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6 - Roter Punkt oder Wer sich in Gefahr begibt

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Vor dem Bahnhof verabschiedeten sie sich. Jörg stieg in den Bus. Achim ging zu Fuß in die andere Richtung. Jörg winkte noch, er solle mitkommen, aber Michael schüttelte den Kopf.

Eben hatten sie noch Straßenbahnen blockiert und den Verkehr zum Erliegen gebracht. Eine große Menschenmenge waren sie gewesen, viele Schüler, auch einige Ältere, normale Bürger. Sie waren von einigen Passanten auf dem Bürgersteig angeschrien worden. Man hatte Anstoß genommen an ihren langen Haaren und ihrer Kleidung und sie verächtlich als Gammler bezeichnet. Andere hatten gerufen, sie sollten doch nach drüben gehen. Aber sie waren sitzen geblieben, hatten sich auch von der Polizei nicht vertreiben lassen. Am Buschmarkt sollte die Polizei mit Wasserwerfern und Schlagstöcken auf die Demonstranten losgegangen sein, es sollte Verletzte gegeben haben. Das war über Megafon verkündet worden und hatte sie noch mehr aufgebracht. Und als später durchgegeben wurde, die Polizei hätte sich zurückgezogen, hatten sie gejubelt. Sie hatten sich durchgesetzt! Und wenn die Erhöhung der Fahrpreise, von denen ja auch W. betroffen war, nicht zurück genommen würde, dann würden sie wieder kommen und demonstrieren. Jede Woche wieder, das war angesagt worden. Das stand fest.

Und jetzt. wo sie wieder zurück in ihrem Städtchen waren - jetzt sollte alles wieder normal und ruhig sein? Nein, kein Bus. Lieber zu Fuß. Die Viertelstunde würde ihm nur gut tun.

Während er Richtung Vogelviertel ging, freute er sich auf den nächsten Tag in der Schule. Da hätten sie viel zu erzählen. Vielleicht würden beim nächsten Mal noch mehr mitkommen. Er stellte sich vor, wie er mit Johanna darüber sprechen würde. Sie war auch links, hatte deswegen Stunk mit ihren Eltern.

Hinter sich hörte er eine Frau schimpfen. Sie regte sich auf, weil er bei Rot über die Straße ging - er war in Gedanken und hatte nicht darauf geachtet. Die Frau lamentierte hinter ihm her, ihre Kinderkarre wackelte. Kleinkariert wie alles hier, er hatte ja gesehen, dass kein Auto kam. Wer das nicht überblicken kann, soll stehen bleiben und die Klappe halten.

Als er in ihre Straße einbog, sah er sofort den Dienstwagen seines Vaters vor dem Haus. Der alte Herr ließ sich also mal wieder blicken. Die Haustür war abgeschlossen, aber bevor er klingelte, wurde sie geöffnet. Frau Schäfer kam raus. Im ersten Moment wollte sie ihn nicht durchlassen. „Hab dich gar nicht erkannt, Michael.“ Sie musterte ihn: „Was trägst du denn für einen alten Mantel?! Und deine Haare werden ja auch immer länger!“ Fehlt nur noch, dass sie mich als Gammler bezeichnet, die alte Schachtel, dachte er, sagte aber nichts, sondern ging einfach vorbei und nach oben. Er war sicher, dass die Schäfer kopfschüttelnd hinter ihm her glotzte.

Kaum hatte er den Schlüssel ins Schloss gesteckt, als er schon die Stimme seines Vaters hörte. „Wo hast du dich wieder rumgetrieben?“

Er habe sich nicht herum getrieben, erwiderte Michael gereizt.

Seine Mutter wollte, dass er seine Stiefel vorn an der Tür auszieht. Das hatte er sowieso vorgehabt. Er ging in sein Zimmer und schloss die Tür. Dann stellte er das Tonbandgerät an und legte sich aufs Bett.

Kurz darauf fragte Wilma, ob er nicht zum Essen komme. Er hatte Hunger, das musste er zugeben. Also ging er in die Küche.

Walter beschwerte sich, dass er nicht mal Guten Tag gesagt habe.

