Читать книгу Drachenfliege - Jonas Kissel - Страница 5
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ОглавлениеZuerst sah er, dass der Himmel blau war. Das war so weit okay. Wahrscheinlich hatte das Gewitter die Luft gereinigt. Als Nächstes hörte er die Stimmen um sich herum. Die störten ihn schon etwas mehr, weil er lieber den Vögeln gelauscht hätte. Er wusste nicht, warum er dachte, dass da Vögel waren, aber da waren welche. Sie mussten da sein. Zum Schluss tauchte das Gesicht wieder auf; jetzt nicht mehr verschwommen, sondern so klar wie der Himmel, vor den es sich schob.
Brandon konnte sogar die Pickelmale rund um die spitze Nase erkennen. Und dass die Akne, die immer noch nicht ganz von den Wangen des jungen Mannes verschwunden war, ziemlich heftig gewesen sein musste. Was ihn wahrscheinlich nicht am Ausgehen gehindert hatte, denn eigentlich war er recht attraktiv.
Seine Haare – etwas dunkler als die leuchtend braunen Augen – machten einen kleinen Bogen über seine Stirn, sodass sie von den schmalen und kurzen Augenbrauen nur eine berührten. Makellose Augenbrauen, bestimmt gezupft. Das Teenageralter – und die heftige Akne – hatte der Bursche wohl gerade erst hinter sich gelassen. Vielleicht war er zwanzig, höchstens einundzwanzig. Auf jeden Fall noch weit von der Drei entfernt, die Brandon seit einigen Wochen als erste Ziffer seines Alters mit sich herumschleppte.
Er wandte den Blick ab und rekelte sich, bis vor seinen Augen wieder alles verschwamm. Was auch immer ihn da getroffen hatte, war ein harter Schlag gewesen. Brandon stöhnte – oder ließ zumindest irgendeinen Laut seiner Kehle entweichen. Dann sah er wieder einigermaßen scharf.
Unvermittelt traf sein Blick auf das leuchtende Braun der Pupillen des jungen Mannes. Etwas lag in ihnen. Er hätte nicht genau sagen können, was, aber irgendetwas lag in diesem Blick. War es vielleicht das… – Gewitter!
Brandons Oberkörper schoss erschrocken in die Höhe, als der nächste Blitz durch den Himmel zuckte, dann hörte er das eigentümliche Piepsen und Surren einer Polaroidkamera. Das war okay. Mit pochendem Herzen sah er sich um.
Die Kamera gehörte einem Polizisten. Er lief hinter seinem Wagen auf und ab und schoss Fotos, kniete sich manchmal auf den Boden, um etwas genauer zu betrachten. Damit er nicht bei der Arbeit gestört wurde, hatte man die Straße dort, wo die Erde nicht ins Rutschen geraten war, mit einem rot-weiß-gestreiften Plastikband abgesperrt. Davor – mitten auf der Straße – stand das Polizeiauto mit eingeschalteter Warnblinkanlage und stumm drehendem Blaulicht.
„Da sind Sie ja, Brandon“, holte der junge Mann seine Aufmerksamkeit zurück. Er streckte ihm auffordernd die Hand entgegen.
Brandon schüttelte den Kopf und drückte sich alleine von der Straße hoch. „Trotzdem danke“, nuschelte er, als er sich die Hände an den Hosen abwischte. Dann nickte er zu dem Defibrillator auf dem Boden und sagte: „Sie haben mir wohl das Leben gerettet, Herr…“
„Duchs. Paul Duchs. Wie das Tier, nur mit U. Oder D. Oder beidem. Ganz wie Sie wollen.“
„Ganz wie ich will, was?“ Brandon beäugte die Hand einen Moment lang abschätzig. Als Paul sie nicht wieder herunternahm, schüttelte er sie kurz. „Brandon Dott. Wie es aussieht, haben Sie mir das Leben gerettet.“
Paul antwortete nicht. Er musterte Brandon von oben bis unten, hielt aber den Mund.
Brandon verschränkte die Arme. Irgendetwas gefiel ihm an dieser Situation nicht. Sie machte ihn nervös. Zwischen ihm und Paul herrschte ein seltsames Schweigen. Nicht einmal der andere Polizist machte sich bemerkbar. Der Wald war vollkommen ruhig. Er schien die Luft anzuhalten, damit kein bisschen Wind seine Blätter streifen konnte.
