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ОглавлениеMontag, 25. November, 11.30 Uhr
Mario
Er hätte weniger Bücher von Paul Auster und Murakami lesen sollen und dafür mehr von Tom Clancy und Dan Brown, dachte Mario, als er Tomás’ Appartement verließ. So viel er auch nachgrübelte, er hatte einfach keine zündende Idee, wie er seinem Freund helfen konnte, er vermochte nicht einmal die Gefahr einzuschätzen, in der sich dieser befand. War das nicht alles ein bisschen übertrieben? Wenn der Innenminister seinen Freund unter Beobachtung stellte oder, noch schlimmer, eine Vergeltungsmaßnahme gegen ihn plante, gab es dann überhaupt noch ein Entrinnen? War es womöglich schon zu spät? Vielleicht folgte ihm gerade jetzt einer von Salazars Schergen auf seinem Weg zur EcoBici-Station. Er stellte sich vor, wie er sich auf seinem Leihfahrrad abstrampelte und entgegen der Fahrtrichtung durch Einbahnstraßen jagte, um seinem Verfolger zu entkommen. Ob die Leibgarde des Innenministeriums wohl einen Account bei EcoBici hat?, fragte er sich, während er einen Blick über die Schulter warf, ob er unfreiwillig jemanden im Schlepptau hatte.
Das Radfahren und der frische Wind, der über die Avenida Ámsterdam wehte, beruhigten seine Nerven. Auf dem Fahrrad merkte er das steife Bein kaum. Als er durch die Colonia Condesa radelte, kam er sich vor wie in Amsterdam. Sich kostenlos ein Fahrrad zu schnappen und es eine Viertelstunde später wieder an einem öffentlichen Platz abzustellen, das war wie in Europa. Abgesehen von der Situation, in der er sich gerade befand: Holländer wurden in der Regel sicherlich nicht von der Geheimpolizei verfolgt.
Glücklicherweise schien sich kein Fahrzeug oder Fußgänger in dieselbe Richtung zu bewegen wie er. Er überlegte, wie er sicherstellen konnte, dass ihm niemand folgte, um seinen Wohnort nicht zu verraten. Aber wahrscheinlich kannten sie ihn längst: Er wohnte schon seit zweiundzwanzig Jahren im gleichen Haus. Er hatte das Glück gehabt, gleich nach seiner Hochzeit für kleines Geld ein Häuschen kaufen zu können – sechs Jahre nach dem schweren Erdbeben von 1985, das den begrünten, baumreichen Stadtteil Condesa ziemlich verwüstet hatte. Wenn das alte Haus schon einem Beben der Stärke 8,1 auf der Richterskala getrotzt hatte, so sein Gedanke, dann würde es auch allem anderen standhalten, wie der Kinderschar, die er in die Welt zu setzen gedachte, und dem unbändigen Charakter der Frau, die er bewunderte und liebte. Zwei Jahrzehnte später hatten sie gerade mal einen einzigen Sohn, doch das Viertel hatte sich inzwischen zum Greenwich Village von Mexiko-Stadt gemausert, sodass das Häuschen inzwischen mehr als eine Million Dollar wert war. Aber das war völlig unerheblich, denn Mario und Olga würden ihr Paradies, in das sie ihr grünes Heim an der Glorieta Popocatépetl verwandelt hatten, um nichts in der Welt verkaufen.
»Vidal«, rief er seinem Sohn von der Haustür aus zu, »kannst du mal gucken, was in den sozialen Netzwerken so über den Fall Dosantos kursiert und ob es irgendwas Neues gibt?«
Mit seinen zwanzig Jahren schien sich Vidal nicht wirklich darüber im Klaren zu sein, dass er längst volljährig war. Er hatte keinen konkreten Plan, was er im Leben machen wollte, und scheinbar auch keine Eile, es herauszufinden, aber wenn es um Computer und das Internet ging, machte ihm so leicht keiner was vor – das glaubte zumindest sein Vater.
»Schau mal nach, ob Salazar mit der Sache in Zusammenhang gebracht wird«, bat er ihn.
Mario war mit den sozialen Netzwerken ausreichend vertraut, um zu wissen, dass Nachrichten dort zu einem regelrechten Gewitter anwachsen oder aber unbemerkt in der digitalen Informationsflut versinken konnten.
»Das Hashtag #SalazarDosantos ist das Trending Topic auf Twitter in Mexiko«, teilte Vidal ihm lakonisch mit.
