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Dienstag, 26. November, 10.00 Uhr

Tomás und Carlos

Tomás war beeindruckt. In den zwanzig Minuten seiner Wartezeit hatte Lemus’ Sekretärin Esther ihrem Chef vier Anrufer durchgestellt: einen Gouverneur, einen Staatssekretär des Finanzministeriums und zwei Unternehmer, die auf der Forbes-Liste der reichsten Menschen der Welt standen, die Eigentümer von Banorte und der Warenhauskette El Palacio de Hierro.

Esther empfing Tomás überschwänglich und nahm ihn mit in ihr Büro, anstatt ihn zwischen den pittoresken Vulkanen von Dr. Atl warten zu lassen, die an den Wänden des riesigen Wartebereichs prangten. Tomás wurde wieder einmal bewusst, wie sehr er die Sekretärin mochte, eine alleinstehende Frau in ihren Fünfzigern, effizient und organisiert, aber kein bisschen langweilig. Sie behauptete immer, dass sie nur deshalb nicht geheiratet hätte, weil sie nicht von den Launen eines Mannes abhängig sein wollte. Außerdem glaubte sie fest daran, dass die Monogamie nichts für sie war. Meistens verliebte sie sich in Musiker, Poeten, Kellner und andere Nachtgestalten, die früher oder später wieder aus ihrem Leben verschwanden. Sie prahlte gerne ein bisschen damit, anstelle von Porzellanfiguren Erinnerungsstücke aus ihren Beziehungen zu sammeln. Ein Vitrinenschrank in ihrem Wohnzimmer stellte in treffender Weise die exzentrische Natur ihrer Beziehungen zur Schau: Da waren ein schwarzer Sonnenhut mit einer langen Feder, ein Stiefel mit roten Farbklecksen, eine Silbernadel zur Aufbewahrung von Geldscheinen mit der Inschrift »Für Frauen und Feste, der Rest kann verschwendet werden« und sogar ein aus Holz geschnitzter Penis von einem eitlen Ex-Liebhaber.

Esthers Aufmachung sagte alles: Sie trug einen langen, taillierten Rock mit weinrotem Gürtel, Netzstrumpfhosen und auffällige rote Absatzschuhe, eine weiße durchsichtige Bluse und einen BH mit schwarzer Spitze. Ihr Haar war derzeit kohlrabenschwarz, aber Tomás hatte sie schon mit roten, weißen und blonden Haaren gesehen. Ihr Make-up war tadellos, obwohl sie damit eher in eine Bar gepasst hätte als in ein Büro mit Möbeln aus Mahagoni und weichen Teppichen. Sie war nicht schön, aber sie hatte ein umwerfendes, spontanes Lachen, und ihre großen Zähne waren stets umrahmt von dunkelrot geschminkten Lippen.

»Hallo, Tomás, gut siehst du aus! Du bist der erste Blaue, den ich seit Langem zu Gesicht bekomme.«

»Das Kompliment kann ich nur zurückgeben, Esther! Wie läuft es mit deiner Sammlung? Wächst sie weiter, oder gibt es einen Glücklichen, der deine Vitrine jetzt in Beschlag genommen hat?«, erkundigte sich Tomás, der wusste, dass das ein Lieblingsthema von ihr war.

»Im letzten Jahr ist eine Polaroidkamera dazugekommen, die mir ein Kollege von dir hinterlassen hat, und ein Morgenmantel à la Mauricio Garcés in Bischofslila, einfach göttlich. Inzwischen glaube ich, dass mich das Andenken mehr interessiert als der Mann selbst«, sagte Esther lachend.

Tomás lachte mit. »Glaub mir, die meisten Geschiedenen, die ich kenne, haben schlechtere Souvenirs von ihren Ex-Männern. Ich frage mich, was du von mir in deine Sammlung aufgenommen hättest, wenn ich an deiner Vitrine vorbeigekommen wäre.«

»Das wissen nur die, die vorbeikommen – und manchmal nicht einmal sie«, erwiderte sie kokett.

Wenn es nicht um Büroangelegenheiten ging, waren die Gespräche mit Esther meist unterhaltsam erotisch, aber nie obszön. Bett und Schreibtisch hatte sie seit jeher kategorisch getrennt, doch Tomás war sich sicher, dass die Sekretärin schon ihr halbes Leben lang in ihren Chef verliebt war.

