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4. Literatur und Arbeitswelt: Die Angestellten (Kracauer)
ОглавлениеDurch die Konzentration von Industrie und Verwaltung in den Metropolen, vor allem in Berlin, entwickelte sich bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts zunehmend eine Angestelltenschicht, die – materiell meist unterprivilegiert – ein deutlich von der Arbeiterschaft unterschiedenes gesellschaftliches Bewusstsein entwickelte. Auch dieser Wandel kam erst nach dem Ersten Weltkrieg zur vollen Ausbildung. Die entstehende Angestelltenkultur ist überwiegend eine weibliche und großstädtische, und so wird sie auch in den neusachlichen Romanen gezeigt (zu den Realbedingungen vgl. Frevert 1990). Auch dass die wachgerufenen Wünsche nach erotischer wie materieller Erfüllung für die meisten hart arbeitenden und schlecht bezahlten Sekretärinnen und ,Tippfräuleins‘ fiktiv blieben, kann man dort lesen. Die große Stadt ist immer auch Ort der Sehnsucht und der Vorlust, die Emanzipation der Neuen Frau in der Metropole bleibt meist Versprechen, dies zeigen die meisten Berlin-Romane ebenso wie die auf Realbeobachtung basierenden Aufsätze Siegfried Kracauers. Nach dem Einsetzen der Weltwirtschaftskrise ging es für die Angestellten mehr und mehr um die bloße Existenzsicherung, und Kracauer schrieb im Vorwort zu seinem Buch Die Angestellten, dass „Berlin zum Unterschied von allen anderen deutschen Städten und Landschaften der Ort ist, an dem sich die Lage der Angestelltenschaft am extremsten darstellt“ (Kracauer 1971 – 2002, Bd. 1, 213). Die Angestellten vor allem in den Großstädten zeigen ein hohes Maß an „Kulturbedürftigkeit“ (Band 1999, 181), sie versuchen zum Beispiel in hochkulturelle Bereiche einzudringen, die bisher dem Bildungsbürgertum vorbehalten waren, bildeten aber vor allem die Konsumentenschicht der nun entstehenden neuen Formen von Unterhaltung und Amüsement. Dabei zeigen sie, meist höchstens mit mittleren Bildungsabschlüssen ausgestattet, den Willen, sich von den Fabrikarbeitern abzusetzen.
Die Ausbreitung und Ausdifferenzierung der Angestelltenschicht, aber auch ihr Funktionswandel, resultierten aus der Technifizierung und Rationalisierung der Büroarbeit, der Einführung häufig in den USA entwickelter Zeit- und Leistungserfassungssysteme und einer verstärkten Konzernbildung. Als neues Element kam nun die Integration von immer mehr weiblichen Arbeitskräften in diese Sphäre. Die soziologische und ökonomische Erfassung dieses neuen Phänomens und dessen politische Behandlung nahmen deshalb in den 1920er Jahren immer weiter zu. 1928 war etwa eine gewerkschaftliche Schrift über die soziale Not der weiblichen Angestellten erschienen, 1933 veröffentlichte der Soziologe Carl Dreyfuss das Buch Beruf und Ideologie der Angestellten, 1930 erschien die von Frieda Glass und Dorothea Kische im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Frauenberufsverbände durchgeführte Erhebung Die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse der berufstätigen Frauen, 1930 eine ähnliche Umfrage des Zentralverbandes der Angestellten Die weiblichen Angestellten. Arbeits- und Lebensverhältnisse von Susanne Suhr, 1931 die Untersuchung Zur Typologie der kaufmännischen weiblichen Angestellten (zu diesem Thema hatte Marie Hörbrand bereits 1926 eine Untersuchung vorgelegt), Robert Hoffstätters Die arbeitende Frau. Ihre wirtschaftliche Lage, Gesundheit, Ehe und Mutterschaft (1929), marxistisch-feministisch orientiert von Alice Rühle-Gerstel Die Frau und der Kapitalismus. Eine psychologische Bilanz (1932), Bücher über die neuen technisierten Bürotätigkeiten, etwa Die Schreibmaschine und das Maschineschreiben (1923) von Hermann Scholz, besonders wichtig die vor 1933 nicht mehr veröffentlichte Untersuchung des Soziologen Hans Speier Die Angestellten vor dem Nationalsozialismus (1932) und die groß angelegte statistische Studie Die soziale Schichtung des deutschen Volkes von Theodor Geiger (1932). Die Vielzahl solcher Analysen und Stellungnahmen, besonders zur Problematik der weiblichen Angestellten, zeigt die Bedeutung des Themas. Interessanterweise treten im neusachlichen Zusammenhang erstmals literarische Texte gleichberechtigt und teilweise auch gleichartig an die Seite der wissenschaftlichen und publizistischen Diskurse. Die Angestelltenromane und zahlreiche Zeitstücke vermitteln auch ein relativ gründliches Wissen über die Stellung der Angestellten im sozialen Gefüge, ihre materielle Lage und ihre Mentalität. Entsprechend erscheint auch bereits 1932 eine literaturwissenschaftliche Studie zum Thema: Josef Witschs Berufs- und Lebensschicksale weiblicher Angestellter in der Schönen Literatur.
