Читать книгу Wie die Milch aus dem Schaf kommt - Johanna Lier - Страница 29
12. August 2010. Lemberg
Оглавление«Ich würde mich als gläubigen Menschen bezeichnen. In die Synagoge konnte ich jedoch nicht gehen. Ich war einmal zu einer Bar Mitzwa eingeladen. Frauen und Kinder sassen oben auf dem Balkon, alle kannten sich, sie waren eine grosse Familie. Mich starrten sie an und senkten die Stimmen, damit ich sie nicht verstehen konnte: keine freundliche Atmosphäre.
Ich hätte mich mit dem jüdischen Gottesdienst vertraut machen müssen. Wir hatten den Bezug zu den Ritualen und ihren Bedeutungen verloren.» Notat von Pauline Einzig
In der Synagoge. Die Besucher des Kabbalat Schabbat sind zum grössten Teil aus Israel. Die Männer diskutieren, ob sie Jiddisch oder Hebräisch sprechen sollen, sie tragen Jeans, Hemd und Kippa, einige Kaftan, Tallit, Pelzhut und Schläfenlocken. Die Frauen finden sich auf der Empore, die Bänke stehen ungeordnet, zerbrochene Stühle liegen herum, sie lesen in Büchern, schwätzen, heben den Vorhang, der aus wunderschöner Spitze gemacht ist, rufen hinunter und debattieren. Der Rabbi Mordechai Kaplan, ein kleiner, dicker Mann, wischt sich mit einem grossen Tuch den schweissnassen Schädel, weist mit dem Finger auf einen älteren Mann, der zu singen beginnt, zieht sich den Tallit über den Kopf, der Gesang hebt ab, liturgische Rezitation, arabisch-pentatonische Klänge, Klezmer und Balkanbeat, die Männer klatschen und klopfen auf die Bänke, einer kommt mit der Thorarolle herein, ein anderer öffnet den Schrank, sie verstauen die Thorarolle im Schrank, stopfen sie unbeholfen hinein, wie man es mit widerständiger Wäsche tut, der Rabbi, immer noch den Tallit über dem Kopf, rezitiert, zu seinen Füssen liegt sein kleiner Sohn und betrachtet die singenden Männer von unten, die Frauen deuten Tanzschritte an, sie sind – ihre Köpfe und Oberkörper vor dem Vorhang, ihre Hinterteile und Beine hinter dem Vorhang – in zwei Teile geschnitten, der Stoff hebt und senkt oder bauscht sich, wenn eine dagegen atmet oder den Kopf zu weit vorstreckt.
Zwei lange Tische. Fische, Salate, Kuchen, Wasser, Cola und Saft. Der Kiddusch wird gesungen, Saft getrunken, die Challa wird gebrochen und mit Salz bestreut.
Lea, die Frau des Rabbi Mordechai Kaplan – trotz der bleiernen Hitze mit hochgeschlossener Bluse, Jacke, Strümpfen und Perücke bekleidet –, will mich zu ihren Töchtern setzen, doch plötzlich Rufe: «Switzerland! Switzerland!»
Lea schubst mich zu einem Mann, der aus Zürich kommt. Weisse Haut, schwarzes Haar, rote Lippen, ein männliches Schneewittchen. Gesang ertönt, die schwarzen und die weissen Engel, die Namen sorgfältig ausgesprochen, für eine gute Woche, Leas Töchter tragen Hühnersuppe mit Nudeln auf.
Schneewittchen trinkt Obstsaft und fragt: «Sind Sie jüdisch?»
Selma: «Vielleicht. Zur Hälfte.»
Schneewittchen: «Mutter oder Vater?»
Selma: «Mutter.»
Schneewittchen: «Ja? Und bei der Mutter die Grossmutter oder der Grossvater?»
Selma: «Beide.»
Schneewittchen: «Für mich sind Sie jüdisch. Keine Frage.»
Selma: «Wenn überhaupt, bin ich halbjüdisch. Und nicht nur das. Ich komme aus einer Familie assimilierter Konvertiten. Ich bin Hybrid. Ich bin unbestimmt.»
Schneewittchen: «Kennen Sie die Halacha?»
Selma: «Ja.»
Schneewittchen: «Die Halacha ist das Gesetz.»
Selma: «Mag sein. Meine Familie aber ist die Realität.»
Der Rabbi klettert auf eine Bühne, erzählt eine Geschichte, Ivrit, Jiddisch und Englisch, die Worte brechen mit Gewalt aus dem rundlichen Mann heraus, die Gäste gehen herum, reden oder nutzen die Pausen, wenn der Rabbi Atem holt, um zu klatschen, einen neuen Gesang anzustimmen, doch er hebt die Hände: «Warten Sie! Warten Sie! Ich bin noch nicht fertig!» Und ich fühle mich zugehörig, Teil einer Gemeinschaft, Paulines Gemeinschaft – Paulines Vermächtnis, das ich aus den Tiefen der Geschichte, des Schweigens und der Kiste heraufhole. Und finde das Glück in Marielouises Herzen … Mitten in dieser Stadt, die sich Valparaiso nennt … Paradies … Offenes Meer … Woher kommen wir … Wohin gehen wir … Und ich bedaure, wegen Schneewittchen nicht bei den Mädchen in der Küche und im Hof sein zu dürfen. Das endlose Monologisieren der Männer langweilt mich, ich sehne mich nach Küchenklatsch mit Frauen, Spielen mit Kindern – wie auch die Erinnerung an meine Mutter ein Kinderspiel mit Verlangen ist. Auf Marielouises Flucht zu reagieren, sie zu verstehen, heisst wach zu sein für das, was an meinem Leben gut ist, oder vielmehr wach zu sein für das Gute im Leben schlechthin.
«So! Das hat gedauert, ein Chasside halt!» Schneewittchen springt auf und sucht Messer und Gabel, ich helfe ihm, Hühnerkeule, Kartoffeln und Gemüse, der Mann, der mir gegenübersitzt, will wissen, warum ich hier bin. Ich stelle die Gegenfrage. Er wohne in der Westbank und arbeite als Tourist Guide, Polen, Ukraine, Russland, Konzentrationslager und Erschiessungsstätten. Er berichtet von Auschwitz, das erst spät für ganz Europa errichtet worden ist, von Belcec, wohin die meisten Polen und Westukrainer verschleppt worden sind, und von Sobibor im Süden, wo es einen Aufstand gegeben hat. Er zählt Dörfer und die Anzahl der Erschossenen und im Wald Verscharrten auf, kann nicht aufhören, eine Litanei, eine Liturgie. Der Mann, rothaarig und voller Sommersprossen, kneift schliesslich die Augen zusammen und fixiert mich. Er lebe in Samaria, im heiligen Zentrum von Israel, sagt er, die internationale Gemeinschaft bezeichne das Gebiet aber als Westbank oder gar als besetztes Gebiet. Er wiederholt angewidert das Wort: WESTBANK! Nun ja, entgegne ich, auf die Perspektive, aus der man die Sache betrachte, komme es an.
Er ist gekränkt und verstummt.
Wodka wird ausgeschenkt. Lea verteilt Fruchtrouladen, ihre Töchter laufen hin und her, tragen auf und ab, in der Küche an der dröhnenden Abwaschmaschine zwei lachende, verschwitzte Frauen: Schabbes Gojim.
Lea umarmt mich: Schabbat Schalom. Und der Rabbi wirft sich auf einen Stuhl, wischt sich mit einem Tuch den Schweiss von der Stirn und entschuldigt sich, weil er seine Geschichten in Ivrit erzählt.
«Never mind», sage ich, und er wendet sich ächzend ab: «All the best.»