Читать книгу Drachenfliege - Jonas Kissel - Страница 10
3.2
Оглавление„Diese Tür führt nur nach draußen! Danach kommen Sie nicht wieder rein. Außer Sie laufen einmal um das Gebäude, aber das wollen Sie bestimmt nicht.“ Die Stimme beruhigte sich beim Reden und kam näher, doch Brandon konnte sich nicht umdrehen. Es war kindisch, aber er traute sich einfach nicht. „Nehmen Sie die andere, wenn Sie rauchen gehen wollen.“
„Ich rauche nicht“, antwortete Brandon, die Hand immer noch auf der Türklinke.
„Umso besser. Das kostet Sie schon einmal nicht Ihr Leben.“ Die Stimme war jetzt direkt hinter seinem Rücken. Keine zwei Meter, schätzte er. Brandon holte tief Luft, drehte sich um – und stieß beinahe einen Seufzer der Erleichterung aus.
Johannes´ Gesicht war zwar nicht jung, aber jünger als das des alten Mannes. Und Johannes hatte mehr als einen Flaum auf dem Kopf. Seine Haare waren sogar ziemlich dick, auch wenn ihr Graustich nicht zu übersehen war. Sie endeten über den Ohren und wuchsen um den Mund herum von neuem.
Brandon streckte die Hand aus und stellte sich vor.
„Johannes Hospes“, schüttelte der Hotelbesitzer sie, „Mir gehört dieses…“
„…nette kleine Hotel“, beendete Brandon, „Ich weiß.“ Er nickte zu Paul am anderen Ende der Eingangshalle.
„Umso besser“, lächelte Johannes. Seine blauen Augen glänzten so hell, dass sie schon fast grau wirkten. Unwillkürlich versuchte Brandon, sich zu erinnern, wie die Augen des alten Mannes ausgesehen hatten. Er hatte ihre Farbe nicht richtig erkannt, weil er mehr von ihrem Ausdruck ergriffen war, diesem Entsetzen, diesem…
Lass den Schwachsinn, ermahnte er sich.
„Sie können ein paar Tage auf Staatskosten hier verweilen, hat Paul gemeint“, sagte Johannes unbeschwert, während er ihn über die schwarz-weiß-karierten Fliesen zurück zu dem jungen Polizisten führte, „Er hat erzählt, Sie hatten einen Unfall?“
„Ja, mir ist in dem Unwetter letzte Nacht…“ (Brandon blickte kurz zu Paul herüber, als sie am anderen Ende der Eingangshalle ankamen) „…irgendetwas vors Auto gelaufen. Ich hab wohl überreagiert und den Wagen in den Wald gesetzt.“
„Nicht gerade schön.“ Johannes verzog mitleidig die Mundpartie.
Wie sie wohl aussehen würde, wenn gerade ein Wagen auf ihn zukäme?
Paul erklärte: „Vielleicht war es ein kleines Tier und die Ermüdung hat ihr Übriges getan. So etwas kommt öfter vor, weißt du.“
„Ich kann es mir vorstellen“, nickte der Hotelbesitzer.
Seine Ohren standen ja schon etwas ab…
Brandon schüttelte heftig den Kopf. Wir sind jetzt vernünftig! Okay, Chef?
Die anderen beiden Männer sahen ihn schief an, dann fuhr Paul langsam fort: „Ich versuche, die Sachen aus Ihrem Wagen für Sie zu organisieren, Brandon, aber wahrscheinlich kann ich sie Ihnen erst morgen bringen…“
„Es geht schon auf den Abend zu und hier wird es schnell dunkel“, warf Johannes ein, „Noch ein Grund, jetzt nicht mehr raus in den Wald zu gehen.“
Eine verwirrte Pause entstand, in der der junge Polizist seinen älteren Freund mit gerunzelter Stirn musterte.
