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1984

Gefangen im Überschuss der Hormone scharwenzelten die drei Jugendlichen um Amelia herum. Seit der Grundschule war sie die Anführerin der Gruppe, die sich die Blauen nannte. Der Name rührte von der Farbe der französischen Notizbücher her, die ihnen Jaimes Vater von seinen Reisen mitbrachte.

Tomás und Jaime versuchten gelegentlich, Amelia die Führung streitig zu machen, doch deren Schlagfertigkeit war nach wie vor konkurrenzlos. Jaime hatte einen reichen Vater, eine Riesenvilla mit Swimmingpool im Garten und immer die neuesten Sachen aus dem Ausland auf seiner Seite, und Tomás punktete mit seiner Sanftmut und Warmherzigkeit. Mario hatte nichts vorzuweisen, aber er war ein treuer Freund und machte bei allen Schandtaten mit, die seinen Kameraden so einfielen. Amelia war diejenige, die sie alle als Gruppe zusammenhielt. Im Schutz ihrer schlagfertigen Antworten, mit denen sie ihnen so manchen Typen an der Schule vom Leib hielt, verbrachten sie ihre Kindheit. Mit ihrer Begabung, Lehrern und Schülern bleibende Spitznamen zu verpassen, verschaffte sie sich allgemeinen Respekt. Mit vierzehn kam ein weiteres schlagendes Argument hinzu: ihr Körper, der sich schneller entwickelte als der ihrer Freunde.

Damals redeten die vier über kaum etwas anderes als Liebe und Sex, und auch auf diesem Gebiet war Amelia den anderen um Längen voraus. Als Tochter einer feministischen Sexualwissenschaftlerin wuchs Amelia in einem Haushalt auf, in dem die Kinder so offen über ihren Penis beziehungsweise ihre Vagina redeten wie andere über eine Halsentzündung oder das rasante Wachstum der Fingernägel. Anfangs war sie überrascht über die verärgerten und manchmal sogar aggressiven Reaktionen ihrer Mitschüler, wenn sie über diese Dinge sprach. Doch als sie in die Pubertät kamen, wurde ihr zunehmend bewusst, welche Vorteile ihr die Ungezwungenheit und das Wissen auf einem Gebiet verschafften, das alle faszinierte. Sie hielt Vorträge und schüchterte ihre Kameraden ein, für die sie zu einer Art Orakel wurde, das ihnen offenbarte, was sie von den dunklen, unbekannten und unwiderstehlichen Gefilden ihres zukünftigen Sexuallebens zu erwarten hatten.

Aber die Rolle brachte sie mitunter auch in Schwierigkeiten. An einem Freitagmittag zwischen zwei Unterrichtsstunden sahen die vier Freunde ihren Klassenkameraden bei einem leidenschaftlich ausgetragenen Basketballspiel zu. Die Blauen verstanden sich selbst als kultivierte Intellektuelle. Ein paar Monate zuvor hatte sich Tomás mit seiner Auffassung durchgesetzt – vor allem gegen Jaime –, Sport zu treiben sei widernatürlich. Tomás selbst war durchaus athletisch, doch er entwickelte eine Vorliebe fürs Lesen und war zu dem Schluss gekommen, dass er mit seinen sachkundigen und provokativen Aussagen mehr punkten konnte als mit gelegentlichen Korbwürfen.

»Habt ihr jemals eine Kuh gesehen, die wie bekloppt herumrennt, nur damit sie ins Schwitzen kommt? Der Sport ist wider die Natur«, konfrontierte er die anderen mit einem Argument, das diese kaum widerlegen konnten.

»Aber es ist gesund, Sport zu treiben«, entgegnete Jaime, der von allen am sportlichsten war und jeden Nachmittag in einem Karateverein trainierte.

»Klar, aber nur so lange, bis du dir den Knöchel verstauchst oder dir jemand mit einem Kopfstoß die Nase bricht, dann wird es ungesund«, konterte Amelia, die zwar gut im Volleyball war, sich aber über den immer deutlicher hervortretenden körperlichen Nachteil gegenüber ihren männlichen Spielgefährten ärgerte.

