Читать книгу Die Korrupten - Jorge Zepeda-Patterson - Страница 14
10
ОглавлениеMittwoch, 23. November 1994, 20 Uhr
Amelia und Carlos
Das Erdbeben war schuld, dachte Amelia, als sie aus Carlos Lemus’ Büro kam, noch völlig überwältigt von dem, was gerade passiert war. Sie hatte ihn aufgesucht, um ihn wegen ihrer Masterarbeit um Rat zu fragen, die sie im Rahmen ihres Masterstudiengangs am Colegio de México demnächst anmelden musste.
Sie hatten sich noch nie alleine und noch nie außerhalb des gesellschaftlichen oder familiären Kontexts getroffen, doch Amelia erinnerte sich an Dutzende Gespräche mit Jaimes Vater über die mexikanische Geschichte und Politik. Sie schätzte seinen Rat nicht nur, weil er sich in dem Fachbereich bestens auskannte, sondern auch, weil er viele Jahre lang auf der politischen Bühne aktiv gewesen war und das Leben hinter den Kulissen sehr gut kannte. Amelia wollte eine Forschungsarbeit schreiben, die nicht nur von Professoren und Studenten gelesen wurde. Sie hoffte, dass ein Verlag ihre Arbeit als Buch herausbringen würde, um einen größeren Leserkreis anzusprechen. Die Wahl und Aufbereitung des Themas waren dafür zentrale Faktoren, und Jaimes Vater würde ihr bei der Sondierung sicher eine große Hilfe sein.
Carlos Lemus war erst kürzlich auf Anweisung des Präsidenten Carlos Salinas aus dem Finanzministerium ausgeschieden und hatte gerade sein eigenes Büro in einer eleganten Kanzlei im zwölften Stock eines modernen Gebäudes auf dem Paseo de la Reforma bezogen.
Dorthin begab sich Amelia um acht Uhr an einem Mittwochabend, einem etwas weniger mit Veranstaltungen belegten Tag in ihrer sonst vollen Uniwoche.
Sie wurde von Esther empfangen, Lemus’ langjähriger und tüchtiger Sekretärin. Amelia kannte sie gut. In ihrer Jugend hatte Jaime sie jedes Mal angerufen, wenn sie nach einem Streifzug durch die Stadt von einem Chauffeur gerettet werden mussten. Außerdem waren sie sich mehr als einmal bei diversen Familientreffen der Familie Lemus begegnet.
»Amelia, wie hübsch du aussiehst! So zurechtgemacht habe ich dich ja noch nie gesehen.«
»Danke, Esther. Zu meinen Seminaren am Colegio de México kann ich einfach nicht so schlampig angezogen gehen«, brachte sie zu ihrer Verteidigung vor, obwohl ihr bewusst war, dass sie zum ersten Mal an einem Unitag roten Lippenstift aufgetragen hatte. Außerdem trug sie Ohrringe in verschiedenen Grüntönen, die ihre Augen wunderbar zur Geltung brachten, und einen Stretch-Rock mit Blumenmuster, der ihre Figur betonte und den sie sonst nur zu Festen oder besonderen Anlässen anzog.
»Meine Mutter feiert heute ihren Geburtstag, weshalb ich euch leider alleine lassen muss. In der Küche gibt es Kaffee, gekühlte Getränke und Kekse. Kann ich dir noch etwas bringen, bevor ich gehe? Hier ist keiner mehr, die anderen sind alle schon gegangen.«
»Nein, danke. Ich warte einfach hier. Hab eine schöne Geburtstagsfeier.«
Amelia machte es sich in dem luxuriösen Warteraum mit weichen Teppichen und Ledersesseln bequem, doch sie musste nicht lange warten. Nur wenige Minuten später bat Carlos sie zu sich ins Büro. Der Anwalt hatte bereits die Krawatte abgelegt und den obersten Knopf seines Hemds geöffnet. Er sah so frisch aus, als hätte der Tag gerade erst begonnen. Amelia wusste, dass das in den Genen der Familie Lemus lag.