„Ja…“, wandte Paul sich schließlich wieder an Brandon, „Und ich werde Ihrer Frau vielleicht heute Abend noch, vielleicht auch erst morgen früh die Nummer vom Inter geben, damit sie Sie selbst anrufen kann, wenn sie sich wieder in der Lage dazu fühlt.“
Jetzt fing sich der Jungspund einen funkelnden Seitenblick von dem Hotelbesitzer ein. Irgendetwas stimmte mit diesen Blickwechseln nicht. Sie übergingen ihn, sie verheimlichten ihm etwas. Auf einmal wirkte Johannes´ Lächeln, als er den Kopf wieder Brandon zuwandte, einfach nur falsch.
„Okay“, zuckte Brandon nach einem Augenblick mit den Achseln, als wäre es ihm egal. Konnte es ihm nach Lizzy nicht auch egal sein? Oder wenigstens okay? Zumindest dass er seine Sachen vielleicht erst morgen bekam, war okay. Und die seltsame Art von Johannes. Die war vielleicht auch okay – vielleicht. Das würde er in den nächsten Tagen feststellen. Oder auch nicht. Je nachdem, wie lange er in diesem netten kleinen Hotel hier bleiben musste.
„Okay“, wiederholte Paul nickend und drehte sich zur Tür mit dem Messingschriftzug um, „Also sehen wir uns heute oder morgen wieder.“
„Heute oder morgen“, bestätigte Brandon.
Er hatte erwartet, sich darüber zu freuen, den Jungspund loszuwerden, aber nachdem er seit seiner Reanimation mit keinem anderen Menschen gesprochen hatte, war es schon ein komisches Gefühl. Einen Arzt hätte er jetzt gerne gesprochen, wenn er an seinen Schwächeanfall vor der Tür dachte. Doch die Notwendigkeit davon wollte er nicht mit Paul diskutieren. Mehr als ein Schwächeanfall konnte es ja auch nicht gewesen sein.
„Heute oder morgen“, murmelte Johannes. Er blickte mit seinen viel zu hellen Augen auf den Boden, bis das halbe T und E und R und der junge Polizist wieder nach draußen verschwunden waren, dann hob er den Kopf und strahlte Brandon an. „Sie haben Glück, Herr Dott. Das Hotel ist zurzeit nicht belegt. Sie haben freie Auswahl. Gehen Sie in den dritten Stock, wenn Sie die bessere Aussicht über den Wald haben wollen, oder gehen Sie in den ersten Stock, wenn Sie näher an der Rezeption sein wollen. Den zweiten Stock würde ich Ihnen nicht empfehlen, der ist so etwas zwischendrin. Aber alle Zimmer sind auf beiden Seiten frei. Der Fahrstuhl fährt Sie direkt hinein, er ist quasi die Zimmertür.“
„Keine Treppen?“, legte Brandon die Stirn in Falten.
„Keine Treppen.“
Das nette kleine Inter war wirklich ein komisches Ding. Selbst für einen an Land japsenden Fisch, der Licht fraß. Nicht, dass die Wandlampen in der Eingangshalle bei der gerade einsetzenden Dämmerung nicht ausgereicht hätten; Brandon konnte sich nur nicht mit der Vorstellung anfreunden, hinter einer Fassade zu wohnen, die nahezu vollständig von schwarzen Platten bedeckt war. Es hatte etwas Düsteres. Und scheinbar war er nicht als Einziger dieser Ansicht. Schließlich hatte das nette kleine Hotel keine Gäste.
„Ich nehm den ersten Stock.“
„Linker oder rechter Fahrstuhl?“
Egal, hätte er beinahe gesagt, drehte sich dann aber doch um und musterte die beiden silbrig glänzenden Türen.
„Links“, antwortete er schließlich. Tiefer im Wald, wie ihm erst auffiel, als er es schon ausgesprochen hatte.
„Links also“, meinte Johannes und drehte sich zur Theke, „Warten Sie einen Augenblick, ich erkläre Ihnen gleich, wie das mit den Schlüsseln funktioniert.“
„Okay“, murmelte Brandon.
Gedankenverloren ließ er seinen Blick über die beiden Aufzugtüren gleiten. Ihr silbriger Glanz schuf keine richtigen Spiegelbilder, nur verzerrte Farbstreifen, unten von der Theke und oben von der Wand dahinter.
