Читать книгу Drachenfliege - Jonas Kissel - Страница 6
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ОглавлениеBrandon schüttelte wütend den Kopf. Hier wollte man ihn doch verarschen.
„Wir machen uns ja keinen Spaß daraus“, beschwichtigte Paul, „Aber die Spurenlage gibt nun einmal nicht her, dass hier letzte Nacht ein alter Mann überfahren wurde. Dabei glaube ich Ihnen sogar, dass Sie etwas gesehen haben; nur nicht, dass es ein Mensch war. Seien wir ehrlich: Das Wetter war schrecklich, Ihre Frau war betrunken, Sie waren todmüde,…“
Meine Tochter war gestorben, an dem gleichen, gottverdammten Morgen gestorben…
„…Ihre Nerven lagen blank – und dann fliegt Ihnen ein vom Gewitter aufgescheuchter Vogel vor die Scheibe. Irgendein ungünstiges Lichtspiel lässt ihn aussehen wie ein Gesicht und Ihre Fantasie tut das Übrige. Könnte es nicht so einfach gewesen sein?“
„So einfach könnte es gewesen sein…“, gab Brandon zähneknirschend zu.
„Verstehen Sie mich nicht falsch, Brandon“, redete Paul einfühlsam weiter, „Ich möchte Ihnen keine Wahnvorstellungen unterstellen oder behaupten, dass Sie auch getrunken hätten, aber die Situation ist einfach anders, als Sie sie vielleicht wahrnehmen.“
„Lassen Sie es gut sein“, schüttelte Brandon enttäuscht den Kopf, „Ich will einfach nur noch zu meiner Frau.“ Er legte die Stirn in traurige Falten und hob den Blick zu dem von Akne gezeichneten Gesicht des jungen Mannes.
„Ich glaube, wir wären hier fertig!“, rief der andere Polizist von der Seite.
Pauls Augen huschten kurz zu seinem Kollegen, sprangen aber sofort zurück zu Brandon. „Ich fürchte, das ist nicht möglich. Nicht sofort, meine ich. Später können Sie wahrscheinlich sogar machen, was Sie wollen, aber vorerst bringe ich Sie im Inter unter, wo…“
„Wo was!?“, schrie Brandon. Er riss die Arme auseinander und machte einen schnellen Schritt auf Paul zu, der nicht den geringsten Versuch unternahm, ihm auszuweichen. Jetzt waren sie so dicht beieinander, dass Brandon das dezente Parfum des jungen Polizisten riechen konnte.
Pickelgesicht, gezupfte Augenbrauen und Duftwässerchen, das waren ihm die liebsten. Er spürte, dass seine Nasenflügel zuckten – wie immer, wenn er in Rage war. Irgendwie brachte er es trotzdem nicht fertig, mehr als diesen drohenden Schritt zu tun. Irgendwie lähmte ihn Pauls Ruhe, die Furchtlosigkeit, mit der der Jungspund ihn aus seinen außergewöhnlich schlauen Augen ansah.
Auch der andere Polizist starrte ihn jetzt an. Brandon konnte sich nur zu gut vorstellen, wie er in ihre Richtung gewirbelt war, als er sich vor seinem jungen Kollegen aufgebaut hatte. Vielleicht war der Polizist mit der Hand sogar zur Dienstwaffe geschossen, für den Fall, dass Brandon auf Paul losging. Doch mehr als diesen ersten Schritt konnte er nicht tun.
Es herrschte wieder Stille. Für einen Moment war die Welt eingefroren. Brandon stand mit ausgebreiteten Armen vor Paul – so dicht, dass er beinahe die kleinen Einkerbungen zählen konnte, die vor gar nicht allzu langer Zeit eine heftige Akne auf den Wangen des Jungspunds hinterlassen hatte – und zuckte mit den Nasenflügeln. Vor und hinter ihnen ein bewaldeter Abhang, dessen Bäume unter blauem Himmel ihre Schatten auf die ebene Fläche zwischen seinen beiden Hälften warfen. Dort standen Paul und Brandon auf der Straße, neben sich ein Polizist, der seine Hände an der Dienstwaffe hatte. Hinter ihm war ein Wagen fast in den Wald gefahren und ein Stückchen weiter hatte es einen Erdrutsch gegeben. Auf der anderen Seite war die Straße deshalb hinter einem Polizeiauto mit rot-weiß-gestreiftem Plastikband abgesperrt worden. Vielleicht stand etwas darauf, Brandon konnte sich nicht erinnern, aber das war die Szene.