Er musterte sie liebevoll. Statt an der Unmöglichkeit ihrer Liebe zu verbittern, hatte sie sich damit abgefunden, Montag bis Freitag tagsüber mit dem Mann zu verbringen, den sie liebte, und die Nächte und Wochenenden mit vielen anderen, die sie nicht liebte. Mitleid stieg in ihm hoch, verflog aber sofort wieder, als die Sekretärin anfing, eine fröhliche Melodie zu summen. Vielleicht ist diese Frau in ihrem Leben glücklicher als wir alle, sagte er sich.

Seine Gedanken über Esthers Lebensglück wurden jäh unterbrochen, als sich die Flügeltüren zu Carlos Lemus’ Büro öffneten und ein Klavierkonzert von Brahms das kleine Empfangsbüro erfüllte.

»Hallo, Tomás, wie schön, dich zu sehen!«

»Ganz meinerseits, Don Carlos, vielen Dank, dass Sie sich für mich Zeit nehmen.«

»Wenn du mich weiterhin siezt, ist das Gespräch jetzt schon beendet«, sagte der Anwalt und zog Tomás an der zum Gruß ausgestreckten Hand in eine herzliche Umarmung. »Komm rein«, fügte er hinzu.

Wie ferngesteuert folgte Tomás dem mit energischen Schritten vorangehenden Anwalt, bis er in einem Ledersessel in einer Ecke des Büros zu sitzen kam. Sein Gastgeber nahm gegenüber von ihm, auf der anderen Seite eines Schachtischchens, Platz. Aus irgendeinem Grund war der Journalist dankbar, dass es kein Schreibtisch war, der zwischen ihnen stand.

»Kaffee, Tee? Etwas Stärkeres?«

»Danke, Carlos, ich möchte gerade gar nichts.«

»Es freut mich wirklich, dich zu sehen, Tomás. Bald gehen wir mal zusammen essen, du und ich, und plaudern über das Leben, die Politik und die Frauen, aber heute werde ich dich nicht mit meinem Geschwätz aufhalten. Amelia hat gestern Abend mit mir über deine Situation – auch die versuchte Entführung – gesprochen und darüber, wie ich euch vielleicht helfen kann.«

Die Neuigkeiten gefielen Tomás überhaupt nicht. Schon wieder sind sie Komplizen, dachte er. Carlos hatte sich erst kurz nach Mitternacht von Amelia verabschiedet, ein Telefonat zu so später Stunde sagte eine Menge über das Maß an Vertrauen und Intimität zwischen seiner Freundin und dem Anwalt.

»Hoffentlich hat sie das über eine sichere Verbindung getan«, bemerkte Tomás verärgert.

»Zu hundert Prozent abhörsicher, da mach dir mal keine Sorgen.«

Die Antwort beruhigte Tomás kein bisschen. Hatten sie sich persönlich getroffen? In den frühen Morgenstunden?

»Ich stimme mit eurer Strategie überein«, fuhr Lemus fort. »Sieh zu, dass alle über deine Kolumnen reden und du in den Medien präsent bist, sprich: Erhöhe den Preis für den Fall, dass jemand dir etwas anhaben will.«

»Genau das ist meine Absicht. Ich habe ein paar Themen im Gepäck, die für viel Aufregung sorgen dürften«, sagte Tomás und dachte an Jaimes Versprechen, ihm am Abend den Stoff für eine mediale Bombe zu liefern. Außerdem vertraute er darauf, Amelias Informationen über die Pipelines von PEMEX ausschlachten zu können.

»Gut. Dich in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stellen, wird dein bester Schutz sein. Aber ich würde gerne noch über den zweiten Teil der Strategie mit dir sprechen, darüber, dass ihr die Sache als Waffe gegen Salazar einsetzen wollt. Das ist ein ganz anderes Kapitel, und ich würde gerne deine Meinung dazu hören.«

Tomás lächelte. Er musste daran denken, wie oft Jaimes Vater sie in ihrer Jugend mit ähnlichen Sprüchen zur Diskussion angestachelt hatte. Die Gespräche endeten dann jedes Mal mit einem langen Plädoyer des Anwalts, das sie meist aufgewühlt zurückließ, aber dafür wussten sie über die Sache am Ende gut Bescheid. Der Journalist hoffte, diesmal besser abzuschneiden.

Er ließ sich mit seiner Antwort Zeit und war erneut dankbar für das Schachtischchen, das zwischen ihnen stand. Die schmiedeeisernen Figuren stellten Persönlichkeiten des Unabhängigkeitskrieges dar: auf der einen Seite Hildalgo und La Corregidora, auf der anderen die spanischen Könige. Er saß auf der Seite der Aufständischen, Lemus auf der der Königstreuen. Tomás schöpfte Mut aus dem Gedanken, dass die Rebellen den Sieg über die Krone davongetragen hatten, auch wenn Hidalgo am Ende hingerichtet worden war.