Mit den Händen in den Hosentaschen schlenderte Brandon auf den linken Aufzug zu. Die Veränderung auf der Oberfläche seiner Tür hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit einem Menschen. Es war nichts weiter als ein verschwommener Schatten. Ein wässriger, schwarzer Klecks. Genau wie seine Erinnerung daran, wie er hierhergekommen war.
Eigentlich hätte das gar nicht passieren dürfen. Die Strecke zu Silvias Eltern fuhr er so oft, dass er sie eigentlich blind fahren können müsste. Nur verfolgte ihn diese Sache mit dem eigentlich seit letzter Nacht.
Brandon wackelte etwas mit dem Oberkörper und beobachtete die Bewegung seines Schattens auf der Aufzugtür. Ohne wirklich eine menschliche Kontur anzunehmen, waberte er hin und her wie das Bläschen in einer Wasserwaage, die irgendwie keinen rechten Winkel finden wollte.
Bis er ihre beiden Sporttaschen in den Kofferraum seines Wagens schmiss, war der Film in Brandons Kopf glasklar. Silvia saß noch im Haus, momentan bei der Hochkonjunktur der Alkoholwirtschaft in ihrem Hirn angelangt, was einerseits bedeutete, dass sie verschieden hohe Laute ausstieß, die Gesang sein sollten, und andererseits, dass bald die Talfahrt folgen würde. Rezession, hätte Brandon im Büro gesagt.
Er setzte sich vor ihr Gepäck in den offenen Kofferraum und wartete. Kurz überlegte er sogar, sich die Finger in die Ohren zu stecken, aber das wäre kindisch gewesen. Also verschränkte er nur die Arme vor der Brust und wartete, bis Silvia leise wurde. Dann stand er auf und ging rein, um sie zu holen.
Im Inter machte Brandon noch einen Schritt auf die Aufzugtür zu, woraufhin der schwarze Klecks in verschiedene Richtung davonspritzte. Als hätte man ein Tintenfass vom Tisch gestoßen.
Es mochte vielleicht eine Entschuldigung sein, dass Silvia betrunken gewesen war, aber er hatte es einfach nicht ertragen, sie an dem Tag von Lizzies Tod singen zu hören. Das war doch unmöglich… trotz Alkohol! Sie hatte doch in dem Kreissaal gelegen und ein totes Kind auf die Welt gebracht, ohne dass es mitgeholfen hatte.
Mithelfen…
Wenn es doch Brandon schon so fertigmachte, der nur vor dem Kreissaal auf- und abgelaufen war? Wie war das möglich?
Mithelfen.
Brandon schnaufte und verschränkte die Arme, doch die ausgeschüttete Tinte lief nicht zurück in ihr Fass.
Bei Silvia hatte er auch mitgeholfen, weil sie alleine niemals bis zur Beifahrertür gekommen wäre. Mittlerweile voll bei der Talfahrt. Als sie rückwärts aus dem Hof setzten, beklagte sie sich am laufenden Band. Und irgendwie war das auch nicht viel besser, obwohl Brandon nichts Anderes von ihr erwartete, nachdem Lizzy nicht mitgeholfen hatte. Eigentlich wollte er doch einfach nur seine Ruhe. Am besten wäre Silvia ganz still gewesen. Eigentlich.
Brandon drehte sich vom Aufzug zu der Tür mit der Klinke und war überrascht. Es war tatsächlich schon beinahe dunkel. Er drehte den Kopf weiter bis zur Theke und sah Johannes mit einem kleinen Schlüssel in der Hand auf ihn zukommen.
Gleich würde der Aufzug sich öffnen und den schwarzen Klecks in die Wand verschwinden lassen. So wie die Zwischenzeit, in der Silvia endlich aufhörte zu plappern und ihren Kopf traurig an die Scheibe sinken ließ, irgendwo in seine Hirnrinde verschwunden war, wo sie kurz nach seinem Aufwachen hier im Osten Gesellschaft von dem erhielt, was während seiner Ohnmacht hätte passieren müssen.
