Читать книгу Drachenfliege - Jonas Kissel - Страница 12
3.4
ОглавлениеEs war ein blondes Mädchen mit Zöpfen, die über die Schultern ihres roten Kleids fielen. Die Schleifen darin waren von dem gleichen, intensiven Rot; einer Farbe, die sich so stark von dem schwarzen Hintergrund abhob, dass sie beinahe pulsierte. Als würde sie direkt aus dem Herzen kommen: über den Körper gepumptes Blut.
Brandon kniff die Augen zusammen und atmete tief durch. Er hatte heute eindeutig zu viel über den Tod nachgedacht.
Als seine Augenlider wieder auseinandergingen, kam ihm das Mädchen bekannt vor. Die Tochter irgendeiner Berühmtheit vielleicht. Skandinavisches Königshaus? Nein, das war eine andere Form von bekannt. Es war nicht, als hätte er sie schon einmal gesehen. In ihren Zügen lag einfach nur etwas… Vertrautes. Als würde er dem Bruder eines Freundes begegnen und nicht wissen, wer er war.
Hohe Augenbrauen, beinahe parabelförmig, etwas dunkler als die Haare; darunter kurze Wimpern – schwarz – und blaue Augen. Hellblau, aber nicht so gräulich wie die von Johannes. Die Nase war bei dem Kind noch niedlich, sie war vielleicht… acht? Konnte das sein? Brandon war nicht gut im Schätzen, also behielt er sich zwei Jahre plus oder minus vor. Aber man erkannte an der Nase schon, wie sie einmal werden würde. Spitzer wahrscheinlich oder wenigstens schmal zwischen den Wangenknochen, die sich jetzt erst unter dem unschuldigen Blick andeuteten.
Ein hübsches Kind, fand Brandon. Ja, ein sehr hübsches Kind. Wenn er nur wüsste, mit wem sie Ähnlichkeit hatte.
Vielleicht war es auch das Lächeln. Ein Kinderlächeln, Mädchenlächeln. Von den schmalen Lippen über die fröhlichen Fältchen unter den sanften Nasenflügeln bis direkt in das blaue Strahlen ihrer Augen. Es war so aufrichtig, wie nur das Lächeln eines Kindes sein konnte. Wie auch Lizzies Lächeln gewesen wäre – hätte Lizzy jemals gelächelt…
Brandon kamen die Tränen. Warum musste ausgerechnet in seinem Zimmer so ein hübsches Mädchen hängen? Das war doch nicht fair! Oder gehörte das zu dem Witz? Fand das irgendwer lustig?
Er ballte die Hände zu Fäusten.
Wo war dann die Kamera, wenn es zu dem Witz gehörte? Wo war sie? Irgendwo musste doch eine Kamera sein, wenn das jemand lustig fand. Nur wo? Wo war diese gottverdammte Scheißkamera!?
Zornig wandte Brandon sich von dem Bild ab – und stutzte. Da war etwas über die Rückenlehne des Sofas gehuscht. Nicht mehr als ein Schatten, aber ein roter Schatten, ein merkwürdiger Schatten. Oder hatte er sich das nur eingebildet? Übermüdung? Hunger? Durst? Nein, eigentlich fühlte er sich fit. Erstaunlich fit. Fitter, als er es nach einer Reanimation erwartet hätte. Aber vielleicht war das üblich. Vielleicht war deshalb kein Arzt bei ihm gewesen.
Brandon blinzelte die Tränen aus den Augen und ließ den Blick über die Sitzgruppe schweifen. Da bewegte sich nichts – keine Schatten. Vielleicht war einer von draußen durch das offene Fenster gefallen. Oder eine große Mücke war an der Deckenlampe vorbeigeflogen. Immerhin hatte er im Wald schon eine Libelle gesehen.
Unsicher drehte Brandon sich zurück zu dem Bild. Wahrscheinlich hing es nicht ausgerechnet in seinem Zimmer, sondern in allen. Massenware vom Schweden, daher kannte er es wohl. Also doch skandinavisches Königshaus.
Wohnst du noch, Chef?
Ja. Ja, das tat er. Und bis er schon leben konnte, musste nach Lizzies Tod noch einige Zeit vergehen.
Brandon ließ von dem Bild ab und schlurfte zurück zum Bett. Bevor er sich daraufsinken ließ, fiel ihm die Tür hinter dem Sofa wieder ein. Wenn er gerade dabei war, konnte er sich die restlichen Räume auch noch ansehen. Er drehte sich um und legte die Hand auf die Türklinke – und fühlte sich nicht allein.
Jemand beobachtete ihn. Er spürte es. Mit jeder Faser, mit jedem Atemzug. Jeder Schweißtropfen, der ihm plötzlich kam, sagte es ihm.
