Читать книгу Osteopathische Diagnostik und Therapie - John Martin Littlejohn - Страница 17
VORWORT DES ÜBERSETZERS
ОглавлениеDen Leser/innen liegt mit der Übersetzung von Osteopathic Therapeutics: Diagnosis ein umfangreiches Werk vor, das den Blick auf die Praxis der klassischen Osteopathie ergänzt, m. E. sogar deutlich präzisiert. Aus Das große Littlejohn-Kompendium und der Psychophysiologie geht klar hervor, dass Littlejohn im philosophischen und wissenschaftlichen Kontext der Zeit einen relationalen Ansatz bevorzugt. Das bedeutet, er versteht den Menschen als Beziehungswesen, das wie alle Organismen ein Verhältnis zu sich selbst hat. Der gesamte Organismus hat ein Verhältnis zu seinen Einzelteilen – und umgekehrt. Dieses Selbstverhältnis und das Verhältnis von Organismus als Ganzem und seiner Einzelteile existieren nur, weil es ein Verhältnis beider zur Umwelt oder auch Umgebung gibt. Mithin handelt es sich beim Menschen – wie bei allen Organismen – um ein dreifaches Verhältnis von Verhältnissen, das freilich im Selbstverhältnisbereich umfassender ausgebildet erscheint.
ABB. 2: DER GANZHEITLICHE ANSATZ LITTLEJOHNS
Der Organismus Mensch als dreifaches Verhältnis von Verhältnissen. Gleichzeitigkeit von Selbstverhältnis, Verhältnis des gesamten Organismus zu seinen Einzelteilen – und umgekehrt, Verhältnis zur natürlichen, sozialen und individuellen Umwelt.
Dieser Ansatz ist mit Stills Ansatz sehr gut vereinbar (vgl. Das große Still-Kompendium, IV, 1 ff. Forschung und Praxis). Es ist aber klar, dass Littlejohn manches systematischer durchdrungen hat. Vor allem vermeidet er weithin die durchaus witzige Polemik, die für Stills Texte typisch ist.
Wie dieser Ansatz in der klinischen Praxis ausgesehen hat, zeigt sich im vorliegenden Buch sehr gut. Der Text ist zwischen 1899 und etwa 1906 überarbeitet worden, Littlejohn hat diese Vorlesung offenbar mehrmals gehalten. Der Text ist in der PDF-Version, die aus Kirksville stammt, 433 Seiten lang, z. T. sehr eng bedruckt. Es handelt sich um ein Schreibmaschinen-Typoskript, das gelegentlich nicht (mehr) sehr leicht lesbar ist. Vielleicht ist es an einigen Stellen nicht ganz vollständig. Im Kern aber gibt es keine großen Fragen, was den Sinn des Textes angeht. Die Leser/innen erhalten also einen Einblick in die ursprüngliche Praxis eines sehr komplexen allgemeinen medizinischen Ansatzes, der differenzialdiagnostisch ausgelegt ist. Littlejohn bemüht sich, die allermeisten der damals bekannten Erkrankungsbilder genau zu beschreiben und sie von anderen, z. T. verwandten Erkrankungen zu unterscheiden. Häufig ergeben sich Hilfestellungen für die Studierenden, wie dies geschehen kann. Die Diagnosemethode setzt am Gespräch mit den Patient/inn/en an, führt dann weiter eine osteopathische physische Diagnose durch, die neben der manuellen Diagnose im engeren Sinn auch Auskultation, Endoskopie, Fieber-, Blutdruckmessung u. a. kennt. Interessant sind dabei in vielfacher Hinsicht die Texte über Herzerkrankungen, in denen eine ausgesprochen exakte Diagnostik erfolgt.
Die Therapie ist von der Überzeugung Littlejohns bestimmt, dass das Zentrale Nervensystem und das Vegetative Nervensystem die wesentlichen Aspekte des Menschen kontrollieren. Sie sind aber zugleich Kommunikationssysteme, welche die ganzheitliche Verfassung des Menschen als dreifaches Verhältnis von Verhältnissen ausmachen (vgl. Abb. (2). Das Verhältnis zur Umwelt ist u. a. über sinnliche Wahrnehmung bestimmt, die kognitiv und emotional bewertet wird. Das Selbstverhältnis verläuft bewusst über kognitive, volitionale und emotionale Prozesse. Beides ist ohne Funktionieren von Teilen des Zentralen Nervensystems und des Vegetativen Nervensystems nicht möglich. Das wechselseitige Verhältnis der Einzelteile des Organismus zum gesamten Organismus ist im Wesentlichen durch die Nervensysteme bestimmt. Es lässt sich bei der Lektüre des vorliegenden Buches mithin recht leicht erkennen, wie Ganzheitlichkeit in der klassischen Osteopathie gemeint war. Es geht um die Erfassung und Behandlung aller Bezüge, die über die Nervensysteme vermittelt sind. Diese werden vorwiegend durch hemmende oder stimulierende Manipulation angesprochen. Sehr häufig ist aber auch von schwingender Behandlung, rhythmischer Behandlung usf. die Rede.