Sie begrüßten sich höflich, aber herzlich mit einer halben Umarmung, doch das war für Amelia nah genug, um das besondere Aroma wahrzunehmen, das Carlos’ Körper verströmte, einen Duft, der sie vage an Datteln erinnerte.
Amelia hatte sich immer als eine Sammlerin von Gerüchen betrachtet. Sie liebte zum Beispiel kräftigen französischen Käse, den ihre Freunde abstoßend fanden. Allerdings war es gut möglich, dass sie bei einem romantischen Date plötzlich Reißaus nahm oder sie einen scheinbar tadellosen Tanzpartner einfach stehen ließ, weil ihr sein Geruch unangenehm war, den allerdings nur sie wahrnahm. Ihr erstaunlicher Erfindungsreichtum, wenn es darum ging, Leuten Spitznamen zu geben, basierte zu einem Großteil auf den Assoziationen, die die Gerüche der Leute in ihr weckten.
Carlos Lemus war Dattel, auch wenn sie das nie jemandem anvertraut hatte, und während sie ihren Rock und ihre verführerische Aufmachung inspizierte, wurde ihr bewusst: Der Dattelgeruch faszinierte sie. Die junge Frau zwang sich, die Signale, die ihr Körper aussandte, zu verdrängen. Der Anwalt war fünfundzwanzig Jahre älter als sie, womit er ihr Vater hätte sein können, ganz zu schweigen von den familiären und persönlichen Komplikationen, die jede engere Art von Verstrickung auslösen würde. Lemus’ Verhalten erleichterte ihr den Übergang in ein intellektuelles Gespräch. Er bat sie, auf dem Sofa Platz zu nehmen, während er sich selbst zwei Meter entfernt auf einem Sessel niederließ. Zwischen ihnen befand sich der Couchtisch.
»Du hattest gesagt, du möchtest deine Masterarbeit über das Freihandelsabkommen schreiben, das Carlos Salinas mit den Vereinigten Staaten und Kanada unterzeichnet hat. Aber du machst doch deinen Master gar nicht in Wirtschaft, sondern in Politikwissenschaften, hab ich recht?«
»Ja, aber ich will auch die sozialen und politischen Auswirkungen des Abkommens untersuchen, nicht nur die wirtschaftlichen.«
»Das klingt interessant«, räumte Lemus ein. »Es wird allerdings nicht ganz leicht sein, diesen Aspekt vom technokratischen Rest zu trennen. Wenn du die entstandene soziale Ungleichheit oder die Stärkung der Monopole analysierst, wird es dich viel Arbeit kosten zu unterscheiden, welcher Anteil auf die Vertragsklauseln zurückzuführen ist und welcher auf die Art und Weise, wie die Privatisierungen durchgeführt wurden, um die Großunternehmer auf Kosten des Mittelstandes zu bevorzugen, um nur ein Beispiel zu nennen.«
Amelia nickte konzentriert, während sie darüber nachdachte, dass es nicht nur das Aroma war, das ihr an Carlos gefiel: Es war, als würde er über den Themen schweben, um diese vollständig und im Zusammenhang zu betrachten, weshalb seine Bemerkungen immer präzise und treffend waren. Ein bisschen wie ein Adler, der das ganze Feld im Blick hatte, bevor er sich mit erstaunlicher Zielgenauigkeit auf eine winzige Beute herabstürzte.
