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1 Einleitung zur Untersuchung

Problemaufriss

„Herr XY, bei uns in der Gruppe gibt´s ein Problem, der Paul-Georg kann´s nicht richtig und die Margarete, und die Margarete und die Angie motzen ihn dann halt an.“ (Bilal; Q64:3).

Ein typisches Anliegen von Schülern während einer selbständigen Arbeitsphase im Sportunterricht. Insbesondere dann, wenn Schüler die ihnen gestellten Aufgaben bzw. Probleme nicht mehr selbst lösen können, wenden sie sich an die Lehrkraft. Die Lehrkraft wird dann vor die Herausforderung gestellt, den Schülern dabei zu helfen ihr Problem wieder selbst lösen zu können.

Mögliche Überlegungen des Lehrers über diese Situation könnten sein: Was kann Paul-Georg nicht? Warum motzen sie ihn an, weil er es nicht kann? Wie kann ich helfen? Welcher Rat oder Hinweis könnte ihnen helfen? Welches Problem soll ich zuerst behandeln? Soll ich sagen, wie sie es machen sollen, oder soll ich es sie selbst herausfinden lassen?

Die Fachliteratur zu diesem Thema – Betreuung selbständigen Arbeitens – sieht für die Lehrkraft eine aktive, aber zurückhaltende Rolle vor. Hinweise werden in den Metaphern des Moderators, eines Begleiters oder des gedanklichen Geburtshelfers durch „sokratisches“ Fragen gegeben. Konkretere Hinweise zwischen wem oder was moderiert wird, was wie begleitet wird oder was eine sokratische Frage ausmacht sind rar. In eine ähnliche Richtung weisen auch empirische Befunde (vgl. Prohl, 2013).

Neben dieser Lücke seitens sportpädagogischer Forschung und auf der pädagogisch-praktischen1F[2] Ebene wird die Aktualität dieses Themas aus verschiedenen Richtungen betont. Aus der fachlichen Perspektive verweist der sportpädagogische Diskurs zu einem erziehenden Sportunterricht auf zwei für die Untersuchung zentrale Aspekte: Erstens, dass fachliches Lernen als Bearbeitung und Lösung bewegungsbezogener Problemstellungen aufgefasst wird (z.B. Gogoll, 2011a; Prohl, 2012b; i.w.S. Scherer & Bietz, 2013), und zweitens, dass dieses fachliche Lernen so stattfinden soll, dass die Schüler möglichst viel Verantwortung für diesen Problemlösungsprozess übernehmen – sie also möglichst selbständig arbeiten (z.B. Prohl & Scheid, 2012; Sygusch, Bähr, Gerlach & Bund, 2013)2F[3].

Auch auf bildungspolitischer Ebene hat sich sowohl der Fokus auf Probleme als Lernanlässe als auch das Ziel der Selbständigkeit als festes Element jüngerer Lehrplanentwicklungen etabliert (vgl. Krick & Prohl, 2005, S. 233; z.B. Freie und Hansestadt Hamburg, 2011, S. 17). Als dritter – allgemeinerer - Argumentationszusammenhang für die Relevanz der beiden genannten Aspekte sind Entwicklungen der empirischen Bildungsforschung zu nennen. Sowohl auf der Basis theoretischer Zusammenhänge der internationalen Lehr-Lernforschung, aber auch aufgrund der Befundlage kleinerer und größerer Studien wird angenommen, dass komplexe Problemstellungen für fachliches Lernen und die selbsttätige Auseinandersetzung des Lerners mit dieser Problemstellung Grundelemente in der Wirkungskette unterrichtlicher Prozesse sind bzw. sein sollten (Klieme & Rakoczy, 2008; Reusser, 2008).