Du wirst beobachtet.
Ich weiß, Chef.
Brandon ließ die Türklinke los.
Nicht hinter der Tür. Hier im Raum – der Schatten.
Brandon drehte sich langsam zum Sofa – angespannt.
Warum nochmal hatte er die Monatskarte fürs Fitnessstudio verscherbelt, die ihm im Büro zum Dreißigsten geschenkt worden war?
Damit er dem Alter zuvorkommen konnte, hatten die Scherzkekse gesagt. Ob sie geahnt hatten, dass er die Fitness einmal brauchen würde? Hätte er sie sich doch nur angeeignet… Brandon knetete seine Handballen durch. Er hätte dem Alter zuvorkommen sollen.
Bei den beiden Sofas sah er niemanden – nichts. Schwarzes Leder und das Glas des Tisches, durchscheinend bis auf den Boden, wo… sich ein Eichhörnchen auf dem Parkett lümmelte.
Brandon atmete erleichtert auf und ließ die Arme durchhängen.
„Hast du mir einen Schrecken eingejagt“, sagte er zu dem Nager, bevor er einen Schritt zu der Sitzgruppe tat und die Arme auf die Rückenlehne des Sofas legte. „Wie es aussieht, sind wir hier noch zu tief im Wald, um zu lüften.“
Zur Antwort richtete sich das Eichhörnchen unter der Glasplatte auf. Furchtlos musterte es Brandon mit schwarzen Knopfaugen. Das Näschen wackelte dabei etwas, als würde es von den Härchen um die Schnauze gekitzelt.
Irgendwie sah es aus, als würde der Kleine einen Mantel tragen – wegen der braunen Rille auf dem breiten, weißen Streifen unterhalb des Kinns. Wenn diese Rille nicht gewesen wäre, hätte Brandon wahrscheinlich gedacht, das Tier habe einen rauschenden, weißen Bart.
Der Weihnachtsmann, dachte Brandon etwas schmunzelnd, mit Ohren, die aussehen wie halbe Mandeln.
„Und was bringst du mir?“, fragte er und hielt die Hand auf.
Plötzlich schoss das Tier wie ein Blitz nach vorne, Brandon zuckte erschrocken zusammen, konnte die Handfläche aber nicht mehr zurückziehen, bevor das Eichhörnchen darauf saß und sich reckte, um mit der wackelnden Nase möglichst nahe an sein Gesicht heranzukommen.
Brandon half ihm, indem er die Hand etwas hob. Sollte das Nagetier ihn doch beißen, wenn es wollte. Oder kratzen. Nach Lizzies Tod war doch sowieso egal, welche Narben er trug.
Als hätte das Eichhörnchen seine Befürchtung gehört, verschränkte es die Krallen ineinander. Brandons Lächeln wurde breiter.
„Braver kleiner Kerl“, flüsterte er, „Normalerweise seid ihr doch nicht so zahm. Hoffentlich hast du keine Tollwut.“
Der rote Plüsch auf seiner Hand schüttelte wild das Köpfchen. Dabei kitzelte er Brandons Handfläche.
Brandon grinste. Irgendwie mochte er das Tier.
Er trug es bis ans Fensterbrett, wo es ohne Probleme von seiner Hand kletterte und sich wie zum Abschied noch einmal umdrehte. Mit den Haaren um seine Schnauze wackelnd schaute das Eichhörnchen Brandon an, dann machte es einen Satz in die nächste Baumkrone.
„Mach´s gut“, schloss Brandon das Fenster, „Und pass auf deine Kinder auf, falls du welche hast, die mitgeholfen haben.“
Er zog den Vorhang zu und runzelte die Stirn. Das Licht hatte die ganze Zeit gebrannt. Aber hatte er es auch eingeschaltet? Langsam drehte Brandon den Kopf zum Innern des Raums. Er wusste es nicht mehr.
Wir lassen wirklich nach, Chef.
Seufzend rutschte er vom Bett. Vielleicht gab es im Inter Bewegungsmelder. Wäre aber ungeschickt, wenn die Leute sich nachts umdrehten. Vielleicht nur vorne im Zimmer. Oder Zentralsteuerung. Wäre allerdings blöd für Langschläfer oder Leute, die zeitig ins Bett gehen wollten. Also hatte er doch in Gedanken einen Schalter betätigt.
Neben dem Aufzug, jetzt sah er ihn. Eigentlich auffällig, so mitten in der schwarzen Blüte der Blume, die Brandon immer noch nicht erkannte. Aber mit dieser roten Tapete hatte er es ja sowieso nicht so – genauso wenig wie mit diesem eigentlich…