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Montag, 25. November, 11.30 Uhr

Jaime und Tomás

Nachdem Mario gegangen war, suchte Tomás sein Handy, um nachzusehen, ob er neue Nachrichten hatte. Machte sich seine Tochter Jimena Sorgen um ihn? Hatte ihn jemand von der Zeitung angerufen? Doch der Akku war leer, und das Telefon hatte sich ausgeschaltet. Er schloss es ans Ladekabel an und stieg unter die Dusche. Während das Wasser auf ihn niederprasselte, fiel ihm eine Bemerkung wieder ein, die Jaime vor längerer Zeit einmal in Bezug auf Pamela Dosantos gemacht hatte, und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen: »Von der musst du dich fernhalten, die bringt dich nur in Schwierigkeiten.« Und tatsächlich saß er jetzt ihretwegen in der Patsche, obwohl er persönlich nie etwas mit ihr zu tun gehabt hatte.

Er erinnerte sich nur dunkel an seine erste und einzige Begegnung mit der Schauspielerin vor drei Jahren. Er war alleine auf der Hochzeitsfeier der Tochter seines Verlegers gewesen und hatte dort überraschend Jaime getroffen. Sie hatten sich beide aufrichtig über das Wiedersehen gefreut.

Jaime war es leid gewesen, den Saal nach wichtigen Persönlichkeiten abzusuchen, von denen entgegen seinen Erwartungen nur sehr wenige da waren. Die Braut hatte von ihrem Vater verlangt, dass die Hochzeit kein Tummelplatz für Politiker würde, kein Aufmarsch von Celebrities, die dem Medienmogul ihre Aufwartung machten. Tatsächlich war es den Brautleuten gelungen, mit knapp zweihundertfünfzig geladenen Gästen ein halbwegs privates Fest zu feiern, jedenfalls hatte Jaime diese Zahl irgendwo gehört. Er entdeckte Tomás mit einem Gläschen Tequila in der Hand gedankenversunken in einer Ecke des Saals.

Tomás hatte den Freund gar nicht kommen sehen; er sann mal über die Braut, mal über eine Gruppe von Redakteuren seiner Zeitung nach, die sich ein paar Meter weiter angeregt unterhielt. Er hatte ein paar Minuten mit ihnen zusammengestanden und sich dann zurückgezogen, weil er sich in ihrem Kreis unwohl gefühlt hatte. Das ist das Problem mit den fest angestellten Journalisten, sagte er sich. Sie stecken so tief im alltäglichen Nachrichtensumpf, dass ihre Gespräche ein eigenes Universum mit einer verschlüsselten Sprache darstellen, aus dem alle anderen Sterblichen ausgeschlossen sind.

Selbst wenn es um Politik ging – der Hinweis auf den Spitznamen eines Staatssekretärs oder den kleinen Skandal von vor zwei Tagen machte aus jeder lustigen Anekdote einen Insiderwitz. Tomás hatte sich von der Gruppe entfernt, als er sich dabei ertappte, wie er lauthals mitlachte, nur um sich nicht anmerken zu lassen, dass er schon seit Längerem mehr für den Sportteil übrighatte als für ihre intellektuellen Kolumnen über die Kapriolen der Gesellschaft.

Der eigentliche Grund für seine Niedergeschlagenheit aber war Claudia, die Braut. Niemand außer ihnen beiden wusste, dass sie einmal unter denkwürdigen Umständen eine Affäre gehabt hatten.