Plötzlich veränderte sich etwas in Brandon. Er hätte es gar nicht richtig beschreiben können. Es war, als würde etwas tief in ihm zu Boden fallen, als würde sich etwas von der Innenseite seiner Brust lösen und eine juckende Entzündung hinterlassen.
Verloren. Brandon fühlte sich auf einmal einfach nur verloren. Abgeschottet in einer eigenen Dimension. Es gab nur noch den forschenden Blick aus Pauls Augen. Irgendetwas lag darin. Irgendetwas wollte dieser Blick ihm sagen. Irgendetwas, aber was, Chef? Was will er von mir?
Plötzlich drehte der Polizist sich weg und Brandon geriet ins Stolpern. Mit einem großen Schritt fing er sich ab. Er war wohl aus dem Gleichgewicht gekommen. Vielleicht stimmte etwas mit seiner Orientierung noch nicht ganz. Und mit seinen Ohren. In denen summte es leise. Wenn er sich darauf konzentrierte, konnte er sogar Geräusche erkennen, Gemurmel…
Brandon schnickte den Kopf und auf einmal war alles wieder so laut wie vorher. Er hörte sogar die Vögel drüben im Wald. Komisch… Das mussten die Nachwirkungen der Ohnmacht sein. Oder seine Ohren hatten irgendeinen Schaden genommen. Man wusste ja nie, was bei so einem Unfall…
Vorsichtig fragte er: „Wie geht es meiner Frau?“
Paul blieb mit dem Rücken zu ihm stehen und schnaufte schwer. „Wir haben sie ins Krankenhaus gebracht, bis ihr Kopf klar genug ist, um zu verstehen, was hier passiert ist.“
„Und was ist mit dem alten Mann?“
„Welcher alte Mann?“, drehte Paul sich langsam um.
Brandons Mund klappte auf: Welcher alte Mann? War er gerade ernsthaft gefragt worden, welchen alten Mann er meinte?
Entrüstet baute er sich auf. „Ich hätte heute Nacht beinahe…“ Dann sank er wieder in sich zusammen. War der Unfall wirklich in dieser Nacht gewesen? Natürlich, das musste er, sonst hätte man ihn kaum noch lebendig finden können. Doch irgendetwas verunsicherte ihn.
„Sie hätten heute Nacht beinahe…?“, forderte Paul, aber Brandons Denkmaschine raste viel zu schnell, um noch zu wissen, was er vor zehn Sekunden hatte sagen wollen.
Irgendetwas stimmte hier nicht. Er war trocken, das war ein Teil davon. Nicht einmal der Wald war nass, weil das Wetter einfach viel zu schön war. Der Himmel war blau und eben hatte er das noch okay gefunden, doch es war nicht okay, dass die Sonne von keinem Wölkchen getrübt auf den Wald fallen konnte, weil sie ihn so nämlich trocknete und das nach einem Gewitter wie dem, in dem er fast den alten Mann überfahren hätte, einige Stunden dauerte. Es roch allerdings nicht nass. Der Wald roch vielleicht nach Blumen oder nach Erde, aber er roch nicht nass. Und die Straße war auch trocken, ganz zu schweigen von Brandon selbst.
Also hatte er sechs oder sieben oder acht oder noch mehr Stunden auf dem Asphalt gelegen, bis man ihn endlich gefunden hatte, und in dieser Zeit hätten mindestens zweierlei passieren müssen, nämlich…
„Sie hätten heute Nacht beinahe…?“, wiederholte Paul schärfer und machte einen Schritt auf ihn zu. Mit einem Mal war die Leitung in Brandons Kopf unterbrochen.
Eben war noch zum Greifen nahe gewesen, was nicht stimmte, und jetzt war es weg, einfach verschwunden. In seinem Hirn geisterte nur noch der angefangene Satz herum.
„Ich hätte heute Nacht beinahe einen alten Mann überfahren“, sagte er, „Deswegen bin ich von der Straße abgekommen und in den Wald gebrettert.“ Er nickte zu seinem Wagen, der immer noch genau da stand, wo er ihn in der Nacht verlassen hatte.