Bis zur Autobahnauffahrt konnte Brandon alles greifen. Da hatte das Gewitter über ihnen losgelegt. Danach verschwamm die Erinnerung. Flutschte aus seinen Fingern wie ein weiteres Stück Seife in der Dusche. Und das Wasser von oben lief und lief…
Oh ja, das Gewitter hatte ihnen eine gottverdammt heftige Dusche verpasst – und Gott konnte ihm die Verdammnis verzeihen oder nicht; bis Brandon verstanden hatte, warum ausgerechnet seine Lizzy nicht mitgeholfen hatte, war es ihm egal.
„Um in den Fahrstuhl zu kommen, reicht ein einfacher Knopfdruck“, trat Johannes an seine Seite, ein weiteres Tintenfass auf dem Boden.
Der Hotelbesitzer streckte den Zeigefinger aus und versenkte ihn zusammen mit einem Knopf in der Wand. Den Knopf hatte Brandon noch gar nicht gesehen, obwohl er wie bei jedem Aufzug direkt neben der Tür befestigt war.
Wir werden unachtsam, Chef.
Brandon warf einen wehleidigen Blick auf den Knopf in der Wand und lauschte dem Bing!, mit dem die Tür aufglitt.
„In dem Fahrstuhl…“, fuhr Johannes fort, nachdem er einen Schritt in die eben aufgetauchte Kabine gemacht hatte, „…finden Sie diesen Kasten… Herr Dott? Kommen Sie?“
„Selbstverständlich.“ Brandon folgte ihm und schaute sich den Kasten an.
Von der Fahrt auf der Autobahn fehlte ihm sämtliche Erinnerung. Er wusste nur, dass er in dem Unwetter irgendwie an der richtigen Ausfahrt vorbeigefahren sein musste. Wie hätte er sonst hier landen sollen?
„Wie Sie sehen, hat der Kasten drei Schlösser. Ihr Schlüssel passt natürlich nur in eines davon, sonst könnten Sie ja einfach in die Zimmer anderer Gäste.“ Johannes strahlte ihn an, doch Brandon fühlte keinerlei Drang, das Lächeln zu erwidern.
Schon möglich, dass es nach ihrer Ausfahrt weiter bis fast in den Osten ging. Er wusste ja nicht, wo genau nichts weiter als ein besseres Dorf namens Kailum lag. Außerdem war er in diese Richtung noch nie weiter als in den Odenwald gefahren. Also konnte es ja sein, dass er bei dem wetterbedingten Schneckentempo sein Zeitgefühl verloren hatte und irgendwann einfach irgendwo von der Autobahn gefahren war, wo es wie gewöhnt zunächst einen Berg hoch und dann durch einen Wald ging. Wahrscheinlich war es zwar nicht, aber zumindest möglich. Und irgendwie musste er ja auch als Nicht-DDR-Flüchtling hierhergekommen sein.
„Also einfach Schlüssel rein und umdrehen?“, fragte Brandon.
„Genau“, nickte Johannes knapp. Irgendwie klang er leicht eingeschnappt. Hoffentlich hatte er Brandons abweisende Reaktion nicht falsch aufgefasst. Brandon hatte eben einfach andere Sorgen als die Zimmer anderer Leute. Außerdem war die Vorstellung, in die einfach reinzukönnen, auch nicht so lustig. Überhaupt nicht eigentlich, wenn man bedachte, dass es keine anderen Leute gab, in deren Zimmer er hätte fahren können.
„Könnte ich dann meinen Schlüssel haben?“
Der Hotelbesitzer streckte den Arm aus und ließ den Schlüssel vom Zeigefinger baumeln. „Unterstes Schlüsselloch. Darunter gibt es nur noch den Knopf, der Sie zurück ins Erdgeschoss bringt.“
„Danke, Herr Hos...“
„Sagen Sie Johannes. Und Du. Das ganze Sie geht mir auf die Nerven.“
Brandon lächelte. „Okay, Johannes. Danke dir.“
„Kein Problem“, zuckte der Hotelbesitzer beim Heraustreten mit den Schultern. Und als die Tür wieder zuging, weil Brandon den Schlüssel im untersten Schloss gedreht hatte, fügte er hinzu: „Du hast ja schon für den Aufenthalt hier bezahlt, auch wenn du noch nichts davon weißt.“
Dann war die Tür zu und der Aufzug fuhr mit einem Ruck an.