Einige Jahre zuvor hatte ihr Vater eine Reise in die Vereinigten Staaten unternommen, um sich mit den Verlegern der Washington Post und der New York Times zu treffen, die erst nach langem, raffiniertem Taktieren mit der mexikanischen Botschaft in Washington und großzügigen Spenden an den New Yorker Journalistenverband zustande gekommen war. Der Zeitungsbesitzer hatte eine Reisegruppe aus drei oder vier Mitarbeitern zusammengestellt, von denen mindestens eine Person fließend Englisch sprechen sollte. Da keiner der leitenden Redakteure diese Auflage erfüllte, hatte der Verleger, zumal unter Zeitdruck, Tomás eingeladen, der lediglich als freier Journalist für die Zeitung arbeitete. Zur Entourage zählte auch seine Tochter Claudia, die dem Wunsch ihres Vaters, ins Mediengeschäft einzusteigen, nie nachgekommen war und stattdessen ihren Doktor in Kunstgeschichte gemacht hatte. Sie wollte sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, die legendäre Eigentümerin der Post, Katharine Graham, persönlich kennenzulernen. Die Besuche der beiden Zeitungen entwickelten sich zu einem sechstägigen Schlemm- und Saufgelage, zuerst im Plaza Hotel in New York, dann im Four Seasons in Washington. Der Verleger war extrem großzügig und kannte sich in beiden Städten bestens aus. Entschlossen übernahm er die Rolle des privaten Stadtführers für seine Angestellten und unterwarf sie einem straffen Zeitplan, auf dem neben offiziellen Besuchsterminen und ausgedehnten Abendessen mit den amerikanischen Kollegen auch diverse Broadway-Shows standen. In diesem Umfeld entwickelte sich zwischen Claudia und Tomás eine natürliche Komplizenschaft, die auf dem kulturellen Defizit der restlichen Truppe beruhte. Angesichts der spärlichen Englischkenntnisse des Verlegers, den niemand zu verbessern wagte, sowie der gewaltigen Fauxpas des Chefredakteurs im Bereich Kunst und Malerei wechselten die beiden jungen Leute den einen oder anderen verschwörerischen Blick. Am dritten Tag klopfte sie an die Tür seines Hotelzimmers: »Ich hätte da mal ein paar Fragen zu Bacon.«

Für den Rest der Reise schlich sie sich nachts heimlich in Tomás’ Suite, wobei sie einander immer wieder beteuerten, dass die Sache zwischen ihnen nur eine kleine Episode war. Sie führte zu Hause in Mexiko eine feste Beziehung, die voraussichtlich in eine Ehe münden würde, und sein Liebesleben war in höchstem Maße unbeständig, dafür aber umso aufregender. Dennoch fühlte sich Tomás geschmeichelt. Mehr als einmal dachte er in diesen kurzen Nächten, wenn Claudia neben ihm schlief, dass es in seinem Leben ab jetzt nur noch bergab gehen könne. Was seine Männlichkeit betraf, erlebte er gerade seine glorreichen fünfzehn Minuten. Claudia war nicht nur die einzige Tochter eines der einflussreichsten Männer des Landes, sie war auch eine echte Schönheit, und vor allem besaß sie eine entwaffnende und äußerst ansteckende Heiterkeit. Ihr spontanes, aufrichtiges Lachen und die vor Intelligenz sprühenden Augen machten sie für ihn zur perfekten Gesprächspartnerin. Und dann war da noch ihr Hintern: Ihre kubanische Herkunft mütterlicherseits sorgte dafür, dass sie in den New Yorker Bars und Restaurants sämtliche Blicke auf sich zog.

Nach ihrer Rückkehr gingen sie mit dem Gefühl auseinander, dass es zwischen ihnen eigentlich noch etwas zu sagen gegeben hätte. Und vielleicht wäre es sogar dazu gekommen, wenn Tomás nicht so fest davon überzeugt gewesen wäre, dass er lieber mit der Erinnerung an diese einmalige Woche mit Claudia weiterleben wollte, als sie mit seiner enttäuschenden Alltäglichkeit zu konfrontieren.