Die Szene, in der die Welt kurz einfror, weil Brandon in dem Leuchten der braunen Augen versank. Sie sahen ihn so seelenruhig an. So furchtlos. Als könnte er ihnen nichts anhaben. Und vielleicht konnte er es ja auch nicht. Vielleicht würde er bei der ersten falschen Bewegung von einer Kugel durchbohrt. Oder konnte er diesen Augen vielleicht nichts anhaben, weil er zuerst wissen musste, was sie ihm sagen wollten?
Brandon ließ die Nasenflügel ein letztes Mal flattern und sank wieder zurück. Als wollte er mitteilen, dass die Gefahr jetzt vorüber war, kreischte im Wald gegenüber ein Vogel. Vor seinem geistigen Auge sah Brandon den Polizisten aufatmen und weggehen.
Der Kerl mit den Halluzinationen will Paul doch nichts tun, dachte er wahrscheinlich, Der wollte mich nur mal aufscheuchen, damit ich später nach Hause zu meiner Frau und meiner Tochter komme, die glücklicherweise lebendig geboren wurde. Ja, ist das Leben nicht toll, wenn kein junger Polizist dir verbietet, zu deiner Frau zu gehen? Ich freue mich jetzt schon auf ihre selbstgebackenen Donuts.
Dummes Arschloch. Brandon spähte zur Seite, aber der Polizist interessierte sich schon nicht mehr für ihn.
„Wo Sie warten werden, bis jemand mehr Zeit für Sie und Ihre Geschichte hat“, fuhr Paul fort, als wäre er nie unterbrochen worden, „Jetzt sehen Sie mich nicht so an, Brandon. Das Inter ist ein nettes kleines Hotel für diejenigen, die es nicht ganz in die Stadt schaffen. Es wird Ihnen besser gefallen als eine Ausnüchterungszelle.“
Brandon hatte die Stirn gerunzelt. Er dachte nach und musterte dabei den Abhang hinter Paul. Wo dünne Lichtstreifen das Blätterdach durchdrangen, leuchteten die Farben des Waldes hell auf. Etliche Insekten schwirrten um die Büsche und Bäume, ansonsten lag das Unterholz im Schatten. Gestrüpp und Äste, hier und da vielleicht ein Pilz oder eine Blume.
„Eigentlich fahre ich die Strecke hier öfter“, sagte er schließlich und ging auf einen der Bäume zu. Wahnsinn, dass sie ihm in der Nacht noch Angst eingejagt hatten. „Aber ich hab noch nie etwas von diesem Inter gehört.“
„Was Sie nicht sagen“, murmelte Paul, „Das ist seltsam. Weil die wenigsten Leute mehr als einmal hier entlangfahren, meine ich. Wir sind im letzten Hinterland, Brandon, auch wenn es wohl jeden einmal hierher verschlägt.“
„Jetzt reden Sie keinen Blödsinn“, antwortete Brandon, ohne sich umzudrehen. Er strich mit der Hand über die Rinde – angenehm rau; beinahe spürte er das Blut durch seine Adern fließen – und blickte an dem Baum nach oben. „Der Odenwald ist kein Hinterland und in welcher Stadt auch immer das Krankenhaus ist, in dem Sie meine Frau untergebracht haben; da werd ich auch ein Zimmer in irgendeiner Pension bekommen, also heben Sie sich Ihr Inter für diejenigen auf, die es wirklich nicht ganz in die Stadt schaffen.“
Von unten sahen die Äste aus wie krumme Speichen. Wenn Brandon den Stamm umrundete, setzte er die Räder in Gang, die ihrerseits irgendeinen geheimen Mechanismus starteten. So wirkte der Baum lebendig. Als würde er die Äste selbstständig bewegen. Als würden sie nicht stoppen, wenn Brandon stehenblieb. Als würden sie sich einfach ewig übereinander drehen und dabei immer wieder kurz die Sicht auf die Baumkrone verdecken.
Sie blieben mit ihm stehen, als ihn das Schweigen auf der Straße beunruhigte. Er drehte sich um und sah, dass Paul mit leicht geöffnetem Mund zu ihm herüberstarrte.
„Wenn Sie in den Odenwald wollten, haben Sie sich aber ganz schön verfahren“, platzte der junge Polizist heraus, „Wir sind hier fast im Osten und die Stadt, die ich meine, ist nicht mehr als ein besseres Dorf namens Kailum, wo etliche DDR-Flüchtlinge gelandet sind.“
Jetzt war Brandons Mund an der Reihe aufzuklappen.
Osten? Wie zur Hölle war er in den Osten gekommen? Er schaute sich noch einmal um. Und warum sah dieser Wald im Osten verdammt nochmal genauso aus wie der, durch den sie auch fahren mussten, wenn sie Silvias Eltern besuchten?
„Irgendwie sehen sich alle Straßen dieser Welt ähnlich, nicht wahr?“, fragte Paul.
„Irgendwie schon“, nickte Brandon automatisch, „Irgendwie tun sie das.“