»Und was heißt das genau?«
»Dass mehrere Tausend Leute in den letzten Stunden etwas zu dem Thema getwittert haben.«
»Zum Beispiel?«
»›Arme Pamela, erst ermordet, dann noch des schlechten Geschmacks beschuldigt. Salazar? Igitt.‹ Oder: ›Ein schwanzgesteuerter Mörder, Salazar, wie er leibt und lebt.‹ Oder hier: ›Hat ihm denn keiner gesagt, dass man sich auch einfach trennen kann? Warum gleich umbringen?‹«
Die Hoffnung, das Thema würde einfach in der Versenkung verschwinden, konnte man also begraben, dachte Mario, während sein Sohn schon wieder mit schwindelerregender Geschwindigkeit tippte.
»Hallo, Crespo, was machst du denn schon hier?«, fragte Olga und gesellte sich zu ihnen.
Mario hatte noch nie verstanden, warum ihn seine Frau immer bei seinem Nachnamen nannte, aber sie tat es so wie andere Frauen »Schatz« oder »Liebling« sagten, liebevoll und auf charmante Weise besitzergreifend.
»Ich habe beschlossen, heute nicht zur Uni zu fahren, ich habe so viele Examensarbeiten zu korrigieren«, log Mario, um sie nicht mit Tomás’ Angelegenheiten zu beunruhigen.
»Sie bauschen das Thema Dosantos-Salazar künstlich auf«, ereiferte sich Vidal. »Die meisten Tweets stammen von Avataren, die mit der politischen Linken zu tun haben. Na, so was! Hier ist die Rede von einem Zeitungsartikel, den Onkel Tomás geschrieben hat. Bist du deshalb an der Sache dran?«
»Was ist los, Crespo?«, schaltete sich Olga ein. Sie interessierte sich nicht sonderlich für Politik, aber wenn die ermordete Schauspielerin, der furchterregende Salazar und der allgegenwärtige Tomás in ein und demselben Satz vorkamen, schrillten bei ihr die Alarmglocken.
Mario stieß einen langen Seufzer aus. Er bat sie, sich zu setzen, und erzählte ihr alles, was er wusste.
»Heilige Mutter Gottes, misch dich da bloß nicht ein. Lass Tomás seine Probleme ausnahmsweise mal alleine regeln.«
Mario starrte vor sich hin, als hätte er sie gar nicht gehört. Er war an dem »Heilige Mutter Gottes« hängen geblieben, eine Wortwahl, die für seine atheistische Ehefrau äußerst ungewöhnlich war. Er verband damit eher einen Fußballkommentator im Fernsehen, der seine Verzweiflung zum Ausdruck brachte, wenn ein Spieler mit seinem Schuss das Tor mal wieder meterweit verfehlte: »Heilige Mutter Gottes, Mújica, du musst ja kein Messi sein, ziel einfach nur auf den verdammten Kasten!«
»Crespo, ich rede mit dir. An erster Stelle steht deine Familie, dein Sohn. Du darfst ihn keiner solchen Gefahr aussetzen.«
»Bitte, Olga, mach dir keine Sorgen! Morgen ist das Thema schon wieder vergessen, da redet keiner mehr über Tomás.«
»Ach übrigens, Papa, vorhin hat jemand aus dem Büro von Tante Amelia angerufen. Ich soll dir ausrichten, es sei wichtig.«
Olga strafte Mario mit einem vorwurfsvollen Blick. Wenn sich die Blauen in diese Sache einmischten, konnte keine Macht der Welt ihren Mann zurückhalten. Für sie gab es nur ihn in ihrem Leben, während ein Teil von ihm immer noch in einem Paralleluniversum lebte. Was für die anderen drei eine Kindheitsepisode war, hatte für Mario nie aufgehört. Manchmal fragte sich Olga, ob der Mario, den sie kannte, der Ehemann, Familienvater und Privatdozent, der echte war oder nur eine Facette von dem Mario, der immer noch in der Welt einer verschworenen Gemeinschaft lebte, die nur in seinem Kopf existierte.
»Ich muss jetzt los. Aber ich verspreche dir, alles wird gut«, versicherte er. »Vidal, beobachte die Entwicklung im Netz«, sagte er im Hinausgehen und hatte nicht die geringste Ahnung, was er mit diesen Worten anrichten würde.
Eine halbe Stunde lang irrte er durch die Straßen auf der Suche nach einer öffentlichen Telefonzelle, von der aus er Amelia anrufen konnte. Dabei wurde ihm zum ersten Mal bewusst, dass die flächendeckende Verbreitung des Mobiltelefons die Münzfernsprecher zu einem Anachronismus hatten werden lassen. Schließlich fand er ein öffentliches Telefon im Kassenbereich eines Supermarkts, aber er musste feststellen, dass der Apparat keine Münzen nahm, sondern nur Telefonkarten.