Wochen später fragte er sich immer noch, ob er jemals der selbstsichere, schlagfertige und hochkultivierte Mann werden könnte, den er vor Claudia gespielt hatte. Monatelang träumte er von der Möglichkeit, sich gänzlich in sein New Yorker Alter Ego zu verwandeln. Schließlich aber fand er sich damit ab, dass das alles Maskerade gewesen und er nur aufgrund des begrenzten Zeitraums und der günstigen Umstände nicht aufgeflogen war. Ein Teil von ihm glaubte, dass auf dieser Reise etwas entstanden war, das zu einer ernsthaften Paarbeziehung hätte führen können, doch in seinem tiefsten Innern wusste er, dass er sie früher oder später enttäuscht hätte. Dies war der Grund, warum er zwei Wochen nach ihrer Rückkehr aus den USA nicht auf die Nachricht reagierte, die Claudia auf seinem Anrufbeantworter hinterließ: ein vorsichtiges »Ruf mich an, wenn du kannst«. Sie hatten sich danach nicht mehr wiedergesehen. Soweit er wusste, hatte sonst niemand von dem Intermezzo erfahren.

Am Abend der Hochzeit, als er wehmütig die Sommersprossen in Claudias Dekolleté und ihre spektakulären Kurven betrachtete, tröstete ihn der Gedanke, dass er sich lieber geschmeichelt fühlen sollte, als in Selbstmitleid zu versinken – ganz sicher wäre er von den meisten Männern im Saal beneidet worden, und von nicht wenigen Frauen.

Das war der Moment, in dem Jaime ihn ansprach. Jemand, dem ich die Sache mit Claudia auf keinen Fall erzählen kann, war Tomás’ erster Gedanke, aber er freute sich wirklich, den Freund zu sehen. Jaime erinnerte ihn an die Zeit, als die Zukunft noch offen war und das Leben eine riesige Spielwiese, auf der jeder seine Möglichkeiten voll entfalten konnte. Auch wenn das in seinem Fall nicht passiert war, erinnerte er sich immer noch mit einem warmen Gefühl an die frühen Jahre ihrer Freundschaft. Unter anderem bewunderte er Jaime dafür, dass er – anders als er selbst – der »Architekt seiner eigenen Zukunft« gewesen war, wie die Lehrer im Colegio Madrid es genannt hatten.

Was ihre Erscheinung, ihr Verhalten und ihre Lebenseinstellung betraf, so hätten die beiden kaum gegensätzlicher sein können. Jaime trug einen Designer-Smoking und italienische Schuhe, deren Wert in etwa Tomás’ Monatsgehalt entsprach. Sein vornehmes Auftreten und der elegante, penibel gestutzte Schnurrbart erinnerten an das Klischee eines Latin Lovers aus dem Hollywood der Fünfzigerjahre, aber niemand hätte es gewagt, sich über ihn lustig zu machen. Jaime hatte eine ungeheure physische Präsenz, und wenn sein Gegenüber davon noch nicht eingeschüchtert war, dann von seinem Respekt oder gar Furcht einflößenden Blick, obwohl er eigentlich immer lächelte.

Tomás trug lustlos seinen schwarzen Hugo-Boss-Anzug, der zwar seine besten Zeiten bereits hinter sich hatte, aber noch immer das Herzstück seines Kleiderschranks war. Seine nachlässige Kleidung passte in gewisser Weise zu dem krausen, halb ergrauten Haupthaar. Amelia hatte Tomás’ Blick einmal als wässrig bezeichnet, und alle wussten irgendwie, was sie gemeint hatte. Er selbst tröstete sich mit der Auslegung, dass er sie zu Tränen rührte oder sie intellektuell nährte wie eine Pflanze, die gewässert wurde, aber Jaime sah darin eher eine Anspielung auf die instabile Gemütslage seines Freundes. Bei Tomás musste man jeden Moment damit rechnen, dass er den Blick von seinem Gesprächspartner abwandte und ihn auf seine Fußspitzen heftete oder seine Aufmerksamkeit auf die Wolken am Himmel richtete.

»Von der musst du dich fernhalten«, sagte Jaime anstelle einer Begrüßung. »Die bringt dich nur in Schwierigkeiten.«

»Wer?«, antwortete Tomás mit einem Grinsen.