»Ich bin bereit, das Risiko einzugehen. Was Präsident Prida und sein Superminister Salazar dem Land antun wollen, ist unverzeihlich. Die Monopole, die Medien und sogar die Organisierte Kriminalität werden zwar durch das Präsidialsystem wieder in geordnete Bahnen gelenkt, aber dadurch wird man sie keineswegs besser im Griff haben, sondern sie werden mit dem neuen Hausherrn super zurechtkommen. Wir aber werden diese Entwicklungen teuer bezahlen, und zwar mit einem Rückschritt um zwanzig Jahre, was die bürgerlichen Freiheiten und die demokratischen Räume betrifft. Wenn uns der Skandal also helfen kann, das Ganze gegen die Wand zu fahren, bin ich entschlossen, es bis zur letzten Konsequenz durchzuziehen.«

Tomás war von seiner Vehemenz selbst überrascht. Die halbe Nacht lang hatte er über seinen jüngsten Bekanntheitsgrad nachgedacht und über die Verantwortung, die ihm in den Schoß gefallen war, ohne dass er darum gebeten hatte. Doch erst jetzt, von Lemus auf subtile Weise herausgefordert, wurde er sich seiner Entschlossenheit bewusst.

»›Bis zur letzten Konsequenz‹ sind sehr starke Worte, Tomás.«

»Ich werde weder der Erste noch der Letzte sein. Seien wir ehrlich, Carlos, mein Leben war in den letzten Jahren die reinste Zeitverschwendung. Ich habe es satt, darüber nachzugrübeln, was ich alles hätte sein können und nicht geworden bin, damit ist jetzt Schluss. Und ich werde auch den wichtigen Roman, wie ich es mir vor fünfzehn Jahren eingebildet habe, nicht schreiben. Lange genug habe ich mich in Zynismus und Nachlässigkeit geübt. Weitere zwanzig Jahre von einer Affäre in die nächste zu schlittern und die Nacht zum Tag zu machen, bis meine Leber den Geist aufgibt, ist kein Plan A, an dem ich um jeden Preis festhalten muss, oder?«

Carlos blickte ihn neugierig an. Dann wanderte sein Blick zu dem Schachbrett, als überlegte er, ihm vonseiten der Krone vehement Schach zu bieten. In gewisser Weise tat er genau das.

»Ich habe seit jeher mehr von dir gehalten als du selbst, und es stimmt, dass dein Mangel an Selbstvertrauen deinem Talent immer wieder geschadet hat. Ich habe in all den Jahren keine Kolumne von dir verpasst; die wachsende Lustlosigkeit und Schlamperei deiner Arbeit in der letzten Zeit ist mir nicht entgangen. Dennoch haben deine Texte diesen ganz besonderen, ehrlichen Blick auf die Welt nie verloren, der sicher auch ein Spiegel deiner fehlenden Gewissheiten ist. Du gehst durch die Welt wie ein Außerirdischer, der zum ersten Mal auf der Erde ist und vorsichtig den Boden betritt, weil er sich unsicher über die Auswirkungen ist. Du fragst dich bei jedem Menschen, dem du begegnest, wie du dich verhalten sollst, als hättest du die Codes, die es zwischen den Erdenbewohnern gibt, noch nicht entziffert. Ich habe den Eindruck, dass du dich hinter deiner Trägheit und Gleichgültigkeit versteckst, weil du dich in deinem Körper und im Leben der anderen nicht zurechtfindest.«

»Und das alles erkennst du an meinen Texten? Ich werde sie wohl noch mal lesen müssen«, erwiderte der Journalist. Es war das Erstbeste, was ihm in den Sinn kam.

Der vertrauliche Ton, den das Gespräch angenommen hatte, machte ihn nervös. Er rutschte in seinem Sessel hin und her und bedauerte, nicht um ein Glas Wasser gebeten zu haben. Er fühlte sich entblößt. Und er war sich nicht sicher, ob das Bild, das der Anwalt von ihm hatte, wirklich auf ihn passte. Aber das versteckte Lob schmeichelte ihm auch. Also hatten nicht nur Jaime und Amelia in ihrer jugendlichen Eitelkeit um Carlos Lemus’ Anerkennung gebuhlt, bewusst oder unbewusst hatte auch er um seine Gunst geworben. Ihm fielen all die Bücher wieder ein, die er in der Hoffnung gelesen hatte, sie in Carlos’ Gegenwart einmal zitieren zu können.