„Nun, wenn das stimmt…“, antwortete Paul und musterte ihn mit seinen geheimnisvollen Augen, „…, würde ich versuchen, den Kerl bis an sein Lebensende zu verfluchen, weil er die Sache unbeschadet überstanden hat und einfach abgehauen ist, ohne Hilfe zu holen.“
Aber was hätte deswegen passieren müssen, Chef? Was hätte in der Zwischenzeit passieren müssen? Sag´s mir!
Was passiert war, konnte er ja sehen. Seinem Wagen war der Sprit ausgegangen – oder die Polizisten hatten ihn abgestellt. Aber was nicht passiert war, war viel wichtiger, und das wollte ihm einfach nicht mehr einfallen. Es war ihm entglitten wie ein Stück Seife aus nassen Händen. Er wusste, dass es noch irgendwo in der Dusche herumfliegen musste, aber selbst wenn er sich bücken würde, um es aufzuheben, würde es wieder aus seinen Fingern schießen. Also ging er das Risiko, irgendjemandem seinen nackten Arsch hinzustrecken, vorerst lieber nicht ein. Vielleicht würde er ja noch einmal nach der Seife greifen, wenn er sich im Klaren darüber war, mit wem er die Dusche überhaupt teilen musste. Bis dahin beließ er es aber dabei.
„Und Sie sind sich ganz sicher, dass er die Sache unbeschadet überstanden hat?“
Paul verdrehte die Augen und seufzte. „Ich persönlich bin mir sicher, dass da gar niemand war, und der Kollege da drüben wird Ihnen bestimmt bald sagen können, dass außerhalb des Wagens kein Tropfen Blut zu finden ist und auch sonst nichts darauf hinweist, dass eine dritte Person an dem Unfall beteiligt gewesen sein könnte.“
„Aber ich hab ihn doch gesehen!“, breitete Brandon verzweifelt die Arme aus, „Er war direkt vor meiner Schnauze, verdammt nochmal!“
Paul legte den Kopf schief und fragte ruhig: „Und haben Sie in dem Moment, in dem Sie glauben, einen Menschen überfahren zu haben, einen Schlag gespürt?“
„Nein“, presste Brandon widerwillig durch die Zähne. Er verschränkte die Arme vor der Brust und guckte auf den Boden. Jetzt musste er sich von dem halbpickeligen Jungspund mit gezupften Augenbrauen also noch sagen lassen, dass er halluzinierte. Dabei wusste er verdammt genau, was er gesehen hatte – dass er einen alten Mann überfahren hatte.
„Also bleibt als einzige Möglichkeit, dass der alte Mann ziemlich schnell springen konnte. Und ziemlich weit.“
Brandon wollte gar nicht wissen, ob der junge Polizist sich gerade überlegen fühlte oder Mitleid mit ihm hatte. Wahrscheinlich hätte er ihm unabhängig davon eine reingeschlagen, wenn er jetzt von seinen Füßen nach oben in das pickelige Gesicht geschaut hätte. Dass diese ganze Scheiße hier auch ausgerechnet passieren musste, nachdem Lizzy ihren ersten Atemzug verpasst hatte. Totgeburt, das war´s. Tut uns ja leid, Herr Dott, aber Ihrer Frau geht´s so weit gut, also fahren Sie nach Hause und verarbeiten Sie´s recht schön. Und wenn die Alte doch Mucken macht, versuchen Sie´s mit ´ner Flasche Jackie. Amen.
Leider hatten sie vergessen zu erwähnen, dass das Zeug unangenehme Nebenwirkungen hatte, wenn es den Patienten nicht direkt ins Koma beförderte. So konnte es bei Frauen zum Beispiel vorkommen, dass sie den unnatürlichen Drang verspürten, am Radio herumzuspielen, während ihr Mann sich eigentlich auf die Straße konzentrieren musste, weil draußen das gottverdammt heftigste Gewitter aller Zeiten tobte. Und bei erwähnten Männern konnte die braune Brühe aus der eckigen Flasche Halluzinationen hervorrufen, selbst wenn sie gar nichts davon getrunken hatten. Da hüpften doch auf einmal alte Männer über die Straße. Und zwar ziemlich schnell. Und ziemlich weit.