Dass Jaime in Rätseln sprach, war nichts Neues. Tomás folgte Jaimes Blick und verstand, worauf dieser sich bezog. Keine drei Meter von ihnen entfernt stand die Schauspielerin Pamela Dosantos, eine Brünette mit auffälligen Kurven in einem Kleid, das zu eng war, um geschmackvoll zu sein. Aber sie trug es mit dem unerschütterlichen Selbstbewusstsein einer Frau, die wusste, dass sie begehrt wurde.

Jaime ließ ein paar Bemerkungen zum bewegten Liebesleben der angeblich von zahlreichen mächtigen Männern des Landes heiß umkämpften Leinwandgröße fallen, doch Tomás hörte schon nicht mehr richtig zu, auch weil ihm bewusst war, dass diese professionelle Schönheit in einer völlig anderen Liga spielte als er.

Jetzt, drei Jahre später, versuchte er sich verzweifelt zu erinnern, was Jaime ihm über die Frau erzählt hatte, deren Körper sich derzeit im Leichenschauhaus befand. Doch die einzige Erinnerung war die an den langen ironischen Blick, den Claudia ihm zugeworfen hatte, bevor sie durch die Saaltür in ihre Hochzeitsnacht entschwunden war. Diese Sache ist noch nicht vorbei, hatte Tomás damals gedacht und sich an das Fünkchen Hoffnung geklammert, dass es in seinem Leben eine Chance auf weitere glorreiche fünfzehn Minuten geben könnte. Nichts dergleichen war in den folgenden drei Jahren geschehen, außer dass ihm die Dosantos nun doch noch in die Quere gekommen war – wenn auch als Leiche.

Nachdem er aus der Dusche gekommen war, überprüfte er sein Handy. Die Nummern mehrerer Anrufer endeten mit 2000, das konnten nur die Zentralen irgendwelcher Radiosender sein. Wahrscheinlich wollte man Interviews mit ihm. Bei der Durchsicht des Nachrichteneingangs kam er gerade einmal bis zur zweiten SMS. Die erste war ein Schlag in die Magengrube, die zweite bereitete ihm Herzklopfen.

»Deine Tage sind gezählt, Arschloch.« Als Absender wurde Marios Handynummer gezeigt. Sofort rief er seinen Freund an und fragte ihn, ob der ihm eine Nachricht geschickt habe. Als Mario verneinte, war Tomás umso besorgter. Nur ein Profi, dem eine hoch entwickelte Technologie zur Verfügung stand, war in der Lage, eine SMS von einem fremden Telefon aus zu verschicken.

Die zweite Nachricht stammte von einer unterdrückten Nummer. »Was sollst du mit den Dallas Cowboys machen? Hier, jetzt!«

Das konnte nur Amelia sein, sagte er sich. Offensichtlich hatte sie diesen schrecklichen und erniedrigenden Satz von Jaime nicht vergessen: »Komm ins Becken, aber zieh dir dieses dämliche Dallas-Cowboys-T-Shirt aus und tu’s bei der Gelegenheit mal in die Wäsche.« Selbst nach fast dreißig Jahren fiel es ihm nicht schwer, die Bedeutung der Nachricht zu entschlüsseln: Amelia erwartete ihn auf der Dachterrasse der Waschküche, eine Einladung, die nur sie beide verstanden.

Er freute sich, dass er frisch geduscht war, und zog sich seine beste Unterwäsche an. Ganz gleich, wie sein Beziehungsstatus gerade aussah, nichts würde ihn je daran hindern, von der Möglichkeit zu träumen, doch noch einmal ein Liebesverhältnis mit Amelia zu haben.