Erkenntnisinteresse

Vor dem Hintergrund des Titels der Untersuchung und des Problemaufrisses werden zwei Fragenkomplexe aufgeworfen. Erstens, Fragen nach Strukturen des Betreuungsverhaltens der Lehrkräfte – also wie einzelne Tätigkeiten miteinander zusammenhängen und wie das Handeln der Lehrkräfte mit dem Handeln der Schüler zusammenhängt (Studie II). Womit – zweitens – Fragen nach Strukturen des Schülerhandelns bzw. des fachlichen Lernens in den Fokus rücken (Studie I).

Beide Fragestellungen haben eine enorme Bedeutung für eine Sportpädagogik, die sich ihrer Praxisverantwortung stellt und Sportlehrkräften handlungsleitende Orientierungen bieten möchte (vgl. Prohl, 2010).

Forschungsmethodisches Vorgehen

Diesen beiden Fragenkomplexen nähert sich die Untersuchung durch zwei Studien. Während chronologisch in der Untersuchung zuerst Fragen nach dem Lehrerhandeln aufgeworfen wurden (Studie II), hat es sich im Verlauf der Bearbeitung dieser Fragen als notwendig herausgestellt, die Fragen nach der Struktur des Schülerhandelns zuerst zu beantworten (Studie I). Die Ergebnisse werden trotz der engen Verflechtung zunächst in zwei getrennten Studien dargestellt, da zum einen die Ergebnisse besser separat voneinander diskutiert werden können und sollten, und zum anderen der argumentative und strukturelle Aufbau der Ergebnisse von Studie II dadurch deutlicher wird. Die strukturelle Verflechtung zeigt sich darin, dass das in Studie I herausgearbeitete Problemlösemodell ein zentraler Bezugspunkt ist, um in den Ergebnissen von Studie II die Adaption des Lehrerhandelns an das Schülerhandeln darzustellen.

Die beiden durchgeführten Studien unterliegen demselben forschungsmethodologischen Ansatz – beide Studien wurden basierend auf Verfahrensschritten der Grounded-Theory-Methodologie durchgeführt (Kapitel 2.1). Auf der Basis eines Videodatenpools eines abgeschlossenen Forschungsprojekts wurden zwei gegenstandsverankerte Modelle entwickelt: ein Modell des Problemlösens im Sportunterricht (Studie I) und ein Modell des adaptierten Handelns von Lehrkräften im Sportunterricht (Studie II).

Die Datenbasis der Studien bildeten aufgezeichnete Unterrichtsstunden von Schülern der fünften Jahrgangsstufe, die sich mit den Lerngegenständen Handstand, Flugrolle und Akrobatikpyramiden auseinandersetzen. Als unterrichtsmethodische Leitlinien für die Gestaltung des Unterrichts mit selbständigen Arbeitsphasen waren Merkmale Kooperativen Lernens wesentlich (Kapitel 2.2).

Aufbau und Ergebnisse Studie I

Studie I widmet sich der Fragestellung: Wie lassen sich die Lernprozesse der Schüler in den vorliegenden Daten strukturieren?

Als theoretische Grundlagen werden einerseits erkenntnistheoretische Überlegungen aufgegriffen wie sie in bildungstheoretischen Ansätzen der Sportpädagogik rezipiert werden (Kapitel 3.1.1; 3.1.2). Andererseits werden diese Grundlagen um Problemlösetheorien erweitert, die eine deutlich lerntheoretische und psychologische Ausrichtung haben (Kapitel 3.1.4). Die Problematik einer Widersprüchlichkeit oder sogar Inkommensurabilität von bildungstheoretischen bzw. erkenntnistheoretischen Grundlagen, wie sie in der Sportpädagogik als Argumentationslinien angeführt werden, zu kognitionspsychologischen Ansätzen, zu denen die aufgegriffenen Problemlösetheorien zählen, werden in Kapitel 3.1.3 diskutiert. Diese Theorien haben als sensibilisierende Konzepte (vgl. Kapitel 2.1.1) wesentlich die Formung der Ergebnisse beeinflusst.