»Für den Mann ist der Sport ein Weg, seine Fähigkeiten als Jäger und Krieger zu trainieren und bei Gefahr reagieren zu können«, verteidigte sich Jaime mit einem Satz, den er von seinem Karatelehrer gehört hatte.

»Schwachsinn«, hielt Amelia dagegen. »Die Zivilisation hat mit der Entwicklung des Gehirns zu tun, nicht mit der der Muskeln. Auf Bäume klettern zu können, ist kein zivilisatorischer Vorteil.« Und damit war die Diskussion beendet.

Das Basketballspiel zog die Aufmerksamkeit der Blauen auf sich, als Möhre – so hatte Amelia den Mitschüler einige Monate zuvor treffend getauft – dem Nazi, dem größten Angeber der Schule, einen Schubs verpasste. Sie wussten, dass das Konsequenzen haben würde. Möhre blickte ungeduldig zur Uhr, die auf einer Seite des Sportplatzes hing, und es war nicht zu übersehen, dass er das erlösende Läuten der Schulglocke herbeisehnte. Die Retourkutsche des Nazis ließ nicht lange auf sich warten: Bei der nächstbesten Gelegenheit stürzte er sich auf sein Opfer und verpasste ihm einen Ellbogenstoß gegen den Kopf. Möhre ging wie ein Mehlsack zu Boden, sein Schädel machte beim Aufprall auf den Bodenplatten ein merkwürdiges Geräusch.

»Idiot«, sagte Amelia.

»Mann, Möhre!«, rief Mario entsetzt, unterdrückte aber den Impuls, hinzurennen, als er sah, dass seine Freunde sich nicht rührten.

»Man müsste ihm das Handwerk legen«, sagte Tomás leise und wünschte sich, er hätte die Muskeln und den Mumm, um sich mit dem Nazi anlegen zu können. Wie in den meisten Fällen war seine Einstellung edler als seine Taten.

»Keine Sorge, in dem Muskelpaket steckt nur ein armer kleiner Wicht. Er wird sich sein eigenes Grab schaufeln«, warf Amelia verächtlich ein.

Jaime war sich da nicht so sicher. In mehr als einer Situation hatte er den Nazi um seine breiten Schultern und die Autorität beneidet, die ihm sein Körperbau bei den Mitschülern verschaffte. »Na ja, unter der Dusche ist er alles andere als ein Wicht. Und auf der Toilette weiß man nicht, ob er pinkelt oder eine Kobra in die Tränke hält«, entgegnete er.

Die drei Jungs feierten den Kommentar unter dem kritischen Blick Amelias.

»Der Witz ist alt und grottenschlecht. Immer diese Märchen. Es gibt wissenschaftliche Untersuchungen, die besagen, je größer der Penis, umso wahrscheinlicher ist es, dass der Kerl schwul ist«, setzte sie noch einen drauf.

Die drei protestierten und waren sich einig, dass sie sich das ausgedacht hatte. Mario jedoch überlegte insgeheim, dass er sich, wenn das stimmte, wenigstens keine Gedanken mehr über seinen winzigen Penis machen musste.

»Im Ernst, das hab ich in einem Buch von meiner Mutter gelesen«, behauptete Amelia im Brustton der Überzeugung. In Wahrheit erinnerte sie sich nicht mehr genau, ob, und wenn ja, wo sie es gelesen hatte, aber da musste sie jetzt durch. Zurückrudern kam für sie nicht infrage.

Ihre Freunde wollten jedenfalls nichts davon wissen und verlangten Beweise. Sie versicherte ihnen, Beweise seien überhaupt kein Problem, sie würde sie am nächsten Tag zu Jaime mitbringen, wo sie sich wie jeden Samstag zum Schwimmen und gemeinsamen Mittagessen verabredet hatten.

