Читать книгу Einführung in die Literatur der Neuen Sachlichkeit - Johannes Pankau - Страница 14
ОглавлениеIV. Aspekte und Ausprägungen der neusachlichen Literatur
1. Einflüsse und Abgrenzungen
Begriff der Moderne und des Realismus
Das grundsätzliche Problem, den Entwicklungsprozess der Literatur in handhabbaren Epochenbegriffen zu fassen, stellt sich seit dem späten 19. Jahrhundert in besonderem Maße. Mit dem naturalistischen Kunstbegriff wird das Moderne erstmalig begrifflich fixiert, zugleich aber auch schon pluralisiert, wie die weitere Entwicklung zeigt. Eine in der Forschung gelegentlich vorgenommene Zurückverlegung des Moderne-Begriffs bis in die (Früh-)Romantik würde die Problematik letztlich prolongieren (vgl. Becker 2002, 93). Ein Wendepunkt ist die Phase des Fin de Si›cle: Seit der Jahrhundertwende werden Stilpluralität und Richtungskonkurrenz zu Konstanten des literarischen Lebens. Der Zeitraum von den 1890er Jahren bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs wird zurecht als ,Zeitalter der Ismen‘ charakterisiert, das allerdings im Verlaufe der Durchsetzung des Expressionismus als dominanter Literaturströmung seit etwa 1910 deutlicher konturiert wird. Die Zerfaserung der literarischen Öffentlichkeit wird auch im Zuge der Weimarer Republik nicht dauerhaft aufgehoben, weshalb die Auffassung überzogen scheint, mit der Neuen Sachlichkeit komme „das literarische Anliegen einer ganzen Autorengeneration zum Ausdruck“ (ebd., 75).
Vorausgehende und parallele Entwicklungen
Alle wesentlichen Richtungen der Vorkriegsliteratur wurden nach 1918 weitergeführt, auch wenn sie zum Teil, wie der Expressionismus, an öffentlicher Wirkung einbüßten. Starke Publikumswirkung hatte weiterhin die im Gefolge der Heimatkunstbewegung entstandene völkisch-nationalistische Literatur, fortgesetzt wurden auch Ästhetizismus und Symbolismus, und vor allem die psychologisch gerichteten Werke etwa eines Schnitzler hatten nach wie vor ein großes Publikum. Bedeutende Autoren, deren Anfänge mit dem Wilhelminismus eng verbunden sind, dominierten teilweise noch die literarische Öffentlichkeit der Weimarer Zeit, besonders die Brüder Mann, in geringerem Ausmaß G. Hauptmann, Rilke oder George. Döblin, schon ein bedeutender Autor der Vorkriegsperiode, stellte mit Berlin Alexanderplatz den Anschluss an die internationale Moderne her, auch die anderen großen modernistischen Romane des deutschsprachigen Raums, Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften und Hermann Brochs Die Schlafwandler, entstanden in dieser Zeit. Ehemalige Expressionisten wie Gottfried Benn oder Franz Werfel standen weiterhin im Vordergrund des Interesses. Auch Franz Kafka produzierte bis in die 1920er Jahre hinein, schließlich traten innovative junge Autoren wie Elias Canetti hervor (Die Blendung).
Expressionismus und Futurismus
Die Neue Sachlichkeit formiert sich in meist polemischer Abgrenzung vom Expressionismus. Die expressionistische Autorengeneration der um 1880 Geborenen teilte ein gemeinsames Krisen- und Innovationsbewusstsein, das sich in den großstädtischen Literatenzirkeln vor allem Berlins bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs artikulierte (vgl. Pinthus 1959, 16). In ihren Werken äußerte sich der Versuch, den rebellischen Impetus im Generationenkonflikt der wilhelminischen Gesellschaft möglichst aussage- und wirkungskräftig zu gestalten, und das Bestreben, neue Ausdrucksformen zu entwickeln – Praktiken, die in der Nachkriegszeit oft als leer pathetisch empfunden werden. Die expressionistische Bewegung zerfällt nach dem Weltkrieg rapide und die Überlebenden der Schlachten versuchen sich politisch wie literarisch neu zu orientieren, so Becher, Johst, Toller oder Pinthus.
Die Verbindungs- und Trennlinien von Neuer Sachlichkeit und italienischem Futurismus sind bisher noch wenig erforscht. Dessen Hauptvertreter Filippo Tommaso Marinetti hatte die Berliner Avantgarde schon während eines Besuches 1912 beeindruckt. Die Futuristen führten einen Technikenthusiasmus in die deutsche Literaturszene ein, der sich dann bei Brecht und vielen neusachlichen Autoren in den zwanziger Jahren wiederfand. Allerdings regte sich bereits vor dem Ersten Weltkrieg auch Kritik an diesem technikfixierten und -fetischistischen Programm und seinen Auswirkungen für die Literatur, zum Beispiel in den Stellungnahmen Alfred Döblins, der 1911 einen sehr kritischen „Offenen Brief an F. T. Marinetti“ unter dem Titel „Futuristische Worttechnik“ verfasste.