Читать книгу Drachenfliege - Jonas Kissel - Страница 3

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Das Problem war nicht, dass Silvia betrunken war. Brandon Dott sagte es sich immer wieder: Das Problem war nicht, dass sie betrunken war. Vielleicht machte es die Sache nicht gerade leichter für ihn, dass sie ihn beim Autofahren störte, weil sie betrunken war, aber dass sie betrunken war, war nicht das Problem. Es war sogar ihr gottverdammtes Recht – und Gott möge ihm die Verdammnis verzeihen, aber bis Brandon verstanden hatte, warum Gott ihnen das antat, würde er wohl nichts Gnädigeres für ihn übrighaben.

Wenn er es sich recht überlegte, wäre er auch viel lieber betrunken gewesen. Aber irgendjemand musste den Wagen ja zu seinem Ziel bringen und weil Silvia nach dem Jackie, der vor drei Stunden noch in der eckigen Flasche mit dem schwarzen Etikett gewesen war, nicht mehr fahren konnte – oder zumindest nicht an das Steuer irgendeines Fahrzeugs gelassen werden sollte –, war das seine Aufgabe. Eine ungnädige Aufgabe, nicht zuletzt weil Gott meinte, sie bei dem heftigsten Gewitter aller Zeiten zu Silvias Eltern fahren lassen zu müssen.

Er kniff die Augen zu, als die nächste Explosion ihn blendete. Womit hatten sie das eigentlich verdient? Womit hatten sie es verdient, dass die grellen Explosionen über den Baumwipfeln das Innere des Wagens für den Bruchteil einer Sekunde in ein gleißendes Licht tauchten? Dass die schwarzen Ledersitze poliert glänzten und ihre Schatten schräg hinter sich warfen? Womit hatten sie das bedrohliche Fauchen von Gottes Wildkatzen Blitz und Donner über ihren Köpfen verdient?

Brandon konnte ihre Krallen schon fast über das Dach schaben hören, konnte ihre Schwanzspitzen beinahe auf der Windschutzscheibe sehen, wenn sie mit sadistischem Vergnügen die Wassermassen herunterschoben, mit denen die Wischanlage kaum noch fertigwurde. Womit zur Hölle hatten sie das verdient? Als wäre Lizzies Tod nicht schrecklich genug gewesen!

Und jetzt hing Silvia auch noch betrunken auf dem Beifahrersitz und konnte ihn nicht in Ruhe fahren lassen. Sie lallte und tastete nach dem Radio, bis der grüne LED-Streifen aufleuchtete und Aqua „I´m a Barbie Girl!“ brüllten.

Mit einem gezielten Griff drehte Brandon ihnen den Saft ab, bevor sie erzählen konnten, dass alles aus Plastik und fantastisch war.

„Wir brauchen keine Barbies mehr“, brummte er.

„Ahbar… isch wüll mhm…Mm…Musick hörn“, lallte Silvia.

Ihr irgendwie nicht richtig in den Haargummi gezwungener blonder Zopf wippte dabei vor und zurück und in dem Licht des ohrenbetäubenden Fauchens von Blitz und Donner sahen ihre Sorgenfalten wie Messerstiche aus.

Brandon wandte den Blick ab. „Ich muss mich auf die Straße konzentrieren“, nuschelte er, auch wenn ihm ohnehin niemand zuhörte.

„Ahbar du sssiesst… die Schraße doch gar nüsch“, brachte Silvia schwerfällig hervor.

Genau das ist das Problem, hätte er beinahe geknurrt, doch das stimmte nicht. Das Problem war nicht das Wetter oder dass er den bewaldeten Abhang links und rechts der Straße nur ahnen konnte. Das Problem war, dass sie keine Barbies mehr brauchten.

Plötzlich begann Silvia zu lachen und zu schwanken und ihm mal hier und mal da auf den Oberschenkel zu klopfen. Er biss die Zähne zusammen und krallte sich am Lenkrad fest. Entschlossen starrte er die Scheibenwischer an, die den Regen vergeblich in seinem Blickfeld hin und her schoben – wisch, wasch.

Sie war betrunken, sie wusste nicht, was sie tat – wisch, wasch. Er würde sie ignorieren, würde einfach überhören, dass sie – wisch, wasch – lachte, ausgerechnet an dem Tag, an dem – wisch, wasch – ihre Tochter gestorben war, bevor…

„Highway to Hell!“

„Lass das scheiß Radio aus!“, brüllte Brandon und trat wütend aus.

Der schleichende Wagen gewann gefährlich an Geschwindigkeit, doch wer scherte sich schon darum? Brandon nicht. Mit der linken Hand am Steuer richtete er den Blick auf den grünen LED-Streifen, wo seine rechte mit seiner Frau um den Power-Schalter rang. Draußen fauchten Blitz und Donner unter einer gleißenden Explosion und plötzlich stand er da, mitten auf der Straße.

Brandon sah aus dem Augenwinkel eine Bewegung und riss erschrocken den Kopf herum. Es dauerte nur eine Sekunde und doch nahm er erschreckend viele Details von dem Gesicht des alten Mannes wahr. Die entsetzt aufgerissenen Augen, den zum Schrei geöffneten Mund, den grauen Flaum, der gleichermaßen Bart und Frisur war, sogar die leicht abstehenden Ohren und die zum Schutz nach oben gerissenen Arme sah er, bevor es zu spät war.