Es würde das letzte Treffen sein, bevor sie sich die ganzen Sommerferien über nicht sahen. Amelia würde die nächsten Wochen im Haus der Familie in Malinalco verbringen, keine zwei Stunden von Mexiko-Stadt entfernt. Jaime würde mit seiner Mutter und seinen zwei Brüdern nach Miami reisen und Tomás die Ferien mit seinen Cousins und Cousinen in Puerto Vallarta verbringen. Mario, dessen Eltern weniger wohlhabend waren, würde in der Stadt bleiben, obwohl er den Blauen erzählt hatte, dass ihn ein Onkel auf eine Rinderzuchtfarm in Tamaulipas mitnehmen wollte.

Amelia hoffte auf einen raschen Themenwechsel, aber die Schulglocke, die sie zurück ins Klassenzimmer rief, machte ihr einen Strich durch die Rechnung.

Jaime machte jede Ausflucht unmöglich. »Morgen zeigst du uns die Stelle, okay?«

»Klar. Aber ihr werdet es bereuen«, behauptete Amelia mit ungetrübtem Selbstvertrauen.

Die anderen drei lachten nervös, machten aber deutlich, dass sie sie nicht davonkommen lassen würden.

Am Abend studierte Amelia aufmerksam die Abbildungen in den Anatomie- und Aufklärungsbüchern im Arbeitszimmer ihrer Mutter, fand aber nichts, was ihre Theorie gestützt hätte. Jetzt hatte sie ein echtes Problem: Sie wollte nicht als Lügnerin dastehen, schon gar nicht am letzten Tag vor den Ferien. Dann hätte sie nicht einmal die Möglichkeit, das Ganze zeitnah auszubügeln. Ihre Autorität würde einen Knacks bekommen – und das ausgerechnet beim Thema Nummer eins.

Sie suchte nach einem Ausweg. Ihr fiel ein, dass auch ihr Vater eine Reihe von Büchern über Sexualität besaß. Vor einiger Zeit hatte sie mal darin geblättert, aber es gab keine Abbildungen und die Texte waren voll von Freud’schem Kauderwelsch. Damals hatte sie das Versteck der Bücher interessanter gefunden als ihren Inhalt. Im Gegensatz zu ihrer Mutter, die völlig ungezwungen über alles sprach, was den Körper betraf, wirkte die Gelassenheit ihres Vaters bei solchen Gesprächen eher aufgesetzt. Amelia hatte schon als kleines Mädchen durchschaut, dass er sich hinter seiner psychoanalytischen Fachsimpelei nur verschanzte, um das Thema möglichst abzukürzen.

Sie öffnete die dritte Schublade des Schreibtischs, der kaum benutzt wurde, weil ihr Vater die moderne Ausstattung seines Büros in Santa Fe bevorzugte, dem »mexikanischen San Diego«. Wie beim letzten Mal nahm sie die schweren Aktenmappen heraus, die die drei Bücher mit festem Einband verbargen. Eins war in englischer Sprache, und Amelias Hoffnungen, darin etwas Brauchbares zu finden, hielten sich in Grenzen. Während sie die Bücher aus dem hinteren Teil der Schublade fischte, fiel ihr auf, dass deren Boden mit einem kaffeebraunen Fotokarton ausgelegt war. Darunter fand sie in einem improvisierten Versteck zwei Zeitschriften. Erst verwundert, dann fasziniert, sah sie sich die Hefte genauer an und stellte fest, dass es sich um pornografische Zeitschriften mit ausschließlich männlichen Protagonisten handelte.

Zwar sagte sie sich, dass der Fund auch mit einem homosexuellen Klienten zu haben könnte, aber sie wusste, dass ihr Vater keine Patientenakten oder sonstiges Material aus den Therapiesitzungen mit nach Hause brachte. Allmählich dämmerte es ihr, und ihr kamen immer mehr Bilder in den Sinn, die sie vorher nicht bewusst wahrgenommen hatte: die grellbunten Hemden, die er trug, der übertrieben gespitzte Mund beim Trinken und der kühle Umgang zwischen ihm und ihrer Mutter.