Siegfried Kracauer veröffentlichte von Dezember 1929 bis Januar 1930 im Feuilleton der Frankfurter Zeitung, deren Redaktion er bereits seit 1922 angehört hatte, in zwölf Folgen die Artikelserie Die Angestellten, die 1930 mit dem Untertitel Aus dem neuesten Deutschland als Buchfassung erschien. Aus der Fülle der Bücher, Aufsätze und Reportagen zu diesem Thema hebt sich Kracauers Serie vor allem dadurch heraus, dass es ihm um die Beobachtung und Darstellung der kollektiven Mentalität dieser neuen Schicht geht, um ihre Bewusstseinsformen, ihre Sehnsüchte, Wünsche und Ängste, nicht zuletzt aber auch um ihre Praxis in Arbeitswelt und vor allem Freizeit, der er in Büros, Fabriken, Unterhaltungsetablissements, Revuetheatern oder Parks nachspürt. Fassen und begreifen will Kracauer diese neuen Mentalitäten durch einen ebenfalls neuartigen teils analytischen, teils journalistischen und teilweise episch-literarischen Zugriff, nämlich durch die Konzentration auf die Oberflächenstruktur, die für Kracauer auch das entscheidende Moment der Angestelltenkultur ist. Dabei geht es weder um die Erfassung in einem theoriegebundenen Begriffssystem, noch um Änderungsvorschläge, auch nicht um eine Reportage im Sinne von Kisch, sondern eher um die Montage von Wahrnehmungs- und Beobachtungsstücken: „Zitate, Gespräche und Beobachtungen an Ort und Stelle bilden den Grundstock der Arbeit. Sie sollen nicht als Exempel irgendeiner Theorie, sondern als exemplarische Fälle der Wirklichkeit gelten.“ (Kracauer 1971 – 2002, Bd. 1, 214) Kracauer schafft eine neue Form der Wirklichkeitsaneignung, die – hier den Techniken Brechts und Döblins durchaus ähnlich – aus der montageartigen Zusammenstellung von kurzen Texten besteht, deren Titel die jeweilige Thematik andeutend verrätseln. Der Text ist in einem Zwischenbereich zwischen diskursivem und literarischem Schreiben angesiedelt, er besetzt die „Form der analytischen Beschreibung“ (Koch 1996, 55).