Trotz aller Faszination war es nicht Amelias Art, sich von der Begabung eines anderen allzu leicht beeindrucken zu lassen. Mehr, um ihre Zweifel gegenüber Carlos zu nähren, als um der politischen Auseinandersetzung willen, ging sie zum Gegenangriff über: »Du bist also kein Salinist, soweit ich das verstanden habe, obwohl du der PRI angehörst. Ich halte nichts von Salinas’ vermeintlich modernisiertem Modell, aber wie sieht der Gegenvorschlag aus? Das alte System um jeden Preis aufrechterhalten?«
Carlos betrachtete sie lange schweigend, so, als sähe er sie gerade zum ersten Mal. Er ließ den Blick über ihren Rock schweifen, bemerkte ihre Ohrringe und die roten Lippen. Im Gegensatz zu den meisten seiner Kollegen war er ein großer Freund der Kontroverse und scharfen Auseinandersetzung. Jetzt erinnerte er sich wieder daran, wie sehr ihn die junge Frau schon früher fasziniert hatte, und er musste an die vielen Gespräche denken, die er mit den Freunden seines Sohnes geführt hatte, einfach weil es ihm Spaß gemacht hatte, die Widerreden und Einwürfe aus ihnen herauszukitzeln.
»Schau, Amelia, ich wurde Mitglied der PRI, weil es die einzige Möglichkeit war, mich aktiv an der Politik zu beteiligen. Jahrzehntelang war die Einheitspartei ein notwendiges Übel, um Stabilität und Wachstum zu gewährleisten: Während sich die restlichen lateinamerikanischen Länder immer wieder zwischen Aufständen und Militärdiktaturen zerrieben haben, ist es Mexiko gelungen, seine stürmische Vergangenheit hinter sich zu lassen. Die Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts und die Revolution zeigen, wie groß die Gefahr für das Land war, immer weiter auszubluten. Die Gewalt schien unserem Land in die Wiege gelegt zu sein. Erst das von der PRI eingeführte Präsidialsystem, in dem der Präsident nicht für eine zweite Amtszeit wiedergewählt werden darf, hat uns fünfzig Jahre Stabilität gebracht.«
Carlos’ Stimme war jetzt sachlich und monoton, und er schien ebenso mit ihr zu sprechen wie mit sich selbst. Wahrscheinlich hatte er dieses Thema schon unzählige Male ausgeführt.
»Doch seit den Siebzigerjahren passte das System immer weniger in die Zeit«, fuhr er fort. »Natürlich gab es PRI-Politiker, die auf Biegen und Brechen daran festhalten wollten, daher die Niederschlagung der Studentenbewegung von Achtundsechzig. Salinas’ Projekt ist ein Ausweg nach hinten, konform mit den Modernisierungsmaßnahmen des Internationalen Währungsfonds und des Washington-Konsenses: Privatisierung, Minimierung der Rolle des Staates, Kürzung der öffentlichen Gelder et cetera et cetera, aber das geht zulasten der Sozialpolitik, die die PRI-Regierungen in all den Jahren – wenn auch nur zu Legitimationszwecken – vorangetrieben haben.«
»Du willst also sagen, es gibt drei Kategorien von PRI-Politikern: die neoliberalen Technokraten um Salinas, die Dinosaurier von der alten Garde, die glauben, dass das Regime bis in alle Ewigkeiten Bestand haben kann, und die Reformer wie dich.«
»Schön wär’s, wenn diese drei Tendenzen in der Partei vertreten wären. Tatsächlich sind die, die so denken wie ich, eine kleine Minderheit, und ich weiß nicht, ob wir überhaupt in der PRI bleiben können. Wie du siehst, bin ich derzeit kein Regierungsmitglied mehr«, sagte Carlos und deutete mit einer unbestimmten Geste auf seine Büroeinrichtung.
»Gehören die Reformen, die Reyes Heroles 1977 initiiert hat, zu dieser ideologischen Richtung, von der du sprichst?«
»Wie ich sehe, hast du dich gut in das Thema eingelesen«, sagte er und ließ den Blick über Amelias Körper wandern.
Sie rutschte verlegen auf dem Sofa hin und her und war erstaunt, als sie spürte, wie ihr angesichts seines Lobes die Röte ins Gesicht stieg, obwohl sie immer geglaubt hatte, weitgehend unabhängig von der Anerkennung durch andere zu sein.