Amelia sank auf dem Schreibtischstuhl zusammen. Nie hatte sie sich ihrem Vater näher gefühlt als in diesem Moment. Ihr rebellisches Wesen hatte über die Jahre allzu viele Reibungen mit einem Menschen verursacht, der von Ordnung und Ästhetik wie besessen zu sein schien. Er war nicht wirklich streng, ließ aber doch keine Gelegenheit aus, seine Tochter sanft, aber bestimmt für die Spuren zu tadeln, die sie in ihrem kindlichen Übermut auf der Tischdecke oder den Wohnzimmermöbeln hinterließ. Der Waffenstillstand bestand schließlich darin, dass sie einander friedlich aus dem Weg gingen.

Die Entdeckung warf Amelia dennoch ziemlich aus der Bahn. Sie ermahnte sich, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen; sie wollte die Sache erst bestätigt wissen, bevor sie sich mit den emotionalen Konsequenzen der Entdeckung auseinandersetzte, dass ihr Vater schwul war. Sie unterdrückte den Schauder, der sie überkam, als sie sich ihren Vater nackt vorstellte, und wandte sich schnell wieder den Zeitschriften zu. Doch ihr war die Lust vergangen, das Verhältnis von Penisgröße und Homosexualität zu untersuchen.

Am nächsten Tag opferte Tomás seine alte Jeans und funktionierte sie zu einer Badehose um. Angesichts von Jaimes stylischen kurzen Streifenshorts hatte er sich in seiner altmodischen Badehose zunehmend unwohl gefühlt. Er zog sich sein weites Dallas-Cowboys-T-Shirt an und beschloss, es nur zum Schwimmen auszuziehen. Sooft er auch in den Spiegel schaute, seine Brust- und Bauchmuskeln wollten sich einfach nicht entwickeln – im Gegensatz zu Jaimes.

Amelia hatte er sich schon immer enger verbunden gefühlt als den anderen Blauen. Bei ihr spürte er eine besondere Komplizenschaft, die sich nicht zuletzt auf ihrer beider Überzeugung gründete, die Intelligentesten der Klasse zu sein. Was nicht hieß, dass sie die besten Noten hatten – Tomás war zu faul und Amelia zu rebellisch –, aber sie brachten es ohne viel Mühe auf Achten und Neunen. Sie hatten eine deutlich schnellere Auffassungsgabe als ihre Mitschüler und stellten die klügsten Fragen – im Unterricht, aber auch sonst. Selbst innerhalb der Gruppe glaubte Tomás, dass seine Verbindung zu Amelia etwas Besonderes war. Angesichts Jaimes Übertreibungen, seiner mitunter heftigen Ausbrüche oder Marios Missgeschicken und Irrtümern wechselten sie verschwörerische Blicke und verstanden sich auch ohne Worte. Vielleicht gab es zwischen ihnen auch eine Art Seelenverwandtschaft, an der Mercedes ihren Anteil hatte. Amelias Mutter hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass ihr Tomás der liebste von Amelias Freunden war.

Doch in den letzten Wochen hatte er zunehmend Zweifel bekommen. Sowohl Jaime als auch Amelia hatten eine körperliche Wandlung durchlaufen wie sich häutende Schlangen, die plötzlich in noch schillernderen Farben erschienen. Ihr langer flacher Bauch bildete das perfekte Pendant zu seinem elastischen, muskulösen Rücken. Die ausgedehnten samstäglichen Sonnenbäder hatten auf ihren Körpern einen verführerischen Bronzeschimmer hinterlassen, während Mario und Tomás nur puterrot wurden. Die Hormone wirkten sich bei ihnen ganz unterschiedlich aus: Während seine beiden Freunde von einer sinnlichen Aura umgeben zu sein schienen, die ihren Bewegungen eine natürliche Eleganz verlieh, hatte er mit einer hartnäckigen Akne und einem noch immer kindlichen Körper zu kämpfen.

Als Tomás bei seinem Freund in der exklusiven Wohnsiedlung in Las Lomas ankam, teilte ihm Rámon, der Gärtner, mit, dass sich die anderen bereits am Pool befanden.

Das perfekte Bild, das Amelias knapper Bikini und Jaimes gestreifte Shorts zusammen abgaben, bestätigte seine schlimmsten Befürchtungen. Beide schienen sich in ihrem halb nackten Zustand absolut wohlzufühlen, als hätten sie die lästigen Kleider endlich hinter sich gelassen und könnten sich jetzt richtig entfalten, Amelia völlig ungezwungen, Jaime stolz und mit unverhohlenem Vergnügen. Tomás beschloss, das weite Dallas-Cowboys-T-Shirt für den Rest des Tages anzubehalten.

