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Montag, 25. November, 7.00 Uhr

Amelia ist nicht Kirchner

Was hat Cristina Kirchner, was ich nicht habe?, fragte sich Amelia, während sie sich vor dem Spiegel die linke Augenbraue nachmalte. Es kostete sie von Tag zu Tag mehr Zeit, den Schminkplan ihrer Stylistin zu befolgen, alle Cremespuren zu beseitigen und die letzte fettige Hautstelle abzudecken.

Am Vorabend hatte sie an einem exklusiven Empfang zu Ehren der argentinischen Präsidentin in Los Pinos teilgenommen. Da sich der Generalstab zur Einhaltung der Frauenquote verpflichtet gefühlt hatte, war sie sogar am zentralen Tisch platziert worden, wo sich die ranghöchsten Politiker um die südamerikanische Staatschefin versammelten. Als Vorsitzende der PRD, der derzeit größten Oppositionspartei, war Amelia die wichtigste Frau in der mexikanischen Politik, aber das hieß noch nicht, dass sie bei Präsidialangelegenheiten in die erste Reihe gebeten wurde. Mit dem Einzug der PRI ins Parlament war auch die Frauenfeindlichkeit dorthin zurückgekehrt, obwohl die Institution in Amelias Augen davon noch nie völlig frei gewesen war. Normalerweise wurde die Frauenquote durch die Ehegattinnen der Minister erfüllt – die Anwesenheit einer ausländischen Präsidentin hatte endlich zum Bruch dieser Tradition geführt.

Während des ganzen Abends hatte sie die Witwe und Nachfolgerin von Néstor Kirchner aus nächster Nähe unter die Lupe genommen und es nicht vermeiden können, Vergleiche zwischen sich und der Präsidentin anzustellen. Die Kirchner verfügte über die nötige Erfahrung und Führungsqualitäten, aber ihre mangelnde Schlagfertigkeit und ihr spärlicher Sinn für Humor gaben Amelia das Gefühl, sich geschickter auf der politischen Bühne zu bewegen. Sie überlegte sich eine Reihe von möglichen Spitznamen für Doña Cristina, aber am Ende dachte sie, dass »die Stute«, wie man die Argentinierin in ihrer Heimat nannte, doch am besten zu ihr passte. Die für ihre schmale Statur viel zu breiten Hüften – und das wiehernde Lachen – erinnerten tatsächlich an ein Pferd.

Das Einzige, was sie hat und ich nicht, ist ein toter Ehemann, der ihr die Macht vererbt hat, resümierte Amelia am Ende des Abends. Sie empfand sich selbst als eloquenter, belesener und versierter im Umgang mit der Öffentlichkeit als die Frau, die ihr da gegenübersaß. Und obendrein auch hübscher.

Das bestätigte sie in ihrer Entscheidung, in der Politik aktiv geworden zu sein, eine Aufgabe, die sie im Großen und Ganzen eher frustrierte.

Doch schon am folgenden Tag, ohne Kirchner direkt vor Augen, war sie sich ihrer selbst wieder weniger sicher. Die politischen Zeiten waren nicht gerade die besten, um Oppositionsführerin zu sein. Die PRI war im Kongress die stärkste Fraktion und offenbar immer weniger an einer Einigung mit den anderen Parteien interessiert. Ihr Sieg war so deutlich gewesen, dass sie die Stimmen der anderen nicht brauchte.

Die haben mehr Angst vor einem kritischen Hashtag als vor der PRD und der PAN zusammen, sagte sich Amelia, während sie sich ein letztes Mal mit dem Pinsel über das Gesicht strich. Sie begegnete der bevorstehenden Schlacht mit einem entschlossenen Blick, der zu ihrem Markenzeichen geworden war, seit sie sich in ihren frühen Tagen als Aktivistin wegen ihrer Unbeugsamkeit einen Namen gemacht hatte. Ihr »Powerpuff-Girl-Gesicht« hatte die regierungskritische Presse es getauft, nach den drei Superheldinnen aus der Cartoonserie, worüber sie sich insgeheim freute.