»Du hast ganz recht«, fuhr er fort. »Präsident Echevarría gab zwischen 1970 und 1976 noch alles, um das alte Regime zu stärken – mit harter Hand in politischen Belangen und dem Ziel einer Ausweitung des paternalistischen Staates, doch mit all den Schwachstellen eines längst überholten Modells: Bürokratie, Verschwendung, Korruption, Vernachlässigung, von der Mafia unterwanderte Gewerkschaften. Als López Portillo 1976 an die Macht kam, wusste er, dass sich etwas ändern musste. Nur war es eher seine Stärke, brillante Reden zu schwingen, als klare Ideen zu entwickeln. Ambivalent, wie er war, ließ er zwei unterschiedliche Strategien parallel laufen: Er ernannte Reyes Heroles zu seinem Innenminister, um eine politische Reform von oben anzustoßen – eine Art vorgezogene Perestroika –, und gleichzeitig engagierte er eine Gruppe von Wirtschaftswissenschaftlern, die an neoliberalen Universitäten in den Vereinigten Staaten promoviert hatten, und betraute sie mit der Leitung des Wirtschaftskabinetts.«
»Miguel de la Madrid, Salinas, Aspe und Konsorten«, ergänzte Amelia.
»Tatsächlich haben sie am Ende gewonnen. Reyes Heroles musste nach zwei Jahren gehen, und obwohl sich ein paar seiner Reformvorschläge schon konkretisiert hatten, wurde das Gesamtpaket abgelehnt. Was ihn aber letztlich zu Fall gebracht hat, war die Kombination aus alter Garde, die sich jeglicher Öffnung in den Weg stellte, und den jungen Technokraten, die darauf bestanden, dass es erst die wirtschaftlichen Reformen geben müsse und dann die sozialen und politischen.«
»Das heißt, die Dinosaurier und die Modernisierungs-Technokraten haben sich verbündet, um die reformerischen Tendenzen aufzuhalten?«
»Das ist ein interessanter Punkt. Die zwei Gruppierungen hatten eine seltsame Beziehung zwischen Annäherung und Distanz, und der Ex-Präsident Carlos Salinas ist eine Fusion aus beiden Lagern. Das zeigt sich bereits in seiner Biografie: Er war der Sohn eines Mitglieds der alten Garde, selbst aber Harvard-Absolvent und Verfechter des Washington-Konsenses. Was danach kam, ist Geschichte. Die Ereignisse rund um die Zapatisten-Bewegung und den Mord an Luis Donaldo Colosio im März, mitten im Präsidentschaftswahlkampf, zeigen aber schon, dass die sozialen Strukturen einem Wirtschaftsmodell nicht standhalten werden, das sich auf die Besserverdiener konzentriert und die Hälfte aller Mexikaner marginalisiert, vor allem diejenigen in den ländlichen Regionen. Die Technokraten kapieren nicht, dass eine Verbesserung der Wirtschaft nicht möglich ist, wenn man die Bauern ruiniert, es sei denn, es werden die nötigen politischen Maßnahmen ergriffen und strukturelle Änderungen vorgenommen, die es ihnen erlauben, sich wieder in das soziale und politische Leben einzugliedern.«
Amelia glaubte, genug gehört zu haben, um das Thema ihrer Masterarbeit zu konkretisieren. Sie hatte trotz des aufgeschlagenen Notizbuchs auf ihrem Schoß nichts mitgeschrieben, aber sie würde sich an das meiste erinnern, wenn sie sich zu Hause gleich an den Schreibtisch setzte. Sie wollte eigentlich noch nicht gehen, aber sie hatte das Gefühl, die neuen Aspekte erst einmal verarbeiten zu müssen, bevor sie das Gespräch fortsetzten.