In diesen Zusammenhang gehört die Lebenskraft. Diese ist nicht direkt erreichbar, sie ist nur indirekt über die schwingenden und rhythmischen Prozesse im Körper wahrnehmbar. Diese Prozesse drücken sich Littlejohn zufolge in Zeichen aus. Dabei wird bei Littlejohn wohl klarer als bei Still, dass es sich bei der Lebenskraft nicht um eine separate Kraft neben der Gravitation oder dem Elektromagnetismus handelt. Tatsächlich geht es um eine Form der Entelechie, also im aristotelischen Sinn um eine Finalursache des Ordnungsaufbaus.10 Das wurde damals im Kontext des Lebenskraftproblems kontrovers diskutiert. In diesem Sinn unterscheidet sich auch Littlejohn vom sich ausbildenden naturwissenschaftlichen Konsens, die die Existenz der Entelechie ablehnt. Darüber ist aber im Kontext der Thermodynamik und anderer Entwicklungen auch in den Naturwissenschaften wohl das letzte Wort noch nicht gesprochen. Vor allem die zeitgenössische Biologie hat hier vielleicht nicht in jedem Fall ihr Potenzial schon ausgeschöpft. Und genau darauf setzt Littlejohn.
Für den Menschen, der sich selbst bestimmen kann, Ziele und Zwecke festlegt, ist es sinnlos, so etwas wie eine Entelechie zu leugnen. Daher muss sie in einer komplexen allgemeinen Medizin auch berücksichtigt werden. D. h., die praktische Beobachtung am Menschen zeigt, dass manche naturwissenschaftlichen Unterstellungen eben schwerlich realistisch sind, sondern Voreingenommenheiten darstellen und zu einem konzeptuellen Top-down-Denken führt. Folglich sind sie auch wissenschaftlich problematisch.
Littlejohn ist anders als Still bemüht, die Osteopathie nicht durch ständige Abgrenzung zu bestimmen, sondern andere Verfahren wie Massage, Hydropathie, Suggestion, Diätetik usf. einzubeziehen, ihnen aber einen klar definierten osteopathischen Sinn zu geben. Dabei wird klar, dass Littlejohn wie auch Still davon überzeugt ist, dass mit Ausnahme von Antiseptika und Antitoxinen die Gabe von Medikamenten prinzipiell schädlich ist, weil diese nicht assimiliert werden können, mithin also die bekannten Nebenwirkungen erzeugen, bei denen wir ja auch heute noch unseren Arzt und Apotheker fragen sollen. Dieses Buch zeigt die Radikalität der ursprünglichen osteopathischen Position klar auf. Die meisten Erkrankungen lassen sich ohne Medikamentengabe angehen, insofern insbesondere die Nervensysteme so behandelt werden, dass die Lebenskraft wieder selbstorganisierend zum Zuge kommen kann.
Das Buch versucht, ein vielleicht nahe liegendes Missverständnis der Osteopathie zu vermeiden, die mit der Bezeichnung Osteopathie selbst zusammenhängt. Littlejohn behandelt die Erkrankungen von Knochen und Muskulatur, darunter auch die häufiger auftretenden Verformungen der Wirbelsäule. Dies soll verdeutlichen, dass die Osteopathie – und das ist auch die Meinung Stills – eine allgemeine Medizin ist, die zwar insbesondere auf die Wirbelsäule konzentriert ist. Aber dies geschieht vor allem, weil hier die beiden Nervensysteme verbunden sind. Wie der Text zeigt, behandelt die klassische Osteopathie natürlich auch die Organe selbst. Sie unterstellt aber, dass Fehlstellungen von Gelenken, Wirbelkörpern, Muskulatur, Faszien, Ligamenten das Nervensystem negativ beeinflussen können. Das gilt insbesondere für die Wirbelsäule, weil hier Nervenbeziehungen zu allen Organen sowie die Verbindung zum Gehirn vorliegen. Dabei ist aber wesentlich, dass eine wechselseitige, reflektorische Beziehung vorliegt. Auch Störungen der Organe drücken sich an den entsprechenden Abschnitten der Wirbelsäule aus, müssen also keineswegs von dort verursacht sein. Einliniges Denken liegt in der frühen Osteopathie nicht vor, es handelt sich um einen sehr komplexen Ansatz.