»Richard Burton wird mit fortschreitendem Alter immer attraktiver«, behauptete Amelia, ohne zu ahnen, dass Jaime ihr ihre Vorliebe für ältere Männer ein Leben lang vorwerfen würde.

»Du hast den Film doch noch gar nicht gesehen. Burton ist inzwischen alt und hässlich.«

»Welchen Film?«, fragte Tomás anstelle einer Begrüßung.

»1984, ich war letztes Wochenende im Kino. Der nach diesem Science-Fiction-Roman«, sagte Jaime.

»Von George Orwell«, präzisierte Tomás. Seine Miene hellte sich augenblicklich auf, das weite T-Shirt und die improvisierten Badeshorts waren vergessen. Er hatte 1984 vor weniger als einem Monat gelesen und war immer noch beeindruckt.

»Ja, genau. Aber der Film ist besser«, erwiderte Jaime.

»Woher willst du das wissen? Hast du das Buch denn überhaupt gelesen?«

»Nein, aber der Film ist sehr gut.«

»Weißt du noch, in Englisch? Als wir Romeo und Julia durchgenommen haben? Da hieß es, dass Literaturverfilmungen zwar manchmal ziemlich gut sind, dass sie aber, wenn das Buch ein Meisterwerk ist, nie an die Romanvorlage heranreichen«, dozierte Tomás.

»Ein Film verfügt über Schauspieler und Sound, das Buch nicht.«

»Ein Film dauert ungefähr eineinhalb Stunden. Für ein Buch brauchst du viel länger. Wenn du 1984 liest, lebst du am Ende in der Welt des Großen Bruders.«

»Hast du es gelesen?«, fragte Amelia.

»Ja, vor einer Weile«, antwortete Tomás beiläufig, als wäre es nur ein Buch von Tausenden.

»Und wovon handelt es?«

»Von der Kontrolle der Regierung über die Bevölkerung. Der ›Große Bruder‹ ist so was wie der Präsident. Er verlangt von seinem Volk die totale Verehrung. Ein Mann aber rebelliert aus Liebe zu einer Frau, und von da an geht alles den Bach runter.«

»Und der Roman spielt 1984? Warum das?«, fragte Amelia fasziniert.

»Genau«, erwiderte Tomás. »Der Autor hat das Buch vor ungefähr vierzig Jahren geschrieben und sich vorgestellt, dass es in der Zukunft, also heute, so sein könnte.«

»Na, da war dein Autor aber ganz schön auf dem Holzweg«, bemerkte Jaime spöttisch. »Miguel de la Madrid ist zwar sterbenslangweilig, aber kein bisschen wie der Große Bruder.«

»Es geht darin ja auch nicht um Mexiko. Ich glaube, er bezieht sich auf die kommunistischen Länder«, erklärte Tomás seinen Freunden, die Jaimes Vater zuwinkten, der vom Haus zu ihnen herüberkam.

Carlos Lemus war achtunddreißig, attraktiv und selbstbewusst, und er hatte die gleiche sonnengebräunte Haut wie Jaime und strahlend weiße Zähne. Er trug einen kurzen Schnurrbart, wie es gerade Mode war, und maßgeschneiderte Hemden und Anzüge. Er war Staatssekretär im Finanzministerium, nachdem er zuvor jahrelang die Leitung der mexikanischen Zollbehörden innegehabt hatte, eine Position, die ihm zu immensem Reichtum verholfen und durch die er sich mit gelegentlichen Gefälligkeiten in Sachen Einfuhrgenehmigungen mehr als ein paar dankbare Freunde gemacht hatte.