»Danke für diese neue Perspektive, sie gefällt mir. Ich werde jetzt ein Konzept entwickeln und mir eine Fragestellung überlegen. Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich dir meinen Entwurf schicke? Eine Einschätzung von dir würde mich wirklich freuen. Jetzt mache ich mich aber mal lieber auf den Weg.«
»Selbstverständlich werde ich deine Überlegungen dazu mit Vergnügen lesen! Wenn es nach mir geht, war der weibliche Teil der Blauen schon immer der begabteste.«
Amelia lächelte nervös angesichts dieser persönlichen Bemerkung. Sie verstaute das Notizbuch in ihrer Tasche, stand auf und wandte sich zum Gehen.
»Ich begleite dich hinaus«, sagte Carlos und hakte sich bei ihr unter.
Als sie die Tür zum Empfangszimmer erreichten, hielt er sie zurück: »Halt, warte. Spürst du auch das Beben?«
»Wir müssen raus auf die Straße, schnell!«, schrie sie beinahe panisch. Sie hatte das Erdbeben von 1985, bei dem mehrere ihrer Mitschüler ihr Leben verloren hatten, noch allzu gut in Erinnerung.
»Amelia, wir befinden uns im zwölften Stock: Bevor wir unten sind, ist das Beben längst vorbei. Komm«, sagte er, legte den Arm um sie und führte sie zu einer Säule des Büros, gegen die er sich mit dem Rücken lehnte. Dies waren für eine Weile die letzten Worte, die sie miteinander wechselten.
Amelia klammerte sich an Carlos, steckte die Nase in sein offenes Hemd und ließ sich von seinem Geruch überfluten. Einen Augenblick später küssten sie sich. Den Moment, als das Beben aufhörte, bekamen sie nicht mit. Sie kehrten zurück auf das Sofa, von dem Amelia gerade aufgestanden war, rissen sich die Kleider vom Leib und erlebten gemeinsam einen langen, intensiven Orgasmus.
Amelia schloss die Arme um Carlos und legte den Kopf auf seine Brust. Sie konnte nicht mit Entschiedenheit sagen, ob sie gerade den besten Sex ihres Lebens gehabt hatte, aber anders war er gewesen, so viel war sicher, eine gänzlich neue Erfahrung. Mit sechzehn, einen zehn Jahre älteren Mann an ihrer Seite, hatte sie beschlossen, sich der in ihren Augen lästigen Jungfräulichkeit ein für alle Mal zu entledigen. Seither hatte sie mehrere zwei- bis dreijährige Beziehungen mit Männern geführt, die mindestens Ende zwanzig oder schon in den Dreißigern waren, von dem kurzen Flirt mit Tomás vor ein paar Monaten einmal abgesehen.
Der Sex war für sie immer ein Vergnügen gewesen, bei dem sie sich überlegen fühlte. Das war mit Carlos nicht der Fall. Dank des Einflusses ihrer Mutter hatte sie bislang nie ohne Präservativ mit einem Mann geschlafen, aber heute hatte sie an Verhütung überhaupt nicht gedacht, obwohl sie sogar ein paar Kondome in ihrer Tasche gehabt hätte. Es überraschte sie, wie sie sich von den heftigen Gefühlen, die die Begegnung mit Carlos in ihr auslöste, hatte mitreißen lassen. Der intime, lustvolle Blick, die tief empfundene Komplizenschaft, als sie sich lange in die Augen sahen, während er in sie eindrang, hatte alle Bedenken über Altersunterschiede und unmögliche Umstände weggefegt.
Kaum dass sich Carlos’ Atmung wieder normalisiert hatte, fing er an zu lachen, zuerst leise, dann immer lauter. Sie hob den Kopf und sah ihn neugierig an.
»Es ist die pure Freude«, sagte er. »Ich weiß nicht, wie lange ich mich nicht mehr so gefühlt habe. Meinetwegen kann das Erdbeben jederzeit wiederkommen, ich werde in Dankbarkeit diese Welt verlassen.«
Am Ende lachte Amelia einfach mit, obwohl sie überhaupt noch keine Lust hatte, diese Welt zu verlassen. Doch sie teilte mit Carlos das Gefühl der vollkommenen Zufriedenheit, das die gemeinsam erlebte Intimität ihnen geschenkt hatte.