„Guten Tag“, sagte Michael. Es passte ihm nicht, dass sein Vater, der unter der Woche selten zuhause war, ihn so empfing und jetzt noch Ansprüche stellte.

Wilma fragte nach seinen Schularbeiten.

Meine Sache, dachte Michael. Mache ich nachher noch, ist nicht viel, sagte er.

Während er sich eine Stulle schmierte, dachte er wieder an ihre große Aktion. Er konnte nicht an sich halten und fragte, ob man im Radio schon etwas zu der Demo in Hannover gesagt hätte.

„War mein Herr Sohn etwa auch bei diesen Unruhestiftern dabei?“ fragte Walter.

„Wir haben nur unser Recht auf Demonstrationen wahrgenommen - die Polizei hat das gestört!“ protestierte Michael.

So ging es eine Weile hin und her.

Und dann fiel der Spruch, der ihn noch lange begleiten sollte.

Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um.

Michael empfand das wie einen Verrat. Natürlich hatte er nicht erwartet, dass seine Eltern ihren Protest gegen die Fahrpreiserhöhungen unterstützen würden. Aber sie waren friedlich gestimmt gewesen und hatten nichts Unrechtes getan. Die Polizei war vorgerückt und hatte versucht, sie zu vertreiben. Mit welchem Recht denn? fragte er aufgebracht. Wenn er das schon hörte: Ordnung muss sein, Spielregeln sind einzuhalten. Wer macht denn die Spielregeln und wofür? Die wollen doch nur noch mehr Profit.

Wilma sagte, das mit den Preiserhöhungen sei wirklich nicht in Ordnung.

„Also verstoßen die gegen die Ordnung!“ versuchte Michael einzuhaken.

Das war den Eltern zu spitzfindig.

Er solle sie nicht in Schwierigkeiten bringen, mit der Polizei wollten sie nichts zu tun haben - sonst …

Womit wollten sie ihm drohen? Wenn er mit der Schule fertig wäre, würde er sowieso hier weggehen, das stand fest. Nur raus aus dieser Provinz!

Während er an seiner Stulle kaute, rasten seine Gedanken. Die Alten fanden vielleicht auch nicht alles in Ordnung, was die da oben machten. Aber sie wollten auch nichts dagegen unternehmen, sondern weiter kuschen. Das hatten sie zu Hitlers Zeiten schon zur Genüge gemacht. Wollten sie denn nichts daraus lernen?

Er wagte nicht, dieses Thema noch einmal anzuschneiden. Darüber hatten sie sich vor einigen Wochen in die Haare gekriegt. Besonders Walter, der sonst gern seiner Frau das Wort überließ, hatte sich so ereifert, dass sein Kopf rot anlief. Was dieser kleine Schlaumeier denn für eine Ahnung habe vom Krieg! Er könne von Glück sagen, dass er überhaupt auf der Welt sei. Damals hätte es nicht viel gebraucht, um an die Wand gestellt zu werden.

Daraufhin hatte Michael an der wundesten Stelle gerührt: Andere hätten sich quer gestellt!

Und: Wären es mehr gewesen, wäre Auschwitz … - da war Walters Faust auf den Tisch gedonnert, sein Teller wirbelte durch die Küche und zerschepperte auf den harten Fliesen in tausend Stücke. Aber er hatte Michael nicht mehr angeschaut, sondern nur vor sich hingeblickt. Als ob er in sich hinein wütete. Wilma hatte es mit der Angst zu tun bekommen und verlangt, dass beide sofort Ruhe gäben. Daraufhin hatten sie geschwiegen.

Walter war ins Bad verschwunden und hatte seine Pillen geschluckt. Michael hatte freiwillig den Tisch abgeräumt und war sogar bereit gewesen, den Abwasch zu machen, als Wilma das Schweigen unterbrach: „Du musst deinen Vater auch nicht so ärgern.“

Da hatte er sich umgedreht und war auf sein Zimmer gegangen.

Und hatte sein Tonband mit ihrer Musik - ihrer Negermusik! - aufgedreht.

Belarus (2004)

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