Читать книгу Wie die Milch aus dem Schaf kommt - Johanna Lier - Страница 24
Оглавление«Ja, ich lebe im Bewusstsein meiner jüdischen Herkunft. Ich empfinde ein verrücktes, ja ganz starkes Gefühl der Zugehörigkeit. Das spielt sich auf der emotionalen Ebene ab und geht unaussprechlich tief. Mein Innerstes gehört den Juden. Aber ich kann darüber nicht sprechen.» Notat von Pauline Einzig
museum von hesed-arieh jewish home: Eine nackte Frau auf einem zerwühlten Bett. Das weisse Pferd leckt gierig ihren Rücken.
Bruno Schulz: Geflügelt von zwei ausgehöhlten, abstehenden Ohren.
Joseph Roth: Vom Alkohol aufgelöstes Gesicht.
Pferdegespanne und Männer auf einem Marktplatz: Akkordeon, Geige und Laute.
Kleine, magere Knaben: Bücher.
Eine Remington 5 mit hebräischen Buchstaben.
Geschirr für Pessach mit Anweisungen in Polnisch, Deutsch, Russisch und Hebräisch.
Singer- und Kayser-Nähmaschinen. Bügeleisen mit Kohle und Davidstern.
Jerusalem.
Und Exekutionen.
Immer wieder diese Exekutionen.
Hesed-Arieh Jewish Home: home care, curators service, medical program, rehabilitation equipment loan, meals, volunteers service, region, winter relief, sos, club, bulletin of hesed-arieh, day center, beiteinu children’s programs: mazl tov, ken eladim, lev group.
rael yuter, direktorin von hesed-arieh jewish home, 46 jahre, lebt in lemberg: Dämmrige Ruhe. Schwere Möbel in der Umarmung flauschiger Teppiche. Rael Yuter ist klein und energisch. Nackte Füsse in aufsehenerregenden Schuhen: gefährlich hohe Plateausohlen. Ein aufgedunsenes Gesicht unter einer unglaublichen Lockenfülle. Die Haut von einem feuchten Film überzogen. Sie fächelt sich Luft zu.
Sie lacht.
Ein mageres Mädchen bringt hauchdünne, mit lauwarmem Kaffee gefüllte Porzellantassen.
Rael Yuter: «Meine russische Mutter besass keinerlei Beziehung zu den jüdischen Traditionen. Mein ukrainischer Vater hingegen brachte an Pessach Mazzen nach Hause, obwohl es verboten war – Freiwillige buken sie heimlich in ihren Wohnungen und verteilten sie über illegale Kanäle. An Schabbat zündete er die Kerzen an und sprach den Kiddusch.
Eine Schwester meines Vaters war nach Israel ausgewandert. Nach ihrem Tod flog ich zur Testamentseröffnung nach Tel Aviv. Als wir die Dokumente öffneten, fanden wir einen Brief in russischer Sprache mit ganz vielen Fotos aus meiner Kindheit, sorgfältig und chronologisch geordnet: Liebe Rael, ich wartete auf dich. Ich wartete auf dich, nachdem du deine Ausbildung abgeschlossen hattest, aber du kamst nicht, ich wartete auf dich, nachdem du geheiratet hattest, aber du kamst nicht, ich wartete auf dich, nachdem du dein Baby bekommen hattest, aber du kamst nicht. Nun sterbe ich und kann nicht länger hoffen.
Meine Tante hat ihr Vermögen – 900.000 Dollar, zwei Häuser, zwei Zitrusplantagen und ein Kleidergeschäft – einem Kinderheim für Waisen aus dem Zweiten Weltkrieg vermacht! Und das im Jahr 1994!»
Rael lacht fröhlich.
Rael Yuter: «Im selben Jahr verliess ich meinen Mann und stand mit zwei Kindern auf der Strasse. Glücklicherweise bekam ich das Angebot, für Hesed-Arieh Jewish Home zu arbeiten.
In diesem Umfeld regte sich meine jüdische Identität und ich erwarb mir ein tieferes Verständnis für meine Wurzeln. Ich wuchs allmählich in die Traditionen hinein – eine sanfte Bewegung, eine behutsame Annäherung. Nun zünde ich an Schabbat die Kerzen an und spreche den Kiddusch. Zu Rosch Haschana und Jom Kippur gehe ich in die Synagoge.
Während der ersten zwei Jahre setzten die Bewohner dieses Hauses alle Hebel in Bewegung, um uns rauszuwerfen. Im Hof untersagten sie ihren Kindern, mit unseren Kindern zu spielen, unsere Grossmütter durften sich nicht auf die Bänke zu den anderen setzen. Ich fragte: Warum? Wir leben in derselben Stadt! Wir kümmern uns um Arme und Bedürftige. Sie schrien: Gebt ihr euer Geld auch den Armen, die in den Kirchen sitzen? Gebt ihr eure Medikamente und Kühlschränke auch den ukrainischen Babuschkas? Verteilt ihr Essen in den Dörfern in den Karpaten? Nein! Ihr schaut nur für euch! Und ihr habt ein besseres Leben.
Eine staatliche Rente beträgt knapp hundert Dollar. Davon müssen Steuern, die Miete, Medizin, Kleider und der tägliche Bedarf an Zahnpasta, Seife, Shampoo und was man sonst noch so braucht, bezahlt werden. Viele Rentner ernähren sich von Buchweizengrütze und Milch. Sie haben nichts. Absolut nichts! Keine staatliche Unterstützung, keine Elektrizität, kein fliessend Wasser, keine medizinische Versorgung – in den Spitälern muss jeder die Apparate, die Anästhesie, die Operation, die Schmerzmittel selber bezahlen. Die Leute sind allein. Da haben sie ein ganzes Leben gelebt und im Moment der Not sind sie allein.
In den Dörfern haben sie eigene Gärten mit Gemüse und Früchten. Das hilft jedoch nur so lange, wie sie den Garten bestellen können.
Wir pflegen die alten Leute, die oft nicht in der Lage sind, sich selber anzukleiden oder auf die Toilette zu gehen, wir putzen, kochen, waschen, das ist schwere körperliche Arbeit.
Tag für Tag bekommen wir Anrufe. Eine Geburt, eine Bar Mitzwa, eine Hochzeit, eine Bestattung. Wir helfen Eltern, ihre Kinder zu versorgen, jungen Leuten, ihre Studien fortzusetzen, wir organisieren Schabbat, Rosch Haschana, Jom Kippur und Pessach, wir feiern zusammen, wir sind eine grosse Familie und das ist unser Glück.»