Читать книгу 1918 - Johannes Sachslehner - Страница 19
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ОглавлениеWien, Schloss Schönbrunn. Kaiser Karl, noch Herrscher über den zweitgrößten Staat Europas und mehr als 52 Millionen Menschen, steht auf. Die harte Wirklichkeit hat die Welt der Träume rasch beiseite geschoben. Wie Franz Joseph I., sein Vorgänger auf dem Thron, hält auch Karl eisern sein Tagesprogramm ein, Tag für Tag arbeitet er, gibt Audienzen und leitet Besprechungen, wühlt sich durch Aktenberge und unterschreibt gewissenhaft Schriftstücke, die ihm vorgelegt werden.
Karl, der tiefgläubig ist, weiß, dass dieser kommende Tag und die Tage danach für ihn und seine Familie, für die Dynastie und die Monarchie Schicksalstage sein werden. Die Hiobsbotschaften der letzten Tage, die immer klarer zutage tretende Aussichtslosigkeit der Lage, die endlosen Gespräche mit Vertretern aller Nationalitäten, die Konferenzen mit Militärs und Ministern haben ihn in einen seltsamen Zustand versetzt: Eine Mischung aus Widerstandsgeist und Ohnmachtsgefühl, aus betäubender Verzweiflung und Gottvertrauen treibt ihn vorwärts. Mit Rücksicht auf sein geschwächtes Herz sollte er, so haben die Ärzte empfohlen, etwas zurückstecken – Karl will jedoch daran gar nicht denken; als erster Diener seiner Länder und Völker akzeptiert er beinahe widerstandslos die ihm vorgelegten Tagesprotokolle. Er ist bereit um den Thron seiner Ahnen zu kämpfen …
Das Frühstück, die Hauptmahlzeit des jungen Monarchen, ist wie immer sehr stark: gebratenes Fleisch, Obst, Mineralwasser, ohne Kaffee oder Tee. Dann folgt der Gang zur Heiligen Messe in der Schlosskapelle; wie meist empfängt Karl die Kommunion.
Karl I., Kaiser von Österreich und als Karl IV. König von Ungarn, ist als Herrscher nicht mehr unumstritten. Politisch unbedacht und unerfahren, schlitterte er in die Sixtusaffäre, die verheerende Konsequenzen für seine Reputation als Monarch haben sollte. Indem er die Autorschaft für die Briefe an den Prinzen Sixtus Bourbon-Parma zunächst vehement abstritt, erschien er vielen als Lügner und Schwächling und beschwor durch sein fortgesetztes ungeschicktes Verhalten einen Machtkampf mit Außenminister Czernin herauf, dem schließlich nichts anderes übrig blieb als seinen Rücktritt einzureichen. In der Armee hatte Karl sein Ansehen damit verspielt – Generaloberst Arz von Straußenburg brachte es August von Cramon, dem Deutschen Bevollmächtigten General beim k. u. k. Armeeoberkommando, gegenüber angeblich auf den Punkt: Ich habe erfahren, dass mein Kaiser lügt!
Als Resultat der Sixtusaffäre hatte sich die Position Österreich-Ungarns gegenüber dem Deutschen Reich entscheidend verschlechtert. In Berlin forderte man nach diesem Alleingang Karls für den habsburgischen Bündnispartner strenge Kontrolle: „Vertrauen kann man jetzt nicht mehr haben, also müssen wir Garantien fordern“, depeschierte Cramon an Hindenburg; Kaiser Wilhelm II., der seiner moralischen Entrüstung über den „verräterischen“ Bündnispartner nicht genug Ausdruck geben konnte, verlangte, dass sich Karl bei ihm persönlich zu entschuldigen habe – eine Forderung, der der österreichische Monarch am 12. Mai 1918 mit einer Reise nach Spa ins deutsche Hauptquartier wohl oder übel nachkam. Den Wünschen der Deutschen konnte Karl nichts mehr entgegensetzen: Eine Militärkonvention wurde geschlossen, mit der sich Österreich-Ungarn endgültig in völlige Abhängigkeit vom Deutschen Reich begab; die bisher „Oberste gemeinsame Kriegsleitung“ wurde durch eine „Oberste Kriegsleitung“ ersetzt. Die Gazetten der beiden Monarchien lobten die Erweiterung des Bündnisses als wichtigen Schritt, als welthistorisches Ereignis.
