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10. August 2010. Lemberg

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Es gibt einen Moment, da lege ich das Buch aufgeschlagen auf meinen Bauch, ich döse weg und träume … Das aufmerksame Aufblitzen in Samis Augen, eine schnelle Bewegung seiner Hände, um das Anstossen der Hüfte am Regal zu verhindern: «Sie müssen auf sich aufpassen», sagte er, und als ich zurückwich und verlegen lächelte, fügte er an: «Sie sind es wert, dass man gut zu Ihnen schaut.»

Für einen Augenblick glaubte ich, Sami Berri käme in die engere Auswahl, der nächste Wächter meiner Höhleneingänge zu sein … Doch später schrie ich ihn an … Entscheide dich … Libanon … Deine Mutter … Entscheide dich … Sag endlich, was du willst … Was DU willst … Und er schaute missbilligend an meinem Kopf vorbei … Warten, ich soll warten und Geduld, GEDULD, nichts überstürzen …

So blieb Grossmutter Pauline die vollkommene Hüterin, die mir Schutz und Sicherheit, aber auch Freiheit gab … Sie hielt unser Leben zusammen … Sie zog mich und Joel auf … Ich hatte keine Angst, denn ich wusste, sie würde nicht bleiben, sie war alt …

Selma erwacht. Schiebt die verschwitzten Laken weg. Stille. Atem. Stille. Beugt sich aus dem Bett, zieht die Tasche heran und das Handy aus dem Gewirr ineinander verwickelter Dinge – ein Foto von Joel mit Diogo, ein Foto von Sami –, drückt auf Nachrichten. Klickt auf den Namen und tippt langsam eine Nachricht.

23:00: «Mon cher Sami. War in der alten Synagoge. Eine Ruine. Sicht auf weidende Ziegen. Durch die zerbrochenen Fenster. Reste vom goldenen Dach. Die prächtigen Fresken. Dieser lächerlich unscheinbare Haufen Stein. Sitz einer monotheistischen Religion. So unglaublich aufgeladen, explosiv, umkämpft, in den Himmel gehoben, zerstört, wieder aufgebaut, erobert, verloren. Ursache von Krieg. Symbol der Erlösung. Sitz der einen unteilbaren Wahrheit. Es könnte auch eine Moschee sein. Oder eine Kirche. Oder ein asiatischer Tempel.»

23:15: «Ma chère Selma. Bin zurück aus dem Libanon. Meine Mutter grüsst dich. Sie hat mir Gurken aus dem Garten und rote Linsen mitgegeben. Traurig! Du bist nicht bei mir! Wir könnten zusammen essen. Ich hab einen schönen Rotwein gekauft. Es gibt bald Krieg. Wenn nicht jetzt, dann nächstes Jahr.»

23:22: «Mon cher Sami. War auf dem Markt. Geschrei. Verkehr. Lärm. Geht eine traditionelle Ukrainerin vorbei. Rock bis zum Knöchel. Kopf bedeckt. Geht eine traditionelle Armenierin vorbei. Rock bis zum Knöchel. Kopf bedeckt. Geht eine traditionelle Jüdin vorbei. Rock bis zum Knöchel. Kopf bedeckt. Geht eine traditionelle Tatarin vorbei. Rock bis zum Knöchel. Kopf bedeckt. Du redest vom Krieg?»

23:40: «Ma chère Selma. Schön, wie du schreibst. Politik ist kompliziert. Die Hisbollah ist mächtig. Unendlich viel Geld. Modernste Waffen. Hervorragend ausgebildete Leute. Wart nur ab: Es gibt Krieg! Die schiitische Hisbollah hasst die sunnitischen Palästinenser in den Flüchtlingslagern und die sunnitischen Rebellen in Syrien. In meinem Kopf gibt es trotzdem die Idee: Ich kehre nach Hause zurück.»

23:42: «Mon cher Sami. Du verdienst genug Geld, um Land und ein Haus zu kaufen. Du hättest in Mashgara ein gutes Leben.»

23:50: «Ma chère Selma. Libanon ist schlecht, keine Regierung, keine Gesetze, Korruption und überteuerter Boden.»

23:54: «Mon cher Sami. Der Mensch ist ein zerbrechliches Gut. Und das Leben ein grober, ungeduldiger, wütender Postbote.»

00:00: «Du schreibst so schön. Und du hast recht. In der Hisbollah hätte ich Karriere gemacht und wäre eine bedeutende Persönlichkeit geworden. Was ist aber aus mir geworden? Ein gewöhnlicher Versicherungsangestellter ohne Frau und Kind.»

00:02: «Mon cher Sami. Bist du verrückt? Du träumst von einer Karriere in der Hisbollah? Vielleicht doch besser, du bleibst in der Schweiz. Du machst mir Angst.»

00:04: «Ma chère Selma. Meine Mutter wartet auf meine Rückkehr. Ich heirate die Frau, die sie für mich gefunden hat. Unsere Familien haben sich gegenseitig besucht und geeinigt. Ich bin der älteste Sohn. Ich muss es tun.»

00:15: «Ok. Auch gut.»

00:18: «Ma chère Selma. Geh nach Israel und dort zur Klagemauer und wirf für mich einen Blick auf die Al Akkba-Moschee. Tust du das?»

00:30: «Selma. Ich baue im Libanon ein Haus. Ohne fliessendes Wasser und ohne Strom. Das Leben am Hang des Bergs Hermon ist hart. Aber ich kaufe Mandelbäume und Schafe. Und einen Traktor. Und am Feuer ist Platz für dich. Ich warte auf dich.»

Tohuwabohu, dieses bockige Wort, das den verstörenden Lärm in der leeren Wüste bezeichnet. Den niemand je gehört hat. Und der das Bewusstsein und die Geisteskräfte vernichtet. Wie die Engel es tun, wenn man sie aufsucht, bevor die Zeit reif ist. Komm, Engel … Steig herab … Kämpf mit mir … Schlagen wir uns am Ufer des ewigen Flusses Sambatjon die Seelen wund …

02:00: «Sami! Mashgara liegt NICHT am Fuss des Bergs Hermon.»

02:05: «Selma! Wann kommst du? Ich warte auf dich.»

02:16: «Vergiss nicht, mir weiterhin so schöne Briefe zu schreiben. Je t’aime. Sami.»

Wie die Milch aus dem Schaf kommt

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