Neusachlich ist Kracauers Buch durch die Schreibform, die den Abbildrealismus weit überschreitet, aber an einer Sachorientierung festhält und Reportageelemente einbezieht (vgl. Becker 2000a, 169). Dabei geht Kracauer von der direkt an die Angestelltenschicht adressierten großstädtischen Unterhaltungsindustrie aus und zeigt deren Funktionszusammenhang. Diese Industrie konstruiere das Modell einer möglichen Glückserfahrung, die aber real gerade verhindert werde, vielmehr setzten sich die in der Arbeitswelt herrschenden Normen der Uniformität und Anonymität, Drill und Disziplin, Präsentation der Körper als Maschinen und Waren, die Geringschätzung des Alters bis in die Freizeitsphäre fort. In den Angestellten wendet er sich auch deutlich gegen die Kälte der neusachlichen Objektsprache, indem er sie bewusstseinskritisch auslegt. Dann zeige sich nämlich, dass unter der durch die Arbeit und auch den Freizeitbereich abgeforderten Sachlichkeit etwas anderes liegt, und dies enthüllte sich etwa in den großstädtischen Vergnügungsstätten. Kracauer beschreibt die Eingangshalle des beliebten Hauses Vaterland, die ihn an ein feudales Hotelfoyer erinnert:
Sie übertreibt den Stil der neuen Sachlichkeit, denn nur das Modernste ist gut genug für unsere Massen. Nicht schlagender könnte sich das Geheimnis der neuen Sachlichkeit enthüllen als hier. Hinter der Pseudostrenge der Hallenarchitektur grinst Grinzing hervor. Nur einen Schritt in die Tiefe, und man weilt mitten in der üppigsten Sentimentalität. Das aber ist das Kennzeichen der neuen Sachlichkeit überhaupt, dass sie eine Fassade ist, die nichts verbirgt, dass sie sich nicht der Tiefe abringt, sondern sie vortäuscht. (Kracauer 1971 – 2002, Bd. 1, 292f.)
Die Neue Sachlichkeit in Design und Architektur, die Kracauer als Architekt besonders intensiv wahrnahm, gehört für ihn zur Disziplinierungsindustrie, indem sie unter dem Mantel des Funktionalen und Strengen nur alte sentimentale Inhalte anbietet. Sie ist gleichzeitig leer, da sich hinter der Fassade nur die Dekorationen der Revuenummern verbergen, beides also zusammenfällt (vgl. Koch 1996, 61). Bemerkenswerterweise nimmt Kracauer hier eine doppelte Bestimmung vor, die in sich nicht ganz widerspruchslos erscheint. Er fragt nach dem, was aus der Architektur spricht und sieht dies zunächst als Ausdruck der Kälte neusachlicher Objekte. Die ,Strenge‘ zeigt sich aber gleich als eine nur scheinhafte, ,pseudohafte‘, da unter der Oberfläche des Neuen etwas sehr Altes schnell sichtbar wird, Grinzing nämlich, der Wiener Stadtteil, dessen Name längst eine verkitschte Form Wiener Gemütlichkeit repräsentierte und der hier hinweist auf eines der vielen Themenrestaurants, die das Etablissement enthielt. Grinzing deutet zugleich darauf, dass die Fassadenhaftigkeit die Angst vor Vergänglichkeit und Tod repräsentiert, die auch konnotativ in der Wiener Bildhaftigkeit angelegt ist. Kracauers Denken schwankt zwischen Ideologiekritik, die die eskapistische Haltung der Konsumentenschicht der Angestellten entlarvt, Kulturkritik und zugleich einer „kontemplativen Kritik an der Zerstreuung“ (Koch 1996, 60), die mit Denkmodellen Pascals und Montaignes in Verbindung steht. Diese divergenten Sichtweisen werden immer wieder zeitdiagnostisch am Kino festgemacht, in dem die kleinen Ladenmädchen ihrem Alltag zu entfliehen suchen, oder auch in den „Pläsierkasernen“ (Kracauer 1971 – 2002, Bd. 1, 292) Berlins. Als Beispiele solcher Betriebe wären etwa das als Novität mit Tischtelefonen ausgestattete Ballhaus Residenz-Casino (,Resi‘) oder das an der Friedrichstraße gelegene Moka-Efti-Lokal zu nennen, beides Orte einer vorgestellten Ferne, im eigentlichen Sinne „Märchengefilde, in denen die Illusionen leibhaftig Figur geworden sind“ (ebd., 294; vgl. Band 1999, 182). Diese Verdrängungsindustrie, die auf die Aufstiegssehnsucht, das Kulturbedürfnis und die Fluchtreflexe der Angestellten setzt, zeigt für Kracauer, fast im Sinne barocker Sinnlichkeits- und Körperdarstellungen, den Gegensatz von Sein und Schein, nun bezogen auf Technik und Ausstattung. Einzelgegenstände, die häufig dem Bereich des Visuellen und Präsentativen entstammen, der von Kracauer wie bei den Filmanalysen und im Ornament der Masse kritisch als Sphäre falscher Wahrnehmung beschrieben wird, enthüllen dies, so etwa bei der Beschreibung von „Wasserkunst“ im beliebten Berliner Lunapark:
Immer neu geformte Strahlenbüschel fliehen rot, gelb, grün ins Dunkel. Ist die Pracht dahin, so zeigt sich, dass sie dem ärmlichen Knorpelgebilde einiger Röhrchen entfuhr. Die Wasserkunst gleicht dem Leben vieler Angestellten. Aus seiner Dürftigkeit rettet es sich in die Zerstreuung, lässt sich bengalisch beleuchten und löst sich, seines Ursprungs uneingedenk, in der nächtlichen Leere auf. (Kracauer 1971 – 2002, Bd. 1, 297)
Kracauer unterscheidet zwischen den faktischen politischen und sozialen Gegebenheiten (Deprivation, Disziplinierung und tendenzielle Verelendung), dem Bewusstsein der Angestellten (Identifikation mit dem höheren Bürgertum) und der Angestelltenkultur, die vor allem den wachsenden Freizeitbereich umfasst. Dieser ist durch Modernität gekennzeichnet (Film, Sport, Nachtlokale, Revuetheater), aber zugleich durch eine Vereinnahmung durch die herrschenden Interessen der Besitzenden. Deshalb ist es notwendig, durch Aufklärung diese Interessen herauszuarbeiten, da sie zunächst verdeckt sind und von der Masse der Konsumenten nicht wahrgenommen werden. Diesen Veranstaltungen haftet, wie Kracauer sagt, eine „Nebenbedeutung“ (Kracauer 1971 – 2002, Bd. 1, 294) an: „Außer ihrem eigentlichen Zweck erhalten sie noch den andern, die Angestellten an den der Oberschicht erwünschten Ort zu bannen und sie von kritischen Fragen abzulenken […].“ (Ebd., 295)
Kracauers Kritik der massenmedialen Phänomene der Gegenwart lässt sich aber nicht auf deren Instrumentalisierung für die herrschenden Gruppen reduzieren, sie ist doppelseitig, wie die Bestimmung des ,Bildzaubers‘ zeigt, der Eskapismus vor den Notwendigkeiten der Zeit ausdrückt, aber auch Ausweichen vor den Gesetzen des Daseins: „Die Flucht der Bilder ist die Flucht vor der Revolution und dem Tod.“ (Ebd.) Der zentrale Abschnitt „Asyl für Obdachlose“ zeigt besonders klar, dass Kracauers Verfahren zur Erfassung der Angestelltenkultur weit über eine Bestandsaufnahme im Sinne neusachlicher Oberflächenwiedergabe hinausgeht. Damit gelingt es ihm, ähnlich wie Kisch und Roth in ihren Reportagen, mit dem neusachlichen Repertoire der Beobachtung und Registrierung zugleich über eine platte Realitätswiedergabe hinauszugelangen.
Gegenüber den häufig lediglich auf Oberflächenphänomene gerichteten Beschreibungen des Büroalltags in den Sekretärinnenromanen zeigt sich in der Reportageform Kracauers der Versuch, die Nebenbedeutung, den Subtext, zu integrieren. Ähnlich nimmt auch Joseph Roth Öde und Monotonie des Angestelltendaseins inmitten einer „Berliner Vergnügungsindustrie“ (so der Titel eines Artikels in den Münchner Neuesten Nachrichten von 1930) mit einem Kracauer analogen Grad an Literarizität genau wahr, den Zwang zur an die gesellschaftlichen Erwartungen angepassten Körper- und Bewegungsform. Weit entfernt ist dies von der Beschwörung einer versöhnenden Wirkung der auf den Amerikanismus zurückgeführten Disziplinierung, wie sie sich etwa in den Schriften des Psychologen Fritz Giese (1925) findet. Gabriele Tergit beobachtet in einem Artikel über die Erfahrung eines Varietés die massenhafte Verwertung von Weiblichkeit präzise und gleichzeitig kritisch: „Zweimal neunhundert Augen, davon mehr als die Hälfte männliche, starrten aus dem Dunkel. Nackte Beine als Massenerscheinung sind ungemein peinlich. Lächeln als Massenerscheinung ist schamerregend, weil unverhüllte Prostitution […].“ (Tergit 1994, 32)