Читать книгу Osteopathische Diagnostik und Therapie - John Martin Littlejohn - Страница 11
VORGESCHICHTE
ОглавлениеDieser berühmte Ausspruch des Entdeckers der Osteopathie bezog sich nicht nur auf das therapeutische Wirken, sondern drückt eine grundsätzliche anthropophile Lebenseinstellung aus, die man als ethische Grundlage der Osteopathie bezeichnen kann. Es geht darum, den Fokus nicht auf Pathologie, Krankheit, Kaputtes, Schlechtes oder ‚Böses‘ etc. zu richten, sondern stets auf das Gesunde, das Potential bzw. das Gute. Kein anderer hat sich dies mehr zu Herzen genommen als Stills berühmtester europäischer Schüler, John Martin Littlejohn. Als er seine Heimat Schottland verließ3, um in sich den Vereinigten Staaten niederzulassen, war er noch keine 30 Jahre alt, unendlich wissensdurstig, akademisch hochdekoriert und bereits Leiter eines angesehenen Colleges. Dann kam es zur schicksalhaften Begegnung mit Still, und Littlejohn entschloss sich, seine glänzenden Karriereaussichten aufzugeben, um in Kirksville an Stills Schule Osteopathie zu erlernen und zugleich Physiologie bzw. Psychophysiologie zu lehren. Es darf spekuliert werden, welche Gründe ihn zu dieser Entscheidung bewegt haben mögen, fest steht jedenfalls, dass Littlejohn den Rest seines Lebens der Osteopathie widmete – insofern muss Stills Philosophie den jungen schottischen Gelehrten zutiefst bewegt haben. Seine Entscheidung sollte sich als eine der größten Glücksfälle für die Zukunft der Osteopathie erweisen. Warum?
Still war kein hochgebildeter Mann. In der unwirtlichen Wildnis des Mittleren Westens um die Mitte des 19. Jahrhundert konnte er sich glücklich schätzen, gerade einmal Lesen und Schreiben erlernt zu haben. Dem gegenüber standen seine unendliche Neugier, seine außerordentliche Fähigkeit wertfrei zu beobachten, enorm schnell komplexe Zusammenhänge systemübergreifend zu verstehen und diese mit einfachen Worten auszudrücken. Jeder Mensch sollte Osteopathie verstehen können. Dementsprechend einfach, metaphorisch und unterhaltsam – heutzutage würde man dazu wohl ‚populärwissenschaftlich‘ sagen – versuchte er in seinem Reden, Handeln und Schreiben die Osteopathie zu leben. Die Sympathie der Bevölkerung war ihm damit ebenso sicher wie die Verweigerung der Akzeptanz auf medizinischer Ebene.
Als pragmatischer, sachlicher und vorurteilsfreier Mensch mit allerhöchsten ethischen Ansprüchen erkannte Littlejohn sofort die enorme Bedeutung von Still Entdeckung für das Wohlergehen und die Gesundheit der Menschen. Als gebildetem Akademiker war ihm allerdings auch klar, dass die Osteopathie langfristig ein Mauerblümchendasein fristen würde, wenn sie sich einerseits wissenschaftlich nicht bewähren konnte und wenn die Ausbildung andererseits im Niveau nicht deutlich angehoben werden würde. Da ihm als überzeugten Presbyterianer das Wohl der Menschheit mehr bedeutete als die eigenen Karrieremöglichkeiten, entschloss er sich 1898 nach Kirksville zu ziehen, um die Osteopathie akribisch so aufzuarbeiten, damit sie auch auf wissenschaftlicher und akademischer Ebene der klassischen Medizin auf Augenhöhe begegnen konnte. In den folgenden Jahrzehnten unermüdlicher Arbeit schuf er die erste solide Basis für die klassische Osteopathie.