Als führungsschwach in den Augen der Militärs zeigte sich Karl bei den Vorbereitungen zur letzten Offensive an der Italien-Front im Juni 1918: Er stimmte zwar dem mit Conrad, damals Kommandant der Heeresgruppe Tirol, besprochenen Operationsplan zu, der einen Angriff aus dem Raum Asiago vorsah, ließ sich aber nach der Abreise Conrads zu den Truppen vom Generalstab wieder „umdrehen“ und plädierte nun für eine Offensive weiter östlich zwischen Astico und Piave. Für die Generäle an der Front war klar: Der Monarch war in Fragen der umfassenden operativen Planung überfordert, vor allem aber den Intrigen und „Spielchen“ der mächtigen Männer im Armeeoberkommando nicht gewachsen. Dazu kam das nachdrückliche Bestreben Karls, einen „sanften“ Krieg führen zu wollen, einen Krieg also, der mit möglichst wenig Blutvergießen auskommen sollte – für die an den Zynismus des täglichen Blutvergießens gewöhnten Generäle eine seltsame Haltung, die von ihnen als gefährliche Inkonsequenz interpretiert wurde: Wer den Krieg siegreich führen will, so das zynische Kalkül der Militärs, kann nicht auf die Opfer blicken …
Karl möchte den Krieg beenden, einen Krieg, von dem er jedoch bis zum Ende seines Lebens überzeugt sein wird, dass es ein „gerechter Krieg“ war. Ein Krieg, den Österreich zur Selbstverteidigung gegen die Interessen der feindlichen Großmächte, vor allem von Russland und Italien, gegen Freimaurer, Sozialisten, Bolschewiken zu führen gehabt hätte. Nie wird er zu der Erkenntnis gelangen, dass Österreich im Einvernehmen mit dem Deutschen Reich den Krieg im Juli 1914 mutwillig vom Zaun gebrochen hat, dass es eine Hand voll Männer war, die geglaubt hatte, das scheinbar hoffnungslos unterlegene Serbien angreifen zu müssen, ermutigt dazu durch die zum Krieg bereiten Militärs in Berlin, die ihrerseits die Chance gekommen sahen, zum Schlag gegen Russland ausholen zu können. Moltke lockte Österreich mit dem berühmten „Blankoscheck“ –. Wien war so unvorsichtig zuzugreifen. 1914 wollte niemand Österreich-Ungarn „zertrümmern“ – erst durch die Kriegserklärung provozierte man jene Kräfte, die schließlich zum Zusammenbruch seines Reiches führen sollten.
Kann sich mit dem zynischen Kalkül der Militärs nicht anfreunden: Kaiser Karl I. will den Frieden, hält aber auch den Krieg für „gerecht“.
Auch Karls Gegner sammeln sich für die Kämpfe des Tages. Um 6 Uhr klingelt das Telefon in der Wohnung von Alois Rašín. Am Apparat ist Sokol-Chef Dr. Scheiner. Ob es etwas Neues gebe? Rašín verneint, weist nochmals darauf hin, dass trotzdem alles für den großen „Knall“ vorbereitet werden müsse.
Über dem Frontgebiet am Piave dämmert der Morgen heran. Man bereitet sich auf den neuen Kampftag vor: Punkt 6 Uhr beginnt die Lagebesprechung beim 2. k. u. k. Dragoner-Regiment Graf Paar in der kleinen Ortschaft Camino, wo die Truppe, aus der Reservestellung in Rivarotta kommend, um Mitternacht eingetroffen ist. Oberstleutnant Stluka, ein Tscheche vom Dragoner-Regiment 9, der in Vertretung des beurlaubten Regimentskommandanten Oberst Hugo von Schram das Regiment führt, hat für die Herren Offiziere vom „D 2“ wenig erfreuliche Nachrichten: Englische und französische Truppen hätten am Morgen des Vortags die Dammstellung der ungarischen 7. Division durchbrochen und die Papadopoli-Insel erobert, der weitere Vorstoß des Feindes erfolge auf der Straße Tezze – San Polo – Ormelle.
Zum Gegenangriff sei die 8. k. u. k. Kavalleriedivision befohlen, bestehend aus den Dragoner-Regimentern 2 und 14 (Windischgraetz) sowie den Ulanenregimentern 11 (Kaiser Alexander von Russland) und 12 (Graf Paar); an den Flanken würden die 24. und die 26. Schützendivision Unterstützung bieten.
Für die 2er-Dragoner, die sich in Rivarotta bei guter Verpflegung 6 Wochen lang ausgezeichnet erholt haben, ist dies zunächst kein Grund zur Panik – in bester Ordnung marschiert man über Oderzo nach Colfrancui und geht hier in Stellung: In den Weingärten beiderseits der Straße will man den Feind erwarten, das 1. Halbregiment bildet die vorderste Linie, das 2. Halbregiment die 2. Linie; die II. Maschinengewehrschwadron, befehligt von Leutnant Ernst Putz, und die Tragtiere bleiben auf der Straße; das Regimentskommando wird in der Nähe der Kirche von Colfrancui eingerichtet.
Ein klarer sonniger Herbsttag kündigt sich an, beinahe wolkenlos spannt sich der blaugraue Morgenhimmel über die Ebenen Friauls. Vom Feind noch weit und breit keine Spur, dafür sind es k. u. k. Truppen, die nach Osten zurückgehen, vor allem ungarische Einheiten passieren in kleinen Gruppen den Ort. Auffallend viele Soldaten haben die linke Hand verbunden – Selbstverstümmelung als letztes und endgültiges Argument, um in Richtung Heimat aufbrechen zu können. Zwischen den Infanterieeinheiten tauchen immer wieder einzelne Artillerieabteilungen und Trainfahrzeuge auf – die Front bröckelt auch ohne Feindeinwirkung!
Die 2er-Dragoner, vor allem Egerländer, Tschechen und Kroaten, sehen dem ruhmlosen „Abmarsch“ ihrer ungarischen Kameraden mit gemischten Gefühlen zu, behalten aber eiserne Ruhe und Disziplin; sie sind bereit zu kämpfen.