Читать книгу Belarus (2004) - Johannes W. Schottmann - Страница 15
13 - Die Grube
ОглавлениеEr scheute und hielt sich ganz links. Auf Abstand zu den Gestalten auf seiner Rechten bedacht, stieg er beklommen mit zögernden Schritten die Stufen hinunter. Ohne hinzuschauen, spürte er den Sog des schweigenden Abstiegs, wo einer dem anderen folgen musste.
Marthe stand unten. Sie hatte die Inschriften bereits gelesen und erwartete ihn. Er mochte nicht reden und wandte sich ab. Er wollte nicht riskieren, dass seine Augen feuchter würden.
Schamlos war es - das wusste er - dass er nun seinen Fotoapparat zückte, um sie zu knipsen: die Prozession der Todgeweihten. Er schluckte, wischte die Augen frei und hielt sich an, die Gestalten einzeln zu fassen.
Die erste dieser ausgemergelten Gestalten, fast schon angekommen auf der letzten Ebene, war ein Mann, der sein Gesicht - gefasst? - zum Himmel richtete, die Arme vor der Brust verschränkt. Von vorn kaum zu sehen, drängte sich ein Kind an ihn, lehnte den kleinen Kopf gegen seinen Rücken. Gleich. Gleich würde er diesem Kind keinen Schutz mehr bieten können. Gleich würde ein Gewehrkolben ihn ins Genick treffen und der nächste Schlag schon das Kind niederstrecken. Und wenn es wimmerte. Vielleicht würde sich einer aus der Reihe darüber werfen. Und.
Einige der Folgenden wirkten ängstlich, andere klagend. Ein Mann, etwas seitwärts aus der Reihe stehend, legte schützend seine Hand über den gewölbten Bauch seiner Frau.
Keiner derjenigen, die hier herabsteigen, abgemagert bis auf die Knochen, keiner wird mehr entkommen. Sie wissen es. Und es scheint nicht Feigheit, dass keiner aufbegehrt. Was sie erlebt haben, die schönen vergangenen Zeiten wie die schrecklichen Jahre, ihre unterschiedliche Herkunft, ihre verschiedenen Lebenswege, ihre guten und ihre schlechten Taten - alles liegt hinter ihnen. Jetzt unterstehen sie alle dem einen Los, demselben Schicksal. Gemeinsam steigen sie hinab in die Fluten des Untergangs. Ohne Aussicht, dass sich das Meer noch einmal teilen würde.
Vielleicht würden sie, unten angekommen, hingestürzt, versuchen, noch ein letztes Mal zu beten. Die Schüsse würden ihre Erlösung sein.
Michael wandte sich um und versuchte vergeblich, die kyrillischen Zeichen der Tafel zu entziffern. Dann bemerkte er zu seinem Befremden, dass es eine deutsche Version gab.
„Am 8. und 18. 11. 1941 wurden - vom deutschen NS-Staat befohlen - mehr als dreizehnhundertfünfzig Juden aus Hamburg in das Getto von Minsk deportiert. Die meisten wurden noch …“
Was heißt das schon: vom deutschen Staat befohlen? Willige Helfer waren sie, schäbige Gestalten, die sich später verstecken würden hinter Befehlen - Befehle, die nichts anderes waren als erwünschte Freibriefe.
Hier konnten sie erschlagen und erschießen, konnten sich austoben, bis sich nichts mehr regte.
Michael!
Simone, die Reiseleiterin, rief die Gruppe zusammen. Er war der Letzte hier unten. Simone rief noch einmal, ungeduldig. Noch ein Foto, dann stieg er langsam nach oben.
Er konnte die Grube wieder verlassen - wie damals die Mörder...
Fast entronnen, blieb er auf einer der obersten Treppenstufen stehen und gewahrte erst jetzt die letzte Gestalt in der Reihe der Todgeweihten: einen Geigenspieler, wie einem Gemälde von Chagall entstiegen, munter den Bogen schwingend…
Marthe erwartete ihn mit verständigem Lächeln. Er drehte sich noch einmal um und schaute auf die Parkbäume, die sich um die kraterartige Vertiefung der Gedenkstätte drängten und sie abschirmten. Gegenüber, gleich hinter den Bäumen, ragte eine hohe graue Häuserfront im typischen Plattenbaustil gleichgültig in den Himmel.
Simone schob sich zwischen sie. Sie hakte sich bei ihnen unter und verkündete: Jetzt geht’s zum Mittag und danach zu Fuß in die deutsche Botschaft. Diskussion mit Dissidenten.