien / Uhren und Hörgeräte / Bronek: Batterien, Ghettoblaster, Haarspray, Uhren, Fernbedienungen, Fotorahmen / Textil Magazin Krenek: Lichterketten, Uhren, Kochgeschirr, Parfum / Vili – Waren aus aller Welt: Taschen, Uhren, Geschirr, Stofftiere, Ventilatoren / Tabak / Zach Juwelen: Gold- und Silbermünzen, An- und Verkauf / Krystyna 194: Taschen, Stoffblumen, Statuen, Holzlöffel, Schmuck, Ventilatoren / Alibaba: T-Mobile, Handy, Computer, SAT-Anlagen / Ernex Swiss Textile steht leer, vergilbte Tapeten, im Schaufenster eine Landkarte von Afrika / Billige Einkaufsquelle von Waren aus aller Welt: Spielzeug, Abfallsäcke, Kartonschachteln / Kandow: Gold, Silber, Juwelen, Uhren, Wäschekörbe, Kisten aus China / Feig & Co: steht leer / in der leergeräumten Korber Konditorei: Baumaterial, Leitern, Farbtöpfe, türkische Einkaufstüten, Leuchtreklamen für Coca Cola / F. Wasser: Kleider, Gemälde / M. Spiegel: Kleider, Western Union / Everything Center: Laptop, Skier, Fahrräder, Dragon Energy Drink / Handy Vienna: Billig Telefonieren, An- und Verkauf, Reparatur / Nikita da Russo: Russische Pizzeria. In der Lassallestrasse eine Reihe von Börsen: An- und Verkauf, Tausch.

Wie die Milch aus dem Schaf kommt

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