Sofort trat er die Bremse durch, das Auto geriet ins Schlingern, rutschte auf der nassen Straße, Brandon dachte, er würde die Kontrolle verlieren, würde abrutschen, in den Wald zu seiner Linken, zwischen den Bäumen den Abhang hinunter, gegen irgendeinen Baum prallen, der Airbag würde aufschießen, zack! ins Gesicht, Genickbruch!

Aber nichts dergleichen geschah. Der Wagen stand mit laufendem Motor am Straßenrand. Durch den Regen erreichten die Scheinwerfer gerade so den ersten Baum. Sie sahen den Ausschnitt einer dicken Säule aus bemooster Rinde.

Brandons Herz raste. Seine Hände klammerten sich krampfhaft am Lenkrad fest; seine Arme und sogar seine Brust taten weh, so angespannt war er. Neben ihm schrie Silvia zusammenhangloses Zeug. Zumindest ging er davon aus, dass es zusammenhangloses Zeug war, auch wenn es von seinen Ohren nicht ganz zu seinem Gehirn durchdrang. Als sein Puls sich langsam normalisierte, kam von irgendwo die Meldung, dass sie an der Stirn blutete.

Aha Chef, kapiert, aber wenn sie noch schreit, geht´s ihr auch gut, war Brandons erster Gedanke und fast hätte er panisch gelacht. Dann verließ ihn sämtliche Körperspannung und seine Arme sackten nach unten. So saß er einen Augenblick da, bis er zu zittern begann, obwohl Schweißtropfen von seiner Stirn in seinen Schoß fielen. Als der erste auf seinem Handrücken landete, schreckte er auf.

Die Musik lief immer noch leise vor sich hin. Wahrscheinlich waren sie irgendwie gegen den Lautstärkeregler gekommen. Oder seine Ohren funktionierten nicht mehr richtig. Oder noch nicht. Man wusste ja nie, was bei so einem Unfall… der alte Mann!

Brandon wollte beim Aufspringen die Tür aufreißen, wurde vom Gurt aber zurück in den Sitz gezwungen. Er schnallte sich ab und machte einen Satz nach draußen, wo er von Blitz und Donner mit nassen Armen und einer fauchenden Explosion empfangen wurde. In dem grellen Aufleuchten sahen die Bäume abgestorben aus, wie Skelettarme, die aus dem Wald heraus nach ihm langten…

Aufgescheucht wirbelte Brandon herum. Mitten auf der Straße rutschte er aus und stürzte mit den Handflächen und den Knien auf den nassen Asphalt. Matschige Rinnsale liefen von der einen Straßenseite zur anderen. Darin warf er sich auf den Rücken, um im Licht des nächsten Fauchens zu sehen, ob die Skelettarme nähergekommen waren. Doch da waren nur Bäume. Da hinten gab es nur Bäume.

Okay Chef, dachte er und stand auf, ich behalte jetzt die Nerven.

Er wandte sich wieder zu der Straße und durchsuchte den Regenschleier nach dem alten Mann, doch obwohl Blitz und Donner ihm ausnahmsweise halfen, indem sie die Straße hell erleuchteten, bis sie sich zwischen den (Skelettarmen) Bäumen auf den zwei Teilen des Abhangs als schwarzes Nichts verlor, konnte er ihn nicht finden. Bis auf ihn selbst und seinen Wagen, der mit der Schnauze schon fast im Wald versunken unaufhörlich Abgase in den Regen blies, war die Straße leer. Einfach leer. Brandon konnte es nicht glauben. Er hatte den Mann doch gesehen!

Mit nassen Strähnen im Gesicht und tropfender Kleidung drehte er sich immer wieder um die eigene Achse, aber da war niemand. Selbst in dem grellen Licht der Blitze war da niemand.

Plötzlich klang der Donner nicht mehr wie das bedrohliche Fauchen einer Wildkatze, sondern tiefer, fast schon wie ein hungriger Bär, und tief in seinem Innern spürte Brandon, dass etwas passiert war. Und als er sich umdrehte, weil Silvias Stimme irgendetwas Unverständliches brüllte, wunderte er sich nicht, weiter vorne auf der Straße die Überreste eines gewaltigen Erdrutsches zu sehen.

Klar, die Bäume waren an dieser Stelle noch jung gewesen und das Unwetter hatte den Boden um ihre Wurzeln herum einfach aufgeweicht, bis sie zusammen mit der restlichen Pampe nach unten kamen. Und wenn der alte Mann nicht gewesen wäre, wären sie vielleicht genau in diesem Augenblick dort vorbeigefahren. Die Frage war nur, ob Brandon das vielleicht nicht sogar besser gefunden hätte – weil er dann bei seiner Lizzy gewesen wäre.

Warum musste Gott es ihnen so schwermachen? Brandon breitete die Arme aus und schrie in das Gewitter. Warum musste Gott es ihnen so schwermachen?

„Versuchen Sie´s nochmal!“, befahl eine Stimme beim nächsten Blitz und obwohl Brandon nichts mit dieser Antwort anfangen konnte, wusste er, dass es okay war, wenn das Licht nicht mehr aufhörte ihn zu blenden und das letzte Wort in seinen Ohren nachhallte, bis da gar nichts mehr war. Versuchen Sie´s nochmal, nochmal, nochmal, nochmal…

Drachenfliege

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