Nach einem letzten Blick auf ihren straffen, anmutigen Körper ging sie durch die Wohnung in ihr Schlafzimmer, einen kämpferischen Slogan auf den Lippen: Höchste Zeit, sie zu stoppen, bevor Salazar aus dem Präsidenten einen mexikanischen Putin macht. Und damit fielen ihr die Nachrichten über den amtierenden Innenminister wieder ein: Seine riesenhafte, eiserne Gestalt schien endlich Risse zu bekommen, irgendetwas im Zusammenhang mit dem Tod von Dosantos hatte in dem Pressespiegel gestanden, den sie wie fast immer morgens noch vor dem Aufstehen im Bett überflogen hatte. Sie musste dringend ein paar Anrufe tätigen, dachte sie, während sie zügig in ihre Kleider schlüpfte.

»Alicia, verbinde mich bitte mit Tomás«, bat sie ihre Assistentin von ihrem Bürohandy aus.

»Tomás Arizmendi?«

»Wen sonst?«, antwortete Amelia ungeduldig. Für sie gab es keinen anderen Tomás als den Freund, mit dem sie so viele prägende Phasen ihres Lebens verband, von denen manche auch Spuren hinterlassen hatten. Als ihr jedoch bewusst wurde, dass es schon ein paar Jahre her war, seit sie zuletzt mit Tomás gesprochen hatte, bereute sie ihren gereizten Ton.

»Warte, Alicia! Nehmen wir doch lieber die sichere Verbindung mit Mario Crespo. Tomás’ Leitung ist bestimmt schon angezapft.«

Der gute Mario, dachte Amelia. Er war der Einzige der vier Blauen, der versucht hatte, ihre Freundschaft am Leben zu halten, selbst dann, als sie und Jaime sich durch ihr obsessives Studium mehr und mehr von ihm entfernt hatten. Nur Tomás ließ ihn noch an seinem Leben teilhaben, obwohl das wohl mehr mit dem gutmütigen Charakter des Journalisten zu tun hatte als mit ehrlichem Interesse.

»Auf dem Handy geht niemand ran, und zu Hause hatte ich nur seinen Sohn am Telefon. Anscheinend ist Mario heute ganz früh aus dem Haus. Soll ich dir den Wagen schicken? Dein Frühstück mit Senator Carmona ist in fünfzehn Minuten.«

»Versuche es weiterhin bei Mario und stell ihn zu mir durch, sobald du ihn am Apparat hast. Ich breche gleich auf.«

Die Fahrt durch die Colonia Roma hatte diesmal nicht den gewohnten Effekt. Normalerweise schätzte sie das chaotische Straßenbild mit den baumbewachsenen Grünstreifen, die herrschaftlichen Villen im französischen Stil, zwischen denen sich winzige Kramläden und bescheidene Wohnhäuser drängten, ein getreues Abbild der glücklichen und weniger glücklichen Zeiten, die die Colonia seit ihrer pompösen Gründung hundert Jahre zuvor erfahren hatte. Die Gegend erschien ihr wie ein Symbol für das ganze Land. Doch mehr noch als den Anblick der Gebäude genoss Amelia den der vielen verschiedenen Menschen. Es verging nicht eine Woche, in der sie nicht Zeugin einer neuen Geschäftsidee wurde, die sich auf der Straße darbot. Der Einfallsreichtum, mit dem sich die Leute aus dem Nichts eine Beschäftigung suchten, überraschte sie immer wieder aufs Neue.

An diesem Morgen aber fehlte ihr jeglicher Sinn für soziologische Betrachtungen. Die Sorge um Tomás beherrschte ihre Gedanken. So wie sie den Innenminister kannte, würde der den Angriff auf seine Person nicht tatenlos hinnehmen. Sie musste mit ihrem Freund sprechen, um die Gefahr abzuschätzen, in der er sich befand. Und gleichzeitig musste sie die Gelegenheit nutzen, die ihr ein Skandal dieses Ausmaßes auf politischer Ebene bot. Das ganze Land sprach vom Tod der Schauspielerin. Die Welle der Erschütterung könnte der Moment sein, auf den sie alle gewartet hatten, um die neue Regierung zumindest in die Defensive zu drängen. Amelia konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Das Frühstück mit Carmona würde interessanter werden als gedacht.