Von da an sahen sie sich jeden Mittwochabend heimlich in seinem Büro. Sie sprachen über ihre Masterarbeit, aber auch über Sehnsüchte, Träume und Sorgen. Sie tranken Weißwein und liebten sich langsam und ausgiebig.
»Zu wissen, dass wir diesen einen gemeinsamen Abend haben, gibt mir für den Rest der Woche das Gefühl, der reichste Mensch der Welt zu sein«, sagte er. »Allein der Gedanke schenkt mir Zuversicht und ein wohlig warmes Gefühl im Bauch. Ein bisschen so, als wäre man in der Wüste, aber mit dem Wissen, dass einen hinter der nächsten Düne eine Oase erwartet.«
Ihr gefiel das Bild der Blase besser: Sie gingen beide ihrer täglichen Routine in der Uni oder Arbeit nach und führten weiterhin ihr jeweiliges Privatleben in dem vollen Bewusstsein, dass es nicht mehr gemeinsame Zeit für sie gab als diese drei oder vier Stunden in der Woche. Amelia war sich bewusst, dass Blasen dazu neigten, immer größer und größer zu werden, bis sie unweigerlich platzten, ganz egal, wie schillernd sie waren, doch die Blase hielt über acht Jahre.
Am Anfang fiel es ihr schwer, dem Impuls zu widerstehen, Carlos tagsüber anzurufen oder sich andere Umstände mit ihm vorzustellen. Doch nach und nach lernten sie beide eine Beziehung schätzen, die ihnen keine Verpflichtungen auferlegte, keine Einschränkungen oder Bedingungen jenseits der selbst gewählten, sich in dem begrenzten Rahmen ihrer wöchentlichen Treffen einander voll und ganz zu widmen.
Anfangs trafen sie sich regelmäßig einmal die Woche, später zwei- bis dreimal im Monat, je nachdem, wie ihre jeweiligen Terminkalender es zuließen. Aber die Blase blieb stets intakt, die Begegnungen innig und vertraut. Anfangs stand die ausgiebige gegenseitige Erforschung ihrer Sexualität im Vordergrund, die dank der fehlenden täglichen Routine nie eintönig wurde. Wie ein gutes Tanzpaar begannen sie Maße und Entfernungen, konkave und konvexe Formen zu erkennen, die natürlichen Bewegungen des anderen zu verstehen und sich zu eigen zu machen, sodass sie bald zu gemeinsamen wurden.
Je mehr Monate und Jahre vergingen, umso klarer wurde Amelia, wie wichtig ihr die Beziehung und ihre ausgleichende Wirkung geworden waren. Er lernte von ihr, gelegentlich Marihuana zu rauchen, außerdem brachte sie ihm das Kochen bei, wofür sie die Küchenzeile im Büro erweiterten und in eine Art Gourmet-Ecke verwandelten. Er half ihr dabei, ihre Redegewandtheit in einen sicheren Schreibstil zu übertragen, der sie zu einer erfolgreichen Buchautorin und renommierten Essayistin machte. Zusammen entdeckten sie ihre Liebe zu angelsächsischen Schriftstellern, die sie in der Originalsprache lasen.
Amelia genoss den Sex ebenso wie die langen Gespräche danach, denen sie sich nicht minder leidenschaftlich hingaben. Die absolute Vertrautheit in einer Beziehung, in der auf jeglichen Versuch der Kontrolle oder Manipulation verzichtet wurde, machte diese Begegnungen für Amelia zu Therapiestunden, in denen sie ihre Träume, Frustrationen und Unsicherheiten kennenlernte, die sie in keinem anderen Kontext zugegeben hätte, nicht einmal vor sich selbst.