Als Ergebnis von Studie I wird ein aus den Daten konstruiertes Modell des Problemlösens im Sportunterricht skizziert, in dem angenommen wird, dass Schüler im Sportunterricht Probleme hauptsächlich durch den Einsatz von vier Tätigkeiten lösen: Probieren, Analysieren, Planen, Bewerten (Kapitel 3.2). Diese Tätigkeiten sind strukturell miteinander verbunden – d.h. z.B., dass ein Plan auf theoretischen Annahmen aufbaut, die aus der mehr oder weniger expliziten Analyse einer Situation stammen. Durch den Einsatz dieser vier Problemlösetätigkeiten werden sukzessive die Situationsbedingungen des Handelns der Schüler – die Ziele und die Ressourcen - verändert bis eine Aufgabenstellung erfüllt oder abgebrochen wird. Durch die Struktur der Aktivitäten der Schüler auf der Metaebene des Problemlösens werden auch die Probleme der Schüler auf dieser Ebene systematisiert. Dabei spielt es weniger eine Rolle, ob das Problem in dem „Anmotzen“ oder dem „Nicht-Können“ liegt – wie in dem oben angeführten Beispiel -, sondern mit welcher oben genannten Problemlösetätigkeit die Schüler ein Problem haben.

Aufbau und Ergebnisse Studie II

In Studie II wird der Fragestellung nachgegangen: Wie betreuen Lehrkräfte selbständiges Lernen - in Anlehnung an Studie I verstanden als Problemlösen - im Sportunterricht?

Innerhalb sportpädagogischer Diskurse ist (noch) kein dominantes theoretisches Paradigma auszumachen, dass eine theoretische Grundlage für die Auslegung der beobachteten Dokumente hinsichtlich dieser Fragestellung anbieten könnte. Interessante Perspektiven eher pädagogisch-praktischer Art finden sich in Überlegungen zu einem problemorientierten Sportunterricht (Kapitel 4.1.2.3) und der Empfehlung zum Einsatz des sokratischen Gesprächs (Kapitel 4.1.2.2).

Mögliche Orientierungspunkte finden sich außerdem in der allgemeinen empirischen Unterrichtsforschung. Vor dem Hintergrund sozialkonstruktivistischer Grundlagen (vgl. Reusser & Reusser-Weyeneth, 1994a) wird angenommen, dass die Art der Betreuung der Problemlösungsprozesse zentral durch zwei Tätigkeiten beeinflusst wird: die Diagnostik des Schülerhandelns als wichtiger Kontext und die Betreuung der Problemlösungsprozesse im engeren Sinne. Daher werden in Kapitel 4.1.1 Überlegungen der empirischen Unterrichtsforschung zur Diagnostik durch Lehrkräfte im Unterricht, aber auch bewegungsbezogene Ansätze zur Diagnostik aufgegriffen. In Kapitel 4.1.2 werden in Hinblick auf die Betreuung der Problemlösungsprozesse der Schüler den oben genannten pädagogisch-praktischen Ansätzen auch Ergebnisse der allgemeinen und bewegungsbezogenen empirischen Unterrichtsforschung und der Ansatz des Scaffoldings an die Seite gestellt, der auf sozialkonstruktivistischen Theorien basiert.

Vor dem Hintergrund der Ergebnisse von Studie I und den weiteren rezipierten theoretischen Grundlagen, wird als Ergebnis von Studie II ein Modell skizziert, das die Anpassung des Lehrerhandelns an das Schülerhandeln darstellt (Kapitel 4.2). Diesem zufolge ist es für das Lehrerhandeln zentral, erstens an die Struktur der Problemlösungsprozesse der Schüler und zweitens an das Verantwortungsübernahmepotential der Schüler angepasst zu sein. Es wird angenommen, dass die Schüler bei angepassten Verhaltensweisen der Lehrkraft eher Fortschritte in der Lösung der Problemzusammenhänge machen und mehr Verantwortung für den Problemlösungsprozess übernehmen.

Betreuung selbständigen Lernens im Sportunterricht

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