»Danke, Herr Senator, dass Sie mich in meinem Viertel besuchen«, begrüßte Amelia einen eleganten und – trotz seines fortgeschrittenen Alters von über siebzig – sehr stattlichen Mann, der vom Tisch aufgestanden war und ihr die Hand gab.

»Um mit der schönsten meiner Kolleginnen zu frühstücken, würde ich bis nach Timbuktu reisen«, erwiderte Carmona.

Eigentlich ließ sich Amelia von Politikern nicht umgarnen, nicht einmal mit Worten. Im Laufe ihrer Karriere hatte sie schon unzählige Kübel kaltes Wasser über Männer ausgeschüttet, die versucht hatten, sie in geschäftlichen Angelegenheiten um den Finger zu wickeln oder durch geschicktes Bezirzen herabzuwürdigen. Natürlich wusste sie, dass sie attraktiv war, und spielte auch gern damit: Ohne sich provokant zu kleiden oder zu schminken, setzte sie ihre Schönheit gekonnt ein, wenn sich ein dafür empfänglicher Gesprächspartner durch ihr Auftreten einschüchtern ließ. Die Verhandlungen verliefen in solchen Fällen in der Regel zu ihrem Vorteil. Dennoch achtete sie konsequent darauf, dass ihr Äußeres in ihren Geschäftsbeziehungen lediglich ein Subtext war und nicht die Basis, auf der sich diese Beziehungen entwickelten.

Ramiro Carmona hingegen hatte ein beinahe geschlechtsneutrales Auftreten. Mit seiner förmlichen, fast schon übertrieben zuvorkommenden Art war er alles andere als ein Verführer-Typ. Er gehörte nicht zu der Sorte von Politikern, die sich von einem tiefen Ausschnitt blenden ließen, und auch nicht zu den noch zahlreicheren, die eine sexuelle Anspielung mehr oder minder geschickt in einem höflichen Lob versteckten. Amelia schätzte ihn dafür, dass er sie so behandelte wie alle anderen Kollegen auch; außerdem war er ein aufmerksamer Zuhörer, was unter Männern des öffentlichen Lebens selten genug vorkam.

Für sie war es ein echter Glücksfall, dass Carmona zum Vorsitzenden der PAN, der zweiten großen Oppositionspartei, gewählt worden war.

»Allerdings frühstückt man hier besser, Herr Senator, das versichere ich Ihnen.«

»Das ist auch meine Befürchtung, Doña Amelia. Es ist mir absolut unmöglich, den Chocolate Conchas hier zu widerstehen.«

Sie hatten sich im Mario’s verabredet, einem etwas altmodischen Restaurant, das über eine tadellose Küche und eine hervorragende Auswahl an Konditoreiwaren verfügte. Amelia hatte den Ort wegen der günstigen Lage ausgesucht; zudem gefielen ihr die kleinen abgetrennten Bereiche im Innenraum, die es erlaubten, vertraulich miteinander zu sprechen.

»Wie stehen die Dinge in der PAN, Don Ramiro?«, erkundigte sich Amelia, nachdem sie Grapefruitsaft, Kaffee und Gebäck bestellt hatten.

Es war keine rhetorische Frage: Achtzehn Monate zuvor hatte die tendenziell konservative Partido Acción Nacional die Präsidentschaft an die PRI verloren. Carmona führte die Gegenreaktion auf Felipe Calderón an, den früheren Machthaber, der seine Partei für seine Zwecke instrumentalisiert hatte.