Während Carlos auf die Gruppe zuging, würdigte er mit einem diskreten Blick Amelia, die sich mehr und mehr in eine Schönheit verwandelte. Er hatte die Freundin seines Sohnes schon immer gerne gemocht. Seit sie mit sieben oder acht Jahren zum ersten Mal in sein Haus gekommen war, mit Zahnlücken und roten, abgewetzten Schuhen, hatte ihm das widerspenstige Mädchen gefallen. Aber jetzt, im Badeanzug, kam sie ihm plötzlich viel älter vor als ihre vierzehnjährigen Freunde.

»Na, Jungs, hallo, Amelia, worüber redet ihr?«, fragte er, während er sich mit einem Bier in der Hand auf einem der Liegestühle niederließ.

»Über den Roman von George Orwell, 1984«, antwortete Tomás.

Jaimes Vater wurde von den jungen Leuten sehr geschätzt, nicht so die Mutter, die aufgrund ihres stets vollen Terminkalenders nie ansprechbar war. Die mit Hotdogs oder Sandwiches und Limonade beladenen Tabletts, mit denen die Hausangestellte sie an deren Stelle jeden Samstagmittag reichlich versorgte, wurden allerdings mit großem Jubel in Empfang genommen. Don Carlos unterhielt sich gerne mit den Freunden seines Sohnes, während er zu Hause auf einen geschäftlichen Anruf oder Besuch wartete. Er hörte ihnen zu und provozierte sie gelegentlich, um sie zu hitzigen Diskussionen anzustacheln. Ihre Jugend weckte in ihm Erinnerungen an seine eigene Kindheit, die im Verlauf seiner hart erarbeiteten politischen Karriere fast in Vergessenheit geraten war.

»Ich habe mir den Film am Wochenende angeschaut«, sagte Jaime, aber sein Vater hörte ihm nicht zu. Don Carlos liebte seinen Sohn, aber der war so sehr darum bemüht, in seine Fußstapfen zu treten, dass der Vater es inspirierender fand, sich mit Amelia, Tomás oder selbst Mario auszutauschen.

»Habt ihr den Roman gelesen?«

»Ich ja«, antwortete Tomás. »Man kann ihn doch als Kritik am Kommunismus verstehen, oder?«, fügte er etwas weniger selbstbewusst hinzu, nun, da er sich in der Gegenwart eines Politikers befand.

»Mehr oder weniger«, sagte Carlos. »Eigentlich handelt es sich um eine Allegorie auf die individuelle Freiheit und den autoritären Staat. Orwell hat den Roman kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs geschrieben, als das Gespenst der gerade erst besiegten faschistischen Mächte noch allgegenwärtig war, und sicher mit einem besorgten Fingerzeig in Richtung der Gefahr, die von den kommunistischen Diktaturen ausgeht.«

Amelia lauschte Carlos’ Worten voller Bewunderung, aber sie hatte zu viele der politischen Lieder auf den Schallplatten ihrer Mutter gehört, um die Kritik am Sozialismus unkommentiert stehen zu lassen.

»Wenn es in dem Roman darum geht, ein System infrage zu stellen, dann handelt es sich doch eher um politische Propaganda, oder?«

»Gute Literatur, ganz egal, wovon sie handelt, ist nie Propaganda«, entgegnete der Hausherr mit einem Lächeln. »Ich mache euch einen Vorschlag«, fuhr er fort. »Ich schenke jedem von euch, der das Buch nicht in seinem Regal stehen hat, ein Exemplar, ihr lest es, und wenn wir uns das nächste Mal sehen, sagt ihr mir, ob ihr es für Propaganda haltet. Abgemacht?«

Die drei, die das Buch noch nicht kannten, willigten ein. Eine Hausaufgabe, und das in den Ferien.

»Ich lasse euch die Bücher besorgen. Wartet hier auf mich«, rief er, auf dem Weg zum Haus.

»Dein Vater ist echt klasse«, verkündete Mario, während Jaime vor Stolz auf seinen Vater fast platzte und Tomás in seinem Innern bedauerte, dass sein intellektueller Triumph so kurzlebig gewesen war.

»Für einen Politiker ist er nicht schlecht«, sagte Amelia und blickte ihm noch nach, als er bereits im Haus verschwunden war. »Mein Vater ist schwul«, bemerkte sie dann beiläufig.

Die Korrupten

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