»Wenn dein Plan A so wenig vielversprechend ist, wie lautet dann dein Plan B?«

»Ich muss genau dokumentieren, inwiefern Salazar in den Mord an der Dosantos involviert ist. Bevor ich darüber nachdenke, in seine Richtung zu schießen, muss ich erst einmal sicherstellen, dass wir auch Munition haben, meinst du nicht?«

»Sie waren in den letzten drei Jahren ein Liebespaar.«

»Gibt es Beweise?«

»Wahrscheinlich nicht, aber ich weiß es. Er hat es selbst am Anfang seiner Beziehung erwähnt. Die größte Befriedigung, die dir eine Liebesnacht mit einer so heiß begehrten Schönheit bereitet, liegt nicht in den Orgasmen, die sie dir beschert, sondern darin, die Heldentat zu verbreiten und den Neid deiner Freunde zu wecken. Salazar konnte der Versuchung nicht widerstehen. Aber er war nicht der Einzige.«

»Glaubst du, dass er sie aus Eifersucht umgebracht hat?«

»Ich weiß es nicht. Er ist nachtragend, aber eher berechnend als impulsiv. Ich fände es logischer, wenn er seine Rivalen eingeschüchtert hätte, um Pamela für sich alleine zu haben. Niemand hätte ihm das Terrain streitig gemacht, jetzt, da er der mächtigste Mann in seinem Herrschaftsgebiet ist.«

»Das würde bedeuten, dass wir über keine Munition verfügen, die wir abfeuern könnten. Eine Geliebte zu haben, und noch dazu eine von diesem Kaliber, ist hierzulande kein politischer Fehltritt. Wenn wir ihn nicht mit dem Mord an Pamela in Verbindung bringen können, haben wir kaum etwas gegen ihn in der Hand«, sagte Tomás enttäuscht.

»Nicht so voreilig. In der Politik ist wie bei allem im Leben die Wahrnehmung wichtiger als die Realität. Außerdem könnte ich mich irren. So manchem steigt die Macht zu Kopf; vielleicht ist Salazar durchgedreht und hat sie umbringen lassen.«

»Und ich habe nicht die geringste Ahnung, wie ich das herausfinden könnte. Ich versuche seit gestern, einen befreundeten Polizeireporter zu erreichen, aber er ruft nicht zurück. Wahrscheinlich ist das Thema für alle ein zu heißes Eisen.«

»Ich glaube, da kann ich dir weiterhelfen. Nach dem Gespräch mit Amelia habe ich gleich Kontakt zu Comandante Ordorica aufgenommen. Er recherchiert in der Angelegenheit seit heute Morgen und müsste gleich hier sein. Er ist inzwischen pensioniert, aber früher hatte er die Generation von Polizisten unter sich, die heute in der Hauptstadt das Sagen hat.«

»Ich weiß, wer Ordorica ist. Jeder kennt ihn. Ist er nicht gefährlich? Seit er sich in den Achtzigern mit Arturo ›El Negro‹ Durazo eingelassen hat, ist seine Karriere ja wohl eher zwielichtig.«

»Niemand, der professionell im Sumpf der Gesellschaft unterwegs ist, kommt ohne Dreckspuren wieder raus. Keine Sorge. Er hat für mich schon einen Haufen Zuarbeiten dieser Art erledigt. Du kannst ihm vertrauen.«

Tomás schwieg noch immer unentschlossen. Miguel Ordorica war die junge rechte Hand von Arturo Durazo gewesen, dem eisernen Polizeichef unter Präsident López Portillo Anfang der Achtzigerjahre. Sein Beiname »El Negro« bezog sich nicht nur auf seine dunkle Hautfarbe, sondern vor allem auf die Erpressungen und das Verschwindenlassen von Personen, die damals von ihm angeordnet worden waren. Durazo reduzierte die Kriminalitätsrate durch einen simplen Trick: Er ließ die größten Banden einfach für sich arbeiten.

Während Tomás nachdachte, ließ er den Blick durch Lemus’ Büro schweifen. Fotos des Anwalts mit Staatsoberhäuptern, Künstlern und Intellektuellen, ein kleines Bücherregal mit ledergebundenen Erstausgaben, eine Skulptur von Giacometti – die Trophäen seines Erfolgs. Dann blieb sein Blick an einem Regal hängen, das sich auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes befand. Trotz der Entfernung konnte er Amelias Gesicht ausmachen: Ein Foto zeigte Carlos und die junge Frau gelöst lachend; er hatte einen Arm um ihre Schultern gelegt. Das pure Glück, das aus ihren Gesichtern sprach, verstimmte ihn. War das womöglich das Regal, in dem Lemus seine Liebhaberinnen ausstellte?

Die Korrupten

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