»Nicht so prickelnd. Ich hatte gehofft, Calderón würde nach unserer demütigenden Niederlage in eine Art freiwilliges politisches Exil gehen, so wie Zedillo, als er 2000 die Präsidentschaft an uns abgegeben hat.«

Sie hatten vereinbart, so offen wie möglich miteinander zu sprechen. Es war das zweite Mal, dass sie sich in ihrer Eigenschaft als Vorsitzende ihrer jeweiligen Parteien privat trafen. Amelia nahm an, dass ihre Wahl zur Anführerin der Partido de la Revolución Democrática auch für Carmona eine gute Nachricht war. Bei einer vorangegangenen Frühstücksverabredung waren sie beide der Meinung gewesen, dass die triumphale Rückkehr der PRI, die nach ihrem Erdrutschsieg beide Kammern zu dominieren drohte, beide Oppositionsparteien in die Pflicht nahm, miteinander zu kooperieren, soweit die jeweiligen Verpflichtungen und Parteiprogramme es zuließen.

»Meine Aufgabe ist es, den PANisten ihren Stolz wiederzugeben, sie zu ihren Wurzeln zurückzuführen«, fuhr Carmona fort.

»Na, da haben Sie doch gute Aussichten, wenn Sie es schaffen, Ihre Mitglieder davon zu überzeugen, dass die Niederlage Calderón und weniger dem PANismus zuzuschreiben ist.«

»Das liegt auf der Hand, meine liebe Amelia. Aber der Schlag gegen den Calderonismus wird nicht einfach sein, da einige Senatoren nach wie vor auf seiner Seite sind und eine Hexenjagd auf den ehemaligen Präsidenten mit ihnen nicht zu machen ist.«

Amelia verstand das Problem. Der größte Teil der Parteibudgets stammte aus unrechtmäßigen Finanzspritzen der Gouverneure. Da die PAN den Staatsapparat nun nicht mehr kontrollierte, hing sie mehr denn je von den wenigen Bundesstaaten ab, die ihr noch geblieben waren.

»Nun, wenn wir etwas für Sie tun können, lassen Sie es mich wissen. Wir haben bekanntlich in zwei der von Calderonisten dominierten Staaten ein bedeutendes Gewicht im Regionalkongress, und dann gibt es auch immer noch unsere Bauernbewegung in den Bergen von Puebla, um die Dinge in die gewünschte Richtung zu lenken.«

»Danke, das wird nicht nötig sein«, erwiderte Carmona trocken.

Die Parteiführerin begriff, dass sie zu weit gegangen war: Sie hatte sich von der Offenheit Carmonas über seine Sorgen mit dem Ex-Präsidenten mitreißen lassen. Aber die Hilfe eines Rivalen anzunehmen, um einen Gouverneur aus den eigenen Reihen zu destabilisieren, ging über die Grenzen dessen, was der alte PAN-Kämpfer unter Realpolitik verstand, doch hinaus.

Amelia hatte in der Absicht, Carmona für das, worum sie ihn bitten wollte, auch etwas anzubieten, das nötige Feingefühl vermissen lassen. Sie versuchte, das Vertrauen wiederherzustellen, indem sie das Gespräch auf eine persönlichere Ebene verlagerte.

»Ich bin sicher, Sie finden einen Weg. Und ich sage es in aller Aufrichtigkeit: Ihre Ernennung zum Parteivorsitzenden war für viele innerhalb und außerhalb der PAN die beste Nachricht für die Partei seit Langem.«

»Ich danke Ihnen für die freundlichen Worte. Meine Frau sieht das allerdings ganz anders. Wenn es nach ihr ginge, sollte ich längst meine Memoiren schreiben und unsere Enkelkinder verhätscheln.«

»Ihre Enkelkinder sind sicherlich nicht darauf angewiesen, auch noch von Ihnen verhätschelt zu werden, Don Ramiro. Unser Land hingegen schon«, sagte Amelia, wobei sie dem Alten eine Hand auf den Arm legte.

Carmona warf ihr einen langen Blick aus seinen wässrigen Augen zu, der für Amelia schwer zu deuten war. Jedenfalls bewirkte er, dass ihr unbehaglich zumute wurde. Sie fragte sich, ob sie die persönliche Grenze verletzt hatte, die Carmona durch seine distanzierte Höflichkeit aufrechterhielt, oder schlimmer noch, ob er sie mit diesem Blick verurteilte, weil er ihren Kommentar für Demagogie hielt. Sofort fühlte sie sich von der moralischen Stärke des alten Politikers eingeschüchtert. Wie sollte sie ihm erklären, dass es sich nicht um eine opportunistische Floskel handelte, sondern sie tatsächlich glaubte, dass das Land ihn brauchte – ebenso wie sie?

Sie beschloss, das Gespräch wieder in Gang zu bringen, indem sie selbst ein Geständnis ablegte.

»Nun, meine Situation ist auch nicht einfach, Senator. Meine Ernennung war eine salomonische Lösung, ein reiner Kompromiss zwischen den linken Gruppierungen, die eine unabhängige Parteiführung vorzogen, um nicht einem politischen Rivalen den Vortritt zu lassen. Aber um ehrlich zu sein: Ich bin in meinem Zirkus eher Akrobatin als Direktorin.«

»Wie ist Ihre Beziehung zu López Obrador und seiner Bewegung?«

Amelias Taktlosigkeit mochte bei Carmona einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen haben, doch eine solche vertrauliche Information würde er sich niemals entgehen lassen. In der Politik bedeutete Insiderwissen alles.

»Die PRD ist kein Feind der MORENA, aber das scheinen weder die einen noch die anderen zu begreifen. Andrés Manuel und ich haben ein freundschaftliches Verhältnis, aber richtig nahegestanden haben wir uns nie. Außerdem muss ich Ihnen sagen, und das behalten Sie bitte für sich, dass El Peje ein eher grobschlächtiger Typ ist: Für ihn kann eine Frau niemals eine wahre Führungsperson sein, sein Machismo verbietet es ihm, mich als glaubwürdige Parteichefin anzuerkennen. Der Vorteil ist, dass er in mir daher auch keine Rivalin sieht – in seinen Augen bin ich dafür nicht mannhaft genug.«

Amelia fragte sich, ob das nicht vielleicht auch für Carmona galt. Die PAN hatte als einzige Partei noch nie eine Gouverneurin oder eine weibliche Führungskraft auf nationaler Ebene hervorgebracht. Mit Erleichterung stellte sie fest, dass der komplizenhafte Ton ihrer Unterhaltung wiederhergestellt war.

»Es heißt, dass ihm diese zweite Niederlage ziemlich zugesetzt hat.«

»So wie die erste. Seine neue Ehe mit einer Jüngeren nach dem Tod seiner ersten Frau und der Nachwuchs haben ihm vor sechs Jahren jedoch geholfen, die Verbitterung zu überwinden. Die konnte man ihm allerdings auch nicht verdenken, Don Ramiro. Viele von uns glauben fest daran, dass er die Wahl 2006 gewonnen hat.«

Noch während sie es aussprach, wurde ihr bewusst, dass sie schon wieder die Kontrolle über den Gesprächsverlauf verlor. Eine Anspielung auf den Wahlbetrug in jenem Jahr war wohl der effektivste Weg, es sich mit einem PANisten zu verscherzen. Die Linke war nach wie vor davon überzeugt, dass eigentlich López Obrador und nicht Calderón der Wahlsieger gewesen war.

»Doch Andrés Manuel wird sich wieder aufraffen, da bin ich mir sicher«, fuhr sie fort. »Es liegt auf der Hand, dass die PRI die hohen Erwartungen, die ihr Comeback geweckt hat, nicht erfüllen wird. Das heißt, das Volk wird 2018 für einen Wechsel stimmen, und der wird diesmal nach links ausfallen. Diese Gelegenheit wird er sich nicht entgehen lassen.«

»Nun, so wie die Dinge derzeit stehen, wäre mir das lieber als die Wiederwahl der PRI für die nächsten siebzig Jahre, aber bitte zitieren Sie mich nicht«, sagte Carmona in scherzhaftem Ton und legte nun seinerseits eine Hand auf Amelias Unterarm.

»Genau darüber wollte ich mit Ihnen sprechen, Senator. Salazars Methoden bereiten mir zunehmend Sorgen. Offenbar wollen sie die Mehrheit im Kongress und die Angst der Bevölkerung angesichts der allgemein unsicheren Lage ausnutzen, um den Grundstein für ein autoritäres Regime zu legen. Ich weiß, dass aktuell im Innenministerium eine Kommission damit beschäftigt ist, Gesetzentwürfe zu erarbeiten, die der Regierung noch mehr Befugnisse erteilen und den Einfluss der Institutionen, Medien und der Zivilgesellschaft schwächen sollen. Wenn ihnen das gelingt, sind wir wieder da, wo wir vor dreißig Jahren waren, meinen Sie nicht, Don Ramiro?«

»Das Land würde den Despotismus von früher nicht mehr dulden, Amelia. Obwohl Sie natürlich recht haben, wenn Sie sagen, dass Salazar das Potenzial zum Führer hat, und wie López Obrador hat auch er 2018 im Blick. Das wäre allerdings eine Katastrophe.«

Amelia sagte sich im Stillen, dass wohl nur ein Politiker mit Blümchenkrawatte wie Carmona in der Lage war, einen Rivalen »Führer« zu nennen.

»Da bin ich ganz Ihrer Meinung. Die Frage ist, was wir als Opposition dagegen tun können. Denn wenn wir es nicht tun, wird niemand in diesem Land versuchen, eine neue Diktatur zu verhindern«, erwiderte sie, zufrieden, dass sie das Gespräch doch noch in die gewünschten Bahnen gelenkt hatte.

Carmona stimmte ihr schweigend zu. Ein verdammt guter Pokerspieler, dachte sie. Der alte Hase wartet, bis ich ihm meine Karten zeige, bevor er preisgibt, was er auf der Hand hat.

»Die Sache mit Pamela Dosantos ist interessant. Sie könnte der erste große Makel des glorreichen PRI-Comebacks sein«, sagte sie spöttisch.

»Mag sein. Aber man wird erst herausfinden müssen, ob an den Leaks in Arizmendis Kolumne etwas dran ist.«

»Ganz bestimmt«, antwortete Amelia schnell, doch mehr aus Loyalität ihrem Freund gegenüber als aus Überzeugung. Sie wusste, dass Tomás nicht bestechlich war, war sich jedoch nicht hundertprozentig sicher, was die Genauigkeit seiner Arbeitsmethoden betraf.

»Sie kennen sich schon lange?«

»Seit unserer Kindheit. Und dann haben wir zusammen studiert. Wir treffen uns immer noch ab und zu. Er würde so ein Detail nie erfinden.«

»Nun, dann könnte Ihr Freund in den nächsten Tagen entweder sehr reich oder sehr arm werden. Als Erstes wird Salazar versuchen, ihn zu bestechen, damit er seine Vorwürfe zurücknimmt oder eine Fehlinformation vorschiebt. Als Nächstes wird er ihm das Leben zur Hölle machen oder Schlimmeres. Der Minister ist ebenso mächtig wie nachtragend.«

»Tomás wird sich nicht beugen, aber er kann diese Schlacht nicht allein gewinnen«, bestätigte Amelia. »Wenn Salazar in irgendeiner Form mit dem Tod der Dosantos zu tun hat, müssen wir es ans Licht bringen.«

»Und was schlagen Sie vor?«, fragte Carmona.

»Um das Thema politisch brisant zu machen, müssen wir auf zwei Ebenen vorgehen: auf der medialen und der ermittlungstechnischen. Salazar wird versuchen, sowohl die Presse als auch die Kriminalpolizei zu lähmen, oder einfach einen Sündenbock präsentieren, um die Sache zu beenden.«

»Also gut«, erwiderte der Senator, der sich nun offenbar doch für die Sache erwärmte. »Es gibt ein paar Zeitungen und Radiosender, die darüber berichten könnten. Aber dafür benötigen wir mehr belastbare Informationen über die Ermittlungen. Sie haben die Staatsanwaltschaft unter Kontrolle, richtig?«

Er bezog sich auf den Umstand, dass Mexiko-Stadt nach wie vor von der PRD regiert wurde und die Ermittlungen durch die Hauptstadtbehörden erfolgten.

»Mehr oder weniger. Bei dem Ausmaß an Korruption ist es schwer zu sagen, wer auf wessen Seite steht. Man wird sich umhören müssen, um zu sehen, welches Büro wir mit der Sache betrauen können, und selbst dann ist es ziemlich wahrscheinlich, dass die Regierung ihre Finger mit im Spiel haben wird. Obwohl das ja bis vor einem Jahr Ihre Leute waren. Bestimmt haben Sie beim Geheimdienst noch ein paar treue Seelen.«

Endlich hatte sie die Unterhaltung auf das Thema gelenkt, das sie eigentlich interessierte. Nur sehr wenige wussten, dass Calderóns Regierung vereinzelt Verbindungsleute in den Geheimdiensten des Militärs und der Regierung platziert hatte – für den Fall, dass sie die Wahl verlieren würde, was dann ja auch geschehen war. In einer rätselhaften Anwandlung von Aufrichtigkeit hatte Jaime diese vertrauliche Information einmal ausgeplaudert, als das Projekt selbst noch in den Kinderschuhen steckte. Damals war ihr der Plan irrwitzig vorgekommen, aber sie hatte genügend Respekt vor den Fähigkeiten ihres alten Freundes, um das Ganze nicht für bloße Prahlerei zu halten: Jaime war viele Jahre lang für die inoffiziellen Beziehungen zwischen den Geheimdiensten Mexikos und der USA verantwortlich gewesen. Dabei hatte er ein persönliches Verhältnis zu seinen US-amerikanischen Amtskollegen aufgebaut und galt seither als einziger hoher Beamter, dem die Geheimdienste anderer Länder vertrauten, als unentbehrlich.

Amelia war zu der Überzeugung gelangt, dass das Projekt in der einen oder anderen Form erfolgreich gewesen sein musste und die PANisten über vertrauliche Informationen zu ihren wichtigsten Rivalen verfügten, allen voran zu Salazar. Vielleicht gab es sogar Aufzeichnungen oder Bildmaterial, das den Innenminister mit der ermordeten Künstlerin in Verbindung brachte.

»Ich wünschte, dem wäre so. Leider sind die Leute, die sich mit solchen Dingen beschäftigen, politische Söldner, da gibt es keine Loyalitäten«, erklärte Carmona klagend.

Amelia fand es schwer zu beurteilen, ob er die Wahrheit sagte. Es war durchaus möglich, dass nur ein kleiner Kreis von Vertrauten in die Sache eingeweiht war, doch sie schloss auch nicht aus, dass der Politiker dieses Ass im Ärmel für sich und seine Partei behalten wollte.

»Dann arbeiten wir eben mit dem, was wir haben, Senator. Sie haben Zugang zu bestimmten Printmedien und Radiosendungen, ich zu anderen. Ich schlage vor, dass wir uns wieder besprechen, wenn wir neue Informationen haben, die wir in Umlauf bringen können. Die Hauptsache ist, dass das Thema nicht von der Bildfläche verschwindet.«

»Das ist nur eine Frage von Tagen. Salazar wird dafür sorgen, dass in weniger als einer Woche ein riesiger Skandal, wenn nicht gar eine nationale Tragödie, den Fall Dosantos in die zweite Reihe drängt. Darauf können Sie Gift nehmen.«

Amelia verließ das Lokal einigermaßen enttäuscht – sie hatte sich mehr von dem Treffen versprochen. Etwas hatte sie aber doch erreicht: Carmona war entschlossen, im Fall Salazar aktiv zu werden und die Sache innerhalb seiner Partei zu thematisieren, auch wenn er es auf seine ganz eigene Weise tun würde.

Sie saß schon im Wagen, als sie sich zu der Entscheidung durchrang, vor der sie sich gefürchtet hatte: Sie musste sich mit Jaime treffen.

Die Korrupten

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