Die Beziehung mit Amelia erlaubte Carlos, mit einem Teil von sich wieder in Kontakt zu treten, den er schon verloren geglaubt hatte: der Begeisterung dafür, etwas an den bestehenden Verhältnissen zu ändern oder sie infrage zu stellen, die Empörung gegenüber der Schlechtigkeit der Welt oder die bedingungslose Verzückung angesichts eines künstlerischen oder literarischen Werks. Vor allem aber waren es die Erfahrungen seines Körpers, die ihm wieder neues Leben einhauchten. Die Erinnerung an Amelia wirkte noch an den anderen Tagen der Woche in ihm nach und verlieh seinem Alltag ein angenehm erotisierendes Grundgefühl. Er hatte nie eine Schwäche für jüngere Frauen gehabt, sodass ihn Amelias Besuch in seinem Büro und besonders die Nachwirkungen dieser Begegnung ziemlich überrumpelt hatten. Etwas an ihrer Pfirsichhaut, an der Sinnlichkeit, mit der ihre langen Beine ihn umfingen, weckten in ihm Erinnerungen an eine jugendliche Sehnsucht, in der die vollkommene Intimität eine reale Möglichkeit darstellte. Die körperliche und erotische Begierde der jungen Frau, die ohne emotionales Kalkül der Lust in ihren unendlichen Formen freien Lauf ließ, wurde zur Triebkraft seines täglichen Lebens. Bei Geschäftstreffen mit gelangweilten Mandanten zeichnete er in Gedanken die Leberflecke auf Amelias Rücken nach. So wie sie liebte er die mitternächtlichen Gespräche, wenn ihre zufriedenen Körper den Seelen Raum gaben, sich zu öffnen.
Sie fanden heraus, dass die täglichen Schikanen und Niederträchtigkeiten des Lebens gebannt werden konnten, sobald sie sich in ihrer nächtlichen Blase im Schummerlicht, die Körper nach dem Liebesspiel ineinander verschlungen, alles erzählten. Manchmal erschien es ihnen, als wäre das eigentliche Paralleluniversum nicht ihr selbst erschaffenes mittwöchliches Stelldichein, sondern das Familien- und Arbeitsleben der restlichen Woche, das nur dazu diente, ihnen den Gesprächsstoff für ihre vertrauten Stunden zu liefern.
Es kam der Punkt, an dem Amelia wieder anfing, Paarbeziehungen mit anderen Männern zu führen, sich zu verlieben, Enttäuschungen zu erleben und sich erneut zu verlieben, aber die Blase mit Carlos stand alldem nicht im Weg – sie hatte sie auf eine Weise abgekapselt, dass sie ein Teil ihres inneren Selbst geworden war. Tatsächlich konnte Amelia sich dank der emotionalen Sicherheit, die ihr die Beziehung mit Carlos gab, auf eine viel gesündere, weniger dringliche Art verlieben.
Erst als sie acht Jahre später beschloss, mit Héctor in eine gemeinsame Wohnung zu ziehen, hielt sie es für angebracht, ihre regelmäßigen Treffen mit dem Anwalt zu beenden. Der Grund dafür war nicht, dass die Weiterführung der Beziehung sie emotional verwirrt hätte, sondern, dass sie nicht gezwungen sein wollte, sich Ausreden und Lügen einfallen zu lassen, um im Alltag mit einem festen Lebenspartner ein heimliches Verhältnis aufrechtzuerhalten.
Fortan traf sie Carlos nicht mehr in seinem Büro, sondern nur noch gelegentlich zum Mittagessen, und obwohl sie die Begegnungen genoss, waren ihre Gespräche doch nie mehr wie früher.
Die Beziehung mit Héctor dauerte fünf Jahre und starb schließlich aus purer Nachlässigkeit. Doch die Besuche in Carlos’ Büro gehörten der Vergangenheit an. Amelia traf ihn weiterhin zwei- bis dreimal im Jahr in einem Restaurant in Polanco. Auch Carlos unternahm keinen Versuch, ihre Blase wiederherzustellen. Dafür hätte es erst wieder eines Erdbebens bedurft.