Mario ging zu einer der Kassen, wo ihm eine schlecht gelaunte Frau mit eisiger Stimme mitteilte, dass sie keine Telefonkarten verkauften. Ein Namensschild über der geschwellten Brust verkündete: »Margarita.«
Frozen Margarita, dachte Mario. Den Spitznamen hatte Amelia damals einer gleichnamigen Lehrerin gegeben, die, immer wenn im Biologieunterricht eine Frage zu den Fortpflanzungsorganen gestellt wurde, zum Eisblock erstarrt war.
Es kostete ihn weitere zehn Minuten, einen Kiosk zu finden, der Telefonkarten verkaufte. Mit der Karte in der Hand kehrte er in den Supermarkt zurück. Der spöttische Blick von Margarita, die mit den Augen das Handy fixierte, das er in einer Gürteltasche trug, entging ihm nicht, er unterstellte stillschweigend: »Armer Teufel, kannst dir wohl nicht mal ein neues Guthaben für dein Handy leisten.« Blöde Kuh, dachte Mario.
Fünf Minuten und zwei Anrufe später war er endlich mit Amelia verbunden.
»Wie geht es Tomás?«, fragte sie als Erstes. »Hast du mit ihm gesprochen?«
»Ja, ich habe ihn vor ungefähr zwei Stunden gesehen. Er ist besorgt. Er hatte keine Ahnung, in welchen Schwierigkeiten er steckt, bis ich ihn heute Morgen aus dem Bett geklingelt und über den Skandal informiert habe.«
Mario fühlte sich erleichtert. Mit Amelia darüber zu sprechen, machte die Sache zu einer gemeinsamen, die nicht nur auf ihm, sondern auf allen Blauen lastete.
»Wir wissen nicht, was wir machen sollen«, gestand Mario. »Ich habe Tomás davon überzeugt, dass wir zuerst Jaime und dich kontaktieren und die Situation gemeinsam analysieren.«
»Das hast du gut gemacht. Ich muss dringend mit ihm sprechen, ohne dass jemand davon erfährt. Wenn man uns zusammen sieht, wird die Sache zu einem Politikum und womöglich nur schlimmer.«
»Wann und wo?«, fragte Mario und schielte zu der Kassiererin hinüber, die ihn nicht aus den Augen ließ.
»Um halb zehn heute Abend, in der Bar vom Sanborns in San Ángel. Er soll allein kommen und sicherstellen, dass ihm niemand folgt. Sag es ihm persönlich, nicht am Telefon.«
»Alles klar«, erwiderte Mario, enttäuscht, dass er von dem Treffen ausgeschlossen war.
»Ich muss ihm ein paar Dinge sagen, die ihm nicht gefallen werden. Darüber, wie er sich in der letzten Zeit hat gehen lassen. Ich bin sicher, dass er sich das lieber allein anhört«, rechtfertigte sich Amelia, der der versteckte Vorwurf in Marios Stimme nicht entgangen war. »Und du? Wie geht es dir?«, fügte sie hinzu, um ihn zu besänftigen.
»Gut«, antwortete Mario. Er wusste nicht, ob sie die Frage aus reiner Höflichkeit stellte oder ob sie wirklich wissen wollte, wie es ihm ging. Er entschied sich für Letzteres. Um deutlich zu machen, dass er weit mehr war als nur der Überbringer von Nachrichten, informierte er sie über die Entdeckungen seines Sohnes Vidal, der für Amelia wie ein Neffe war.
»Die Sache wird also von den Linken im Netz angeheizt?«, fragte Amelia nachdenklich, wohl wissend, dass sie selbst vor ein paar Stunden die Anweisung dazu gegeben hatte.
»Vidal wird weiter im Internet forschen, vielleicht findet er ja noch was Interessantes.«
»Am besten hält er sich ab jetzt aus der Sache raus, er hat schon genug beigetragen.«
»Er kann sehr nützlich sein«, versicherte Mario stolz. »Du hast deinen Neffen lange nicht mehr gesehen, mit dem Computer kennt er sich erstaunlich gut aus.«
»Gib ihm einen Kuss von mir und sag ihm, dass er die Sache vergessen soll. Manchmal sind es gerade die Nachforschungen, die ein Thema noch brisanter machen. Aber verbiete sie ihm nicht, das könnte den gegenteiligen Effekt haben, da ist er mir ähnlicher als dir. Er soll dir eine Liste der Filme von Dosantos erstellen. Sag ihm, Tomás braucht sie für einen Artikel.«
Mario hängte den Hörer ein und verstaute die Telefonkarte in seiner Brieftasche, dabei stellte er sicher, dass Margarita einen Blick auf seine goldene American Express erhaschte. Dann trat er hinaus auf die Straße und machte sich auf den Weg zu dem Café, in dem er sich mit Tomás verabredet hatte. Das Taxi, das ihm in einem Abstand von vierzig Metern folgte, bemerkte er nicht.