Tomás eilte die vier Stockwerke zur Waschküche hinauf. Seine Freundin hatte den Ort gut gewählt: Vier verschiedene Treppenaufgänge hatten Zugang zu der Dachterrasse und boten mögliche Wege nach draußen. So konnte sie sich mit ihm treffen und das Haus dann über eine der Seitenstraßen, die den Häuserblock umgrenzten, wieder verlassen. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als er die riesige Fläche voller Wäscheleinen betrat, die wegen der gnadenlos vom Himmel brennenden Mittagssonne menschenleer war.

Seine Begeisterung erstarb in dem Moment, als er Jaime erblickte, der gegen einen Wassertank gelehnt dastand und ihn mit seinem schiefen Grinsen begrüßte. Er sah erfrischt und absolut entspannt aus, als wäre er auf einer Sonnenterrasse des Country Club und nicht auf dem Dach einer Waschküche, umgeben von Laken, die in der Sonne bleichten, und Wänden, von denen der Putz bröckelte. Wie ist er bloß auf die Sache mit dem Dallas-Cowboys-T-Shirt gekommen?, fragte sich Tomás, enttäuscht, dass es nicht Amelia war.

»Du musst an deiner Fitness arbeiten, die Zigaretten bringen dich noch um«, empfing Jaime ihn mit belustigter Miene.

Wie seltsam, dachte Tomás, als ihm bewusst wurde, dass er gerade erst vor wenigen Minuten im Zusammenhang mit Claudias Hochzeit an Jaime gedacht hatte. Seit damals hatte er ihn nicht mehr gesehen. Er erinnerte sich vage an zwei Telefonate, die sie in der Zwischenzeit geführt hatten. Einmal, als die große Schwester seines Freundes gestorben war, an deren Beerdigung Tomás nicht hatte teilnehmen können, weil er zu spät davon erfahren hatte. Das andere Mal war vor einem halben Jahr gewesen, als Jaime aus mysteriösen Gründen bei ihm angerufen hatte. Ohne zu erfahren, worum es eigentlich ging, hatte er Jaime versprechen müssen, dass er niemals zögern würde, ihn um Hilfe zu bitten, falls er etwas brauchte – Geld zum Beispiel. Der Anruf fiel genau in die Zeit, in der Tomás extrem knapp bei Kasse gewesen war und man ihm alle Kreditkarten gesperrt hatte.

Zögerlich ging er auf Jaime zu. Es würde kein einfaches Gespräch werden. Sein Freund vermittelte ihm immer das Gefühl, er wüsste noch etwas, das er für sich behielt, und dabei war es ganz egal, worum es ging. Es waren asymmetrische Dialoge mit ungleichen Voraussetzungen. Aber Tomás hatte keine andere Wahl: Er war bereit, sich an jeden Strohhalm zu klammern, auch wenn er dafür noch einmal mit den unangenehmen Gefühlen aus seiner Jugend konfrontieren wurde.

Zum Glück schien Jaime es eilig zu haben. Er umarmte ihn wortlos und kam dann sofort zur Sache. »Dass du noch im Land bist, kann nur bedeuten, dass du etwas zu deiner Verteidigung in der Hand hast.«

»Ich habe keine Ahnung, warum ich noch hier bin. Ich weiß ja nicht mal, in welcher Art von Schlamassel ich stecke – und wie tief. Ich hatte gehofft, du könntest mir da vielleicht auf die Sprünge helfen.«

»Bis zum Hals steckst du drin. Mindestens. Aber jetzt erzähl erst mal, warum du diese Info veröffentlicht hast. Von wem hattest du sie überhaupt?«

Tomás dachte, dass es so typisch für Jaime war, sofort Informationen haben zu wollen, ohne im Gegenzug etwas dafür anzubieten; allerdings konnte sein alter Freund ihm eine unschätzbare Hilfe sein. In den folgenden fünf Minuten erzählte er ihm alles, was er wusste.

