Читать книгу Wie die Milch aus dem Schaf kommt - Johanna Lier - Страница 15
ОглавлениеLieber Diogo
Wie gern würde ich mich ziellos treiben lassen: aufwachen, Geräusche und Gerüche, Sonnenlicht, wandern, schwimmen, Eis essen, Wein trinken, Mond und Sterne, Gerüche, Geräusche, einschlafen.
Aber ich will eine fassbare, zusammenhängende Geschichte, die ich erzählen kann. Ich suche mir das Material und erfinde sie neu.
Warum sollte ich es nicht tun?
Du kannst dir nicht vorstellen, wie verwirrt und leer ich mich fühle. Von allem, was mir Nahrung zugeführt hat, bin ich getrennt. Und frei. Befreit. Und mir schwindelt. Und du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr sie mich belogen hat. Pauline! Die alte, verrückte Pauline!
Und diese Hitze! Sogar das Tippen, körperlicher Kleinstaufwand, treibt einem das Wasser aus den Poren. Ich sollte in der kleinen Donau schwimmen gehen.
Und ich muss an deine Eltern denken. Joel sprach oft von ihnen. Er nennt sie Mae-Pai. Ein wenig Portugiesisch hat er also gelernt. Du wärst sicher glücklich gewesen, wenn du den zärtlichen Unterton in seiner Stimme gehört hättest. Hört sich Indianisch an: Mae-Pai.
Joel hat Geld von mir bekommen, damit er zum Friseur geht. Warum reagierst du so ungehalten auf seine merkwürdige Frisur? Lass ihn, auch wenn sie dir nicht gefällt. Er muss entscheiden.
Was kochst du heute? Esst ihr in der Küche oder im Arbeitszimmer? Weiht er dich in seine pubertären Geheimnisse ein? Redet er mit dir?
Umarme Joel mit deinen bärenstarken Armen, bis er keine Luft mehr bekommt!
Deine Selma