»Am Samstag habe ich mit dem Anwalt Raúl Coronel zu Mittag gegessen. Ganz zufällig kam das Gespräch auf den Skandal des Tages, und da hat er mir unter Berufung auf Polizeiquellen den Tatort verraten. Er hat das zwar als exklusive Information bezeichnet, doch ohne dem Ganzen allzu viel Bedeutung zu verleihen. Am darauffolgenden Tag musste ich meine Kolumne schreiben, aber ich hatte Jimena versprochen, mit ihr ins Kino zu gehen, und du weißt ja, wie ihre Mutter sich aufregt, wenn ich nicht pünktlich bin. Ich schrieb also unter Zeitdruck die Kolumne, und da baute ich das Detail ein, weil ich fest davon ausging, dass es, wenn Coronel schon Bescheid wusste, inzwischen längst unter den Polizeiberichterstattern bekannt war.«

Tomás konnte sich nicht zu dem Geständnis durchringen, dass nicht eine Verabredung mit seiner Tochter ihn in diese Zwangslage gebracht hatte, sondern ein feuchtfröhlicher Abend im La Flor del Son. Sein Fehltritt war auch so schon schlimm genug.

»Scheiße, Mann, die haben dich reingelegt«, sagte Jaime nachdrücklich und ohne Raum für Spekulationen zu lassen.

»Erzähl mir was Neues. Das wusste ich schon, als dieser Scheißtag heute angefangen hat«, erwiderte Tomás verärgert.

»Okay, ich habe keine Ahnung, warum sie Pamela ermordet haben, und ich weiß auch nicht, wer es getan hat, zumindest noch nicht. Aber die Art, wie sie dich für ihre Zwecke missbraucht haben, könnte ein erster Anhaltspunkt sein: Raúl Coronel ist mit einigen der mächtigsten PRI-Politikern des Landes verbandelt, obwohl er mit verschiedenen Strömungen schwimmt. Es wird also nicht ganz einfach sein, die Hand an der Wiege zu finden. Und als wäre das nicht schon genug, ist er auch noch in ein paar Tourismusprojekte in Los Cabos und Puerto Peñasco verwickelt, die einen Haufen Staub aufwirbeln.«

»Und was hat das mit dem Fall Dosantos zu tun?«

»Alles oder nichts. Das werden wir noch sehen.«

Während der nächsten halben Stunde überlegten sie sich eine Strategie, wie der Situation möglichst schnell und mit allen verfügbaren Mitteln beizukommen sei. Jaime bestand darauf, dass Tomás sich an die Zeitung wandte. El Mundo war nach wie vor die Zeitung mit dem größten Gewicht im Politikbetrieb.

»Es ist wichtig, dass sie sich nicht von dir distanzieren«, sagte er. »Jeder potenzielle Angreifer wird es sich zweimal überlegen, dir ans Leder zu gehen, wenn er damit rechnen muss, dass es als ein Anschlag auf die Zeitung gewertet wird.«

Tomás stimmte ihm widerwillig zu. Für den neuen Verlagsleiter Alfonso Palomar hegte er wenig Sympathien, aber es war auch nicht so, dass sie sich feindselig gegenüberstanden. Palomar nahm seine Beiträge resigniert hin. Er hielt nicht viel von Tomás’ Kolumnen, ging aber davon aus, dass der Journalist mehr Schaden anrichten könnte, wenn er für die Konkurrenz arbeitete.

»Die beste Strategie, um dich vor Widersachern zu schützen, wird sein, die Kosten auf politischer Ebene zu erhöhen. Wegen Salazar selbst mache ich mir gerade weniger Sorgen, schon eher kommt einer seiner Untergebenen auf die Idee, seinem Boss einen Gefallen zu tun, indem er dir einen Denkzettel verpasst.«

»Dann wäre es vielleicht das Beste, wenn ich für ein paar Tage untertauche, bis sich der Sturm wieder gelegt hat.«

»Im Gegenteil. Du musst dir jetzt wichtige Verbündete suchen. Aktiviere deine Freundschaften mit anderen Journalisten und Moderatoren. Bist du noch mit Carmen Aristegui befreundet? Sie soll dich unter irgendeinem Vorwand in ihre Sendung einladen. Ihre Einschaltquoten sind nach wie vor die besten im Morgenprogramm, oder?«

»Aber wenn ich noch tiefer in diese Sache einsteige, wollen sie mich doch erst recht zum Schweigen bringen – und dann auch um jeden Preis. Außerdem weiß ich überhaupt nichts über den Mord an der Dosantos. Hatte sie wirklich eine Beziehung mit Salazar?«

»Die Idee ist nicht, dass du weiter darüber schreibst. Aber es wäre durchaus von Vorteil, wenn dein nächster Artikel richtig einschlagen würde, irgendeine Enthüllung von breitem öffentlichem Interesse. Damit stündest du erneut im Scheinwerferlicht – der beste Schutz überhaupt.«

Tomás gefiel der Gedanke, dass seine Kolumnen wieder für politischen Zündstoff sorgen würden, wie sie es vor zehn Jahren eine Weile lang getan hatten. Er hatte seit Langem keine nennenswerte Exklusivmeldung mehr gehabt, außer natürlich der aktuellen, mit der er sich jetzt in die Nesseln gesetzt hatte.

»Mach dir keine Vorwürfe«, tröstete ihn Jaime, der seinen Kummer erriet. »Der Hinweis auf den Dosantos-Tatort war einfach zu gut, um ihn zu ignorieren. Hör zu, ich werde dir Material für eine gute Story besorgen, die die nächsten Wochen gut abdeckt. Du wirst der meistgelesene Kolumnist im Land sein.«

Tomás nickte erleichtert, obwohl er sicher war, dass Jaime ihn damit auch für seine eigene politische Agenda einspannte, deren Ausrichtung er nicht kannte. Und wieder einmal werden wir uns gegenseitig ausnutzen, dachte Tomás, und eine schmerzhafte Erinnerung an Amelia stieg in ihm hoch.

»Schließen wir vorerst aus, dass du das Land verlassen musst, aber ich rate dir, Visum und Reisepass trotzdem immer bei dir zu haben.« Jaime griff in die Tasche seines Sakkos und zog einen verschlossenen Umschlag heraus, in dem sich unverkennbar ein beachtliches Geldbündel befand. »Und das hier, nur für den Fall.«

Tomás bedankte sich für die Geste, wies das Angebot jedoch mit festem Blick zurück. Er widerstand der Versuchung, die Summe in dem Umschlag zu schätzen. Nur ganz kurz gab er sich dem Gefühl von Erleichterung hin, das er schon bei der bloßen Vorstellung empfand, sich für einige Monate ans Mittelmeer abzusetzen.

Jaime steckte den Umschlag zurück in die Sakkotasche, und das Lächeln, das dabei um seine Lippen spielte, ärgerte Tomás.

Gut möglich, dass sie mir in ein paar Stunden eine Kugel durch den Kopf jagen, aber hier sind wir, wie eh und je, und spielen uns auf wie zwei Alphamännchen, dachte er und erinnerte sich an eine entsprechende Bemerkung von Amelia.

»Wir sehen uns morgen Abend, und ich bringe dir was für deine nächste Kolumne mit. Sag Amelia und Mario Bescheid, dass sie auch kommen sollen. Bis dahin haben wir einen Überblick über die Situation und können besser beraten, wie wir in der Sache weiter vorgehen. Um zehn Uhr im Café des Reina Victoria auf dem Paseo de la Reforma, okay?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, klopfte ihm Jaime zum Abschied auf die Schulter und ging in Richtung eines der hinteren Treppenhäuser davon. Tomás blickte ihm nach und wurde sich plötzlich bewusst, wie sehr Jaime seinem Vater ähnelte: die entspannte, selbstsichere Art, sich zu bewegen, und die natürliche Eleganz, die er ausstrahlte, selbst wenn er einfach nur ruhig dastand. Ein plötzlich aufsteigender Ärger brannte ihm in der